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Wien

© Mauritius

Wien: Plausch bei den Gurkeln

Der Wiener Naschmarkt steht für Delikatessen. Dichter, Denker und Grantler hat er inspiriert. Er wandelt sich - und behält doch seine Seele.

Die Frau vom Würstelstand am Naschmarkt zeigt gleich, wie man hinkommt. "Zum Gegenbauer? Da lang, bitte", sagt sie mit einem spitzen Wiener i in bitte. Nahe dem Indian Pavillon sei der Gegenbauer, irgendwo zwischen türkischer Trendgastronomie und Sushi.

Schmelztiegel und Durchgangsstation für Menschen, für Waren, Genüsse, Ideen war der Naschmarkt immer. Jetzt ist hier manches auch schicker geworden. Gleich vorn, am Eingang, bringen sich die Wiener selbst an kalten Wintertagen im Freien auf Betriebstemperatur, Austern schlürfend an Stehtischen des "Bar di Mar" - und ratschn. Die Schickimickisierung ist dabei recht übersichtlich, hier findet eben jeder seine Nische. Auch das Do-An oder das Naschmarkt-Deli sind neumodische Gastro-Ehen auf diesem Markt im Spätjugendstil mit seinen Gassen und Durchgängen, seinen pavillonartigen Bauten in Grün, blassem Gelb und mit Graffiti. Heimat einer kulinarischen Weltreise an 170 Ständen, die sie hier Standeln nennen, ist er - samt Restaurants, Espresso- und Weinbars - in zwei langen Marktzeilen.

Alle paar Meter riecht es anders, nach Gewürzen, Kräutern, Schafskäse, Sauerkraut, brutzelnden Garnelen, nach Fisch. Aus der großen weiten Welt (und der kleinen österreichischen) wird so ziemlich alles geboten, was man essen und trinken kann - von A wie Aschanti für Erdnüsse bis Z wie Zwetschke auch. So etwas wie Fisolen, Kukuruz, Ringlotten, Zeller, Schöpsernes ...

Und die Standler? "Früher wurden Stände über Generationen vererbt. Wenn man genau hinschaut, war das im Kleinen wie unter den Habsburgern im Großen", erzählt Gerhard Strassgschwandtner, dem dieses Wien vertraut und besonders hier über und unter der Erde sehr vertraut ist. Das ist seine Rennmeile, die Welt des Harry Lime. Seine Passion ist "Der Dritte Mann", sein privates Museum dazu liegt um die Ecke in der Preßgasse. Vererbt wird bis heute, aber Marktamtschef Andreas Weber hat auch beobachtet, dass "viele Markthelfer und Mitarbeiter es geschafft haben, Standler zu werden, Inhaber einer Marktstandes".

Anfänglich lag der Markt um die Ecke am Karlsplatz als Aschmarkt. Asch nannte man bis ins 18. Jahrhundert die Milchkanne aus Eschenholz. Nach Deckelung der Wien fand der Handel, vor 110 Jahren, seinen Platz über dem Fluss. Dieser Milchmarkt wurde bald auch mit anderen Waren beliefert, "Bratelbrater" und "Knödelhütten" gehörten zum Marktbild und natürlich Wiens Marktweiber, die Fratschlerinnen. "Jeden, der ihren Zorn freventlich herausfordert, wird über die Klinge ihrer scharfen Zunge springen." Vincenz Chiavacci, ein "Weaner" vom Scheitel bis zur Sohle, wusste das. Und er hat sie unsterblich gemacht mit seiner "Frau Sopherl vom Naschmarkt", einer "Posse mit Gesang", uraufgeführt im Theater in der Josefstadt.

Eine Fratschlerin mit knapp einhundert Kilo Lebendgewicht. Wer wollte sich mit der schon anlegen. "Ob Würmer in die Äpfel drin san? ... Was glauben S' den eigentli, Sie windschiefer Bamkraxler mit Ihnare Christbambretteln, mit Ihnare verhatschtn ... Ob Würmer in meinige Äpfeln san, möchtert der verdrahte Bartwisch wissen ... Sie notiger Klachl, Sie scheanglate Voglscheuchn überanander …"

Um 1820 wird der Ort mit seinen orientalischen Spezereien und exotischen Süßigkeiten im Volksmund Naschmarkt genannt. Seit 1905 heißt er so auch offiziell. Sein Umfeld ist eine imposante steinerne Landschaft der vorletzten Jahrhundertwende. Allein die exquisiten Otto- Wagner-Häuser mit vergoldeten Stuckteilen auf der Fassade des einen und Majolikaplatten auf der des anderen Märkte gibt es viele, doch unverwechselbare? Der Naschmarkt ist so einer. Er hat eine Seele. Eine ganz und gar wienerische. Sie ist allgegenwärtig, durchdringt jede Ritze. Sie nährt sich aus Tönen und Gerüchen, aus Noten und Stimmungen, Gefühlen, Ideen, aus den Menschen, ihrer Sprache. Dieses Weanerisch, ein sprachlicher Eintopf mit seiner Würze aus dem Jiddischen, Böhmischen, Ungarischen, dem Slawischen und Italienischen.

