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Archaisch sind die Felsformation auf Skye, der größten Insel der Inneren Hebriden vor Schottland.

© imago/Mint Images

Uralte Wege: "Jeder Pfad hat seine Geschichte"

Das Wandern auf alten Wegen offenbart die Welt als Mysterium – und lindert Depressionen. So erlebt es der Schriftsteller Robert Macfarlane (39). Der Schriftsteller und Kulturhistoriker beleuchtet in einem Buch Pfade, die Orte seit der Antike miteinander verbinden.

Robert Macfarlane, in Ihrem Buch „Alte Wege“ erzählen Sie davon, „wie ich tausend und mehr Meilen auf alten Wegen zurücklege, um Fährten in der Vergangenheit zu finden, nur um immer und immer wieder in der Gegenwart zu landen“. Was meinen Sie damit?
Die alten Wege sind gespickt mit Geschichte, egal ob sie römisch sind oder neolithisch oder 19. Jahrhundert. Aber was ist gegenwärtiger als Vogelgesang oder das Wetter?! Das ist diese merkwürdige Dopplung beim Gehen auf alten Wegen. Auf der einen Seite wiederholen Sie etwas, das tausende Male zuvor bereits getan wurde, manchmal auch tausende Jahre zuvor; aber zugleich leben Sie in dieser unglaublich vibrierenden Gegenwart. Manchmal habe ich den Verdacht, in einer Schattenwelt dahinzutreiben.

Sie schreiben auch davon, dass Gehen ein Weg ist, um zu sich selbst zu finden.
Ich denke, das ist eine romantische Idee: Wir gehen, um unser wahres Ich zu entdecken. Leute fragen mich oft, was haben Sie gelernt von zwölfhundert Meilen Wanderung? Ich habe gelernt, wie mysteriös die Welt ist, wie mysteriös Menschen sind. Und ich erkenne, wie wenig ich über mich selbst weiß.

Haben Sie ein spezielles Ziel, wenn Sie wandern?
Vor allem anderen suche ich nach Schönheit, Natur, Begegnungen, Müdigkeit, Genügsamkeit – und Amnesie. Manchmal vergesse ich mich selbst, wenn ich wandere. Und manchmal wandere ich, um mich zu entdecken. Als ich diese tausend Meilen oder mehr für dieses Buch, „Alte Wege“, ging, wollte ich den alten Pfaden als einer Art Wegweiser folgen. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie mich bringen würden. Und sie führten mich nach Palästina, zum Himalaya, nach Spanien und Schottland. Wandern sollte überraschend sein. Sie sollten nicht wissen, was Sie erwartet.

Wie kamen Sie auf die Idee, diese „Alten Wege“ zu gehen?
Ich bin in einer Familie von Wanderern aufgewachsen, und Berge waren mir seit meiner Kindheit vertraut. In meinem ersten Buch, „Mountains of the mind“, versuchte ich zu erklären, warum die Menschen Berge erklimmen. Und nach zehn, zwölf Jahren kam ich von den Bergen herunter zu den Pfaden. Pfade bezeichne ich als die Gewohnheiten in der Landschaft. Jeder Pfad hat seine Geschichte. Und jeder Fußabdruck ist ein Dokument, ein Brief. Und so entsteht die Idee, beim Wandern Geschichten in der Landschaft zu lesen.

Woher haben Sie das Wissen, um diese Spuren und Schatten, wie Sie es nennen, zu bestimmen?
Ich lese zuvor eine Menge. Und dann kann man mit etwas Wissen in einer Landschaft wie in einem Text lesen. Und ich verbringe viel Zeit zu Fuß. Ich schaue mich sorgfältig um. Ich rede natürlich auch mit Leuten, die sich in ihrer Gegend gut auskennen. Ich lerne von ihnen.

