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Hamburgs Wahrzeichen. Wenn es renoviert werden muss, spenden die Bürger.

© Schiller

Türmer von St. Michaelis: Bürger, hört die Trompeten

Die Hamburger lieben ihren „Michel“. Beim Kirchentag wird er zum Star.

Horst Huhn und Josef Thöne sind wenig bekannte, aber wahrhaft hochgestellte Persönlichkeiten. Ihr Arbeitsplatz liegt gut hundert Meter über dem Wasser, im sogenannten Türmerboden von St. Michaelis. Die Herren sind Turmbläser auf dem besonders von Hamburgern geliebten „Michel“. Jeden Morgen, jeden Abend und bei jedem Wetter wärmen sie Seeleuten und St. Paulianern, Bürgern und Besuchern das Herz, wenn sie ihre Choräle mit Inbrunst in alle vier Himmelsrichtungen trompeten.

Huhn und Thöne sind eine Institution. Sie füllen eine Tradition aus, die an dieser Kirche seit mehr als 300 Jahren gepflegt wird. Julia Atze hingegen ist erst seit zwei Monaten im Amt, einem Amt, das es am Michel so tatsächlich noch nie gegeben hat. Sie ist Pastorin. Die erste in der Geschichte dieses Gotteshauses, einer Geschichte, die immerhin ins Jahr 1606 zurückreicht. Julia Atze, Hamburger Frohnatur mit dem Gardemaß von 1,87 Meter, hat gleich nach ihrer ersten Predigt am Valentinstag mit den Vorbereitungen zum 34. Deutschen Evangelischen Kirchentag begonnen. Bei diesem Treffen von mehr als 100 000 evangelischen Christen vom 1. bis 5. Mai wird Hamburgs Wahrzeichen im Zentrum zahlreicher Veranstaltungen stehen.

„Der Michel hat mich begleitet, seit ich denken kann“, sagt die 40-jährige Hamburgerin. Sie ist noch immer erstaunt, dass sie nun an dieser Symbolkirche, der alten Landmarke aller Seeleute, predigen und die Jugendarbeit leiten darf. Im Büro trägt sie Jeans und Pulli, im Gottesdienst Talar und Halskrause, den weißen „Mühlenrad-Kragen“, den alle hamburgischen Pastoren statt des anderenorts üblichen Beffchens anlegen. Wenn sie Freunden oder Besuchern „ihre“ Kirche zeigt – sie teilt sich die seelsorgerische Arbeit mit zwei Kollegen – blickt sie am liebsten von der Südempore aus auf Altar, Kanzel, Chor und die Orgeln. Ein Arbeitsplatz zum Niederknien.

Und wirklich: Der „Michel“ gilt zu Recht als die schönste Barockkirche des Nordens. Der Innenraum, licht und hell in Weiß und Gold gehalten, ist schlicht und zugleich festlich. Gediegen heißt diese Kombination in Hamburg. Die korinthischen Pfeiler, die historischen Kandelaber, die Bänke aus Teakholz – das alles hat Stil, wirkt jedoch nicht überladen, schon gar nicht protzig. Zwei Mal ist die Kirche total abgebrannt, 1750 und 1906. Bei den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg wurde sie stark beschädigt.

Vor mehr als 20 Jahren musste das Kupferdach des Turms, bis dahin in klassischem Patina-Grün leuchtend, komplett renoviert werden. Und jedes Mal haben die Hamburger den Wiederaufbau und alle notwendigen Reparaturen großzügig mit Spenden unterstützt. Immer waren die Elbstädter für ihren „Michel“ da, haben Glocken und Orgeln gestiftet, für ein neues Kupferdach gesammelt. Jüngst erst hat ein Unternehmer aus der Nachbarschaft einen neuen Marmortisch vor den Altar stellen lassen.

Stimmungsvolle Konzerte bei Kerzenschein

Erzengel Michael bekämpft den Satan.
Erzengel Michael bekämpft den Satan.

© Schiller

Aber der „Michel“ war und ist auch immer für die Bürger da, auch für die weniger Frommen. Auf ihr Wahrzeichen lassen sie allesamt nichts kommen, und bei den vielen Konzerten und erst recht zu Weihnachten ist jeder der 2500 Plätze besetzt. Die Kirche passt zu dieser Stadt, von der Spitze bis zum Fundament.

