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Reise: Wo der Goldschakal wohnt

550 Quadratkilometer groß ist das Delta des Nestos im Osten Griechenlands – und eins der bedeutendsten Ökosysteme Europas

Die dichten Auwälder am Unterlauf des Nestos wirken wie die Kulisse für einen Tarzanfilm. Armdicke Lianen ranken sich an den Erlen und Silberpappeln empor, deren Wipfel sich zu einem undurchdringlichen Blätterdach vereinen. Aus brackigen Tümpeln lugen zwischen weißen Seerosen die Köpfe von kaspischen Wasserschildkröten hervor. Schillernde Blauflügellibellen wippen auf den Blättern des hohen Schilfs. Frösche stimmen ein in die Melodie der Nachtigall, das Flöten des scheuen Pirols und den monotonen Gesang des Wiedehopfs.

Im klaren Wasser des Nestos spielen dickpelzige Fischotter, auf Sandbänken lauern schneeweiße Seidenreiher auf Beute. Hirten ziehen mit ihrer Schafherde an dem von Silberweiden, Schwarzpappeln und Platanen gesäumten Flussufer entlang. Eisvögel stürzen sich wie ein Pfeil ins Wasser hinab und spießen mit ihrem dolchartigen Schnabel kleine Fische auf. Farbenprächtige Bienenfresser jagen Insekten nach. Eine Wildkatze huscht über eine mit roten Mohnblumen überwucherte Waldlichtung, im Maul schleppt sie eine erbeutete Möwe. Das insgesamt 550 Quadratkilometer große Nestos-Delta ist auch das Jagdrevier der Goldschakale, die sich tagsüber im Dickicht verbergen. Rund 50 Familien soll es hier noch geben, deren Heulen nachts bis in die umliegenden Dörfer zu hören ist.

Das Nestos-Delta zählt zu den bedeutendsten europäischen Feuchtgebieten. 270 verschiedene Vogelarten haben Ornithologen beobachtet. Die gegenüber der Insel Thassos gelegene Flussmündung dient als Drehscheibe für den Vogelzug, bietet Millionen von Tieren einen Rastplatz. Auch Löffler, Sichler, Kraniche und Krauskopfpelikane stärken sich hier für den langen Weg zwischen Afrika und Europa. Andere Vögel wie Flamingos oder Seeadler verweilen den ganzen Winter.

Vom Massentourismus blieb das Nestos-Delta bisher verschont. Die Küste mit ihren feinen, 50 Kilometer langen und sanft ins Meer abfallenden Sand- und Kiesstränden ist fast unverbaut. Tausende von Landschildkröten stapfen behäbig durch die mit Narzissen und Strandwinden übersäten Sanddünen.

Weiter nördlich hat sich der Nestos seinen Weg durch ein Gebirge aus Kalkgestein gegraben. Wilde Pferde galoppieren durch die mehrere hundert Meter tiefe, unbewohnte Schlucht, über der Steinadler, Geier, Uhus und Schwarzstörche kreisen. Rund 750 Pflanzen sind hier heimisch, darunter wilder Spargel, Wacholder, Feigen und Erdbeerbäume. Die klare Luft ist erfüllt vom intensiven Duft des Flieders. Auch Pistazien, Alpenveilchen, Tulpen und Pfingstrosen gedeihen an den Steilhängen, an denen sich grünblau schillernde Smaragdeidechsen und braun gefleckte Leopardnattern sonnen. Nur ab und zu zerreißt das Hupen eines Triebwagens die Stille, der auf der Strecke des legendären Orientexpress durch die Schlucht rumpelt. Französische Baumeister ließen für die Bahntrasse 23 Tunnels in den Fels sprengen.