Sie haben auch darauf hingewiesen, dass Weitwanderer häufig unter Depressionen litten. Wandern sie, um geheilt zu werden?
Wenn Sie zurückblicken in die Geschichte des Wanderns oder besonders in die Geschichte von Wanderschriftstellern, so finden Sie wieder und wieder Depressive. George Borrow – er litt unter Verfolgungswahn. Er sagte, er würde wandern, um seine Horrorvorstellungen zu vertreiben. Edward Thomas, der Poet und Essayist, der an der Westfront 1917 umkam, eine sehr vitale Figur in britischer Tradition, war auch depressiv. Manchmal half ihm das Wandern, aber manchmal machte es ihn noch niedergeschlagener. Wandern ist also kein Allheilmittel, keine Zauberpille, aber es kann die Gesundheit wiederherstellen.

Fußwege als Labyrinthe der Freiheit

Robert Macfarlane.
Robert Macfarlane.

© Angus Muir

Ist es leichter, unsere Vergänglichkeit zu vergessen, wenn wir wandern?
Mich versöhnt die Erkenntnis, dass wir Teil eines Kreislaufes sind. Ich denke, dass die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Tod in mächtigen Landschaften besonders stark ist. Aber es kommt darauf an, wie weit ich gegangen bin. Sind es nur 20 Meilen an einem Tag, denke ich nur an meine Blasen und vielleicht, dass meine Hüften schmerzen.

Wünschen Sie sich, dass Ihre Leser Ihren Beschreibungen in der Natur folgen, auf den beschriebenen Wegen weitergehen und Ihre Entdeckungen prüfen?
Viele schreiben mir, ich war an diesem oder jenem Ort. Oder sie senden mir Fotos, auf denen sie auf den beschriebenen Pfaden zu sehen sind. Aber was ich interessant finde, ist: Der Ort ist immer anders. Manchmal sagen sie, ich entdeckte nicht dieses. Aber ich fand jenes, doch Sie erwähnten es nicht. Und ich denke: perfekt! Das ist genau richtig: Die Landschaft wandelt sich. Sie ist nicht in Stein gemeißelt.

Ist das Leben in einer Stadt für Sie überhaupt noch möglich, wenn Sie nach langen Wanderungen zurückkehren?
Ich lebe in der Vorstadt von Cambridge. Tja, das ist ein sehr merkwürdiger Ort für mich, der ich die Wildnis liebe. Ein schmaler Pfad führt von meinem Haus in die Landschaft und trifft später auf eine römische Straße. Und zehn Meilen weiter befinden Sie sich weitere fünftausend Jahre früher in der Zeit. Das ist aufregend. Ich glaube sowieso nicht an den alten Gegensatz zwischen Stadt und Wildnis. Er existiert nicht. Hier in Berlin sehen wir im Grunewald Wanderfalken, in Cambridge leben sich Wildschweine ein.

Sie bezeichnen Fußwege als Labyrinthe der Freiheit. Was meinen Sie damit?
Eine Besonderheit des englischen und walisischen Landrechts ist, dass wir ein Netzwerk von Fußwegen haben. Es verzweigt sich auf vielleicht 140.000 Meilen, niemand weiß genau, wie lang es ist. Und wenn Sie eine Karte von irgendeiner Landschaft in England oder Wales zur Hand nehmen, dann sehen Sie dieses Netzwerk von Fußwegen. Und jeder kann darauf gehen, die Wege sind öffentlich. Und sie verlaufen über privates Land – das ist ganz anders in den USA beispielsweise oder in Irland. Über privates Land darf dort niemand gehen.

Wie bezeichnen Sie selbst Ihre Form der Naturbeobachtungen? Ist es Literatur? Poesie? Essayistik?
Auf alle Fälle nenne ich es nicht Nature Writing, wie es häufig heißt. Das klingt nach einem Exzentriker aus dem 19. Jahrhundert, der Schnecken in seinem Garten studiert. Ich nenne ich es vielleicht einfach Schreiben. Ich mische verschiedene Formen und Tonlagen, schreibe in der ersten Person, es ist Reportage, Essay, Geschichtsschreibung, Anthropologie, Politik. Und spannend ist für mich genau diese Mischung. Man braucht sie, um Landschaften zu beschreiben. Denn sie sind voller Wunder!

Robert Macfarlane: Alte Wege. Aus dem Englischen von Andreas Jandl und Frank Sievers, Matthes & Seitz Berlin, 2016, 350 Seiten, 32 Euro.

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