Diese - bei aller Geschäftigkeit - Wiener Melancholie, die das Wienerlied und das Zitherspiel aus "Der Dritte Mann" hörbar machen. Der sie eine Melodie liehen - dieses schwermütig Beschwingte angesichts der eigenen Nichtigkeit und des Todes. Wenn es eine Wiener Volksseele gibt, dann schaut sie einen im Naschmarkt an. Er ist Teil von ihr, und sie steht mit ihm unter Denkmalschutz.

Bald hundert Jahre gibt es den Naschmarkt in seiner heutigen Form. Aus jenen Zeiten und aus Gegenden irgendwo zwischen Österreich, Balkan und Transsilvanien stammen seine Wurzeln, das Durch- und Miteinander der Menschen, Sprachen und Waren von Anbeginn, das ethnische Patchwork des Habsburger Reiches. Heute weht einem auch der Hauch der Globalisierung entgegen. Bringen die wehmütigen Weisen rumänischer Ziehharmonikaspieler den Balkan näher, gehen Reisende auf Tuchfühlung mit "Blunzn" und "a Eitrige", also Blutwurst und Käsekrainer.

Die Standler feilschen, tratschen und schuften teilweise seit Generationen am Markt. Wie der Gurken-Leo, ihn kennt jeder hier. "Wollen S' kosten gnä' Frau?", fragt er seit mehr als dreißig Jahren, der Strmiska Leo, an seinen Sauerkrautfässern, Spross einer Kraut- und Gurkerlndynastie. "Der Urgroßvoater belieferte in der Monarchie die k. u. k. Flotte", er selbst hat "a bisserl Jus" studiert, "dös woar mir aber zu trocken". Zum "Master of Sauerkraut" adelte ihn die Wiener Szenezeitung "Falter". Feines Champagnerkraut gibt's bei ihm und Delikatessgurkerln. Am ältesten Würstelstand, bei Paul Horvath, werden wie eh und je Käsekrainer gesiedet und gebraten, und seit 1916 serviert man im "Gasthaus zur Eisernen Zeit", gastronomisches Urgestein, Gulasch und Backhendl.

"Der Gegenbauer", da sind wir nun angelangt, hat zwei Standeln - eine Rösterei und gegenüber sein Essigbrauereifachgeschäft seit 1992. Hier gibt er seinen Kunden Saures, aus Glasballons, Flaschen, Fässern. "Reines Hobby", sagt Erwin M. Gegenbauer junior später, "war das erst mit dem Essig, und wir haben am Naschmarkt diesen Stand. Seit 1929. Wir sind mittlerweile die älteste Familie dort." Alter Naschmarkt-Adel also, damals freilich machte man in Sauerkraut, heute darf man bei ihm Essig kosten, aus Gläschen, die ein gestandenes Weibsbild per Pipette aus einem der Fässchen abfüllt.

Ob sie weiß, dass die rabenschwarze Verfolgungsszene aus "Der Dritte Mann" direkt unter ihren Füßen gedreht wurde, wo die Wien in einem zwei Kilometer langen Riesengewölbe dahin fließt? "Balsamessig von der Quitte", sagt sie unbeeindruckt. Das ist Essig? Frisch schmeckt er und mit feiner Frucht, leicht, nuancenreich und von exquisiter Säure. Gurkenessig gibt es vom Gegenbauer, Holunderbeeren- oder Feigenessig, auch Paprika macht der Mann zu Essig.

Ein Wahrzeichen ist der Naschmarkt, eines des kollektiven Gedächtnisses der Stadt. Heimat wird da gefühlt. Er ist die gemeinsame Erinnerung von Geschichte und Geschichten an einem elementaren Ort. Hier bekommt man etwas zu essen! So geht die Liebe der Wiener zu ihrem Naschmarkt auch durch den Magen.

Derweil wird bei Austern weiter posiert, charmiert, während der Marktchef das Geschehen im Auge behält, Gerhard Strassgschwandtner Harry Lime schon dicht auf den Fersen ist und im "Gasthaus zur Eisernen Zeit" Krautfleckerln bestellt werden - hausgemacht versteht sich. Der Naschmarkt wandelt sich und bleibt sich treu. Auf "Sie müssen das Ganze seh'n. Den Weltmarkt, Travnicek!" erwidert Travnicek: "Mir genügt schon der Naschmarkt." Ja, Helmut Qualtingers Travnicek ist beschränkt, ein miesepetriger Spießer, aber spricht er nicht auch kleine Wahrheiten aus in diesem Milieu der Raunzer und Grantler? Denn, mal ehrlich: Was ist der Naschmarkt sonst als die ganze Welt? Raunz ned. Is eh wurscht.

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