Der Nestos entspringt in den Rhodopen, einem 400 Kilometer langen Höhenzug, der die Grenze zu Bulgarien bildet. In den bis über 2000 Meter hohen Bergen regnet es viermal so häufig wie an der Küste. Im Winter türmt sich der Schnee bis zu zwei Meter auf, und das Thermometer fällt auf Minus 25 Grad. Die ausgiebigen Niederschläge sorgen für eine reiche Flora. Hier wachsen der gelbe Enzian, die eineinhalb Meter großen Rhodopenlilie, wilde Rosen und Krokusse. Die hohen Lagen der Rhodopen sind überwuchert von Urwäldern, die zu den bedeutendsten Ökosystemen Europas zählen. Rund hundert Bären sowie Luchse und Wölfe streifen durch die Mischwälder aus Eichen, Buchen, Fichten und Weißtannen. Bei den Imkern ist Meister Petz verhasst, da er in Sekundenschnelle die Bienenstöcke knackt, um nach Herzenslust zu schlemmen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Rhodopen immer mehr verwaist. Dutzende von Dörfern wurden auf griechischer Seite von ihren Bewohnern verlassen. Die Region, die erst vor 20 Jahren durch asphaltierte Straßen erschlossen wurde, zählt zu den ärmsten Europas. Die Überweisungen der Gastarbeiter helfen den verbliebenen Menschen zu überleben. „Das hat die Bevölkerung gerettet“, sagt der 73-jährige Rentner Bati Sali aus Echinos. Und so zeigen sich die Menschen sehr gastfreundlich gegenüber den wenigen Touristen, die den abgelegenen Ort besuchen. „Mahlzeit“, grüßt ein junger Mann, der auf seinem Motorrad über die Hauptstraße knattert.

Derzeit sind 300 junge Bewohner in Deutschland beschäftigt. So auch Ahmet Kapsa, der für 2500 Euro monatlich auf einer Werft in Hamburg malocht. Davon können die einheimischen Landwirte nur träumen, die auf schmalen Terrassen Tabak anbauen. Nachts ernten sie die Blätter von den Pflanzen und transportieren sie mit Maultieren zu Tal. Der Lohn für die Mühe ist erbärmlich: „Ein Bauer verdient pro Tag drei Euro“, erzählt Bati Sali. Der alte Mann gehört dem Volk der Pomaken an, die über den Nordosten Griechenlands, Bulgariens und der Türkei verstreut leben. Rund 30 000 von ihnen siedeln auf der griechischen Seite der Rhodopen. In den abgelegenen Dörfern haben sie alte islamisch-orientalische Traditionen erhalten. Nach der Befreiung von der türkischen Herrschaft gerieten sie völlig ins Abseits und wurde von der Athener Regierung stark diskriminiert. Bis vor einigen Jahrzehnten durften Pomaken weder wählen noch einen Kredit aufnehmen, erinnert sich Bati Sali. „Doch heute sind wir gleichberechtigt“, sagt er zufrieden. Den Anschluss an das griechische Einkommensniveau haben die Bergler längst nicht gefunden.

Bis Mitte der 90er Jahre war das Grenzgebiet militärische Sperrzone, für Besucher unzugänglich. Fotografieren ist in Echinos bis heute verboten, darüber wachen mehrere Polizisten. Warum Bilder des armseligen Städtchens die nationale Sicherheit gefährden könnten, bleibt jedoch rätselhaft. In der Moschee zu fotografieren ist dagegen erlaubt. Stolz führt Bati Sali durch das 1892 erbaute und bunt ausgemalte Gotteshaus, das einen der wenigen Farbtupfer in der Tristesse der Ortes darstellt. Pomaken sind strenge Muslime und Gegner der laizistischen Reformen von Kemal Atatürk. Die Frauen gehen meist verschleiert aus dem Haus, Kontakte zu Griechen gibt es kaum. Die Kinder wachsen viersprachig auf: Am Morgen lernen sie Griechisch und Türkisch, nachmittags büffeln sie in der Koranschule Arabisch, und daheim sprechen sie Pomakisch, einen dem Bulgarischen verwandten Dialekt.

Die Herkunft der oft blauäugigen, blonden Menschen ist umstritten. Viele Griechen glauben, die Pomaken stammten vom Volk der Thraker ab und seien im 16. Jahrhundert zum Islam bekehrt worden. Die Türkei wiederum reklamiert den türkischen Ursprung des Volkes für sich. „Wir sind schon seit Alexander dem Großen hier“, da ist sich Bati Sali sicher.

Ulrich Willenberg

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