Ganz oben: Der Turm, 132 Meter hoch, mit neuem Kupferdach, zeigt schon wieder erste Anzeichen des altvertrauten Grüns. Die Seeluft färbt das Metall schneller als anderswo. Die Uhr, mit acht Metern Durchmesser die wohl größte ihrer Art in Deutschland, zeigt weithin sichtbar an, was die Stunde geschlagen hat, der große Zeiger misst fünf, der kleine 3,60 Meter. Wer sich die 453 Stufen zur Aussichtsplattform in über 80 Meter Höhe ersparen will, nimmt den Fahrstuhl.

Ganz unten: Die Krypta von St. Michaelis stammt aus dem Jahre 1750. Sie wirkt geheimnisvoll und birgt unter dem Gruftgewölbe mehr als 2500 Gräber, darunter das des „Michel“-Baumeisters Ernst Georg Sonnin und des Musikers Carl Philipp Emanuel Bach, des berühmtesten Sohnes von Johann Sebastian. Zahlreiche Dokumente und Exponate erzählen die Geschichte der Kirche, von Zeit zu Zeit finden im Gewölbe stimmungsvolle Konzerte bei Kerzenschein statt.

Gegenüber dem Portal, vor dem der Erzengel Michael in grimmiger Pose den Satan besiegt, serviert das Restaurant Old Commercial seit ewigen Zeiten Labskaus („garantiert ohne Fisch“) oder Aalsuppe mit Mehlklüten und andere Hamburgensien. Zu Freddy Quinns und Uwe Seelers aktiven Zeiten mag es ein Kultlokal gewesen sein, heute zeigt es vor allem Touristen, was Seeleuten und anderen Hamburgern früher geschmeckt haben soll. Chef Reinhard Paul Rauch, eine Art Original, zehrt vom Ruhm alter Tage und freut sich, wenn die Lokalpresse ihn einen „Promiwirt“ nennt.

Kitsch, Kunst, Souvenirs und die besten Entradas nördlich von Porto

Pastorin Atze.
Pastorin Atze.

© Schiller

Nach Norden zu, wo nach dem Krieg die Ost-West-Straße, heute Ludwig-Erhard-Straße, das Quartier der Hafenarbeiter und Handwerker gnadenlos zerschnitten hat, nehmen hässliche Büroklötze die Sicht aufs Wahrzeichen, eine Sünde hat das ein früherer „Michel“-Pastor genannt. Nach Süden zu hat der liebe Gott ein Einsehen gehabt: Der Blick geht weit über die Gassen der Neustadt und die Zeitschriftenwerft von Gruner + Jahr hinweg, wo jede Woche einige Millionen Magazine vom Stapel laufen, zum Hafen hinüber.

Breite Stufen führen von der Kirche direkt ins sogenannte Portugiesenviertel, ein wahrhaft wundersames Quartier von zwei Dutzend oder mehr iberischer Lokale und Tapas-Bars. Die Entradas, die Vorspeisen, gelten als die besten nördlich von Porto, der Fisch ist in der Regel frisch und nach heimischem Rezept zubereitet. Während die Atmosphäre südlich-heiter ist, haben sich die Preise aber längst eingenordet. Noch immer leben in diesem Viertel vorwiegend „kleine Leute“, noch immer lassen sich in der Reimarus- oder in der Ditmar-Koel-Straße und unten am Johannisbollwerk wundervolle Schnäppchen machen: Kitsch, Kunst und Souvenirs aus vergangenen Zeiten, der „blonde Hans“ (Albers) lässt grüßen.

Von hier aus sind die wichtigsten und die kuriosesten Attraktionen an der Hafenmeile und drumherum schrittweise zu erreichen: die Landungsbrücken, der Altonaer Fischmarkt (der sonntags immer dann endet, wenn gegen zehn Uhr die Glocken des „Michels“ anfangen zu läuten), die letzten Relikte vom alten Hamburg – die Witwenwohnungen des Krameramts, die historischen Bürgerhäuser in der Peter- und in der Deichstraße –, die Speicherstadt, die immer noch wachsende Hafencity und natürlich die Elbphilharmonie, die faszinierend Unvollendete.

Mittendrin der „Michel“. Er steht für vieles: für das Bewährte und für den Aufbruch. Für das Bodenständige und für das Fernweh. Manches war schon immer so, und weil es gut ist, muss es auch weiterhin so bleiben. Das gilt auch für die Türmer, die in den kommenden Tagen auch dem Kirchentag die Richtung blasen. Anderes war noch nie da, und nun ist es eine Bereicherung. Julia Atze ist zur richtigen Zeit gekommen.

Bernd Schiller

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