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Tirol: Berliner auf der Höhe

Die „Zillertaler Runde“ führt von Hütte zu Hütte in die Gipfelwelt Tirols – und in die Abgründe der Geschichte.

Da setzt der Wanderer in der Tiroler Bergwelt bedächtig einen Schritt vor den anderen, bestaunt die 3000 Meter hohen Gipfel rundum, die Gletscher und rauschenden Bäche – und plötzlich taucht in seinem Blickfeld der Berliner Bär auf. Das heißt: eine Flagge mit dem Wappentier. Noch ein paar Schritte, dann wird ein Dach sichtbar, schließlich ein Ensemble von Häusern: die Berliner Hütte, Schutzhaus der Sektion Berlin des Deutschen Alpenvereins. Ein stattliches Anwesen, das der deutschen Hauptstadt zweifellos alle Ehre macht. Aber wie ist es in den hintersten Winkel des Zillertals gekommen?

„Es waren die Tiroler, die sich vor mehr als 130 Jahren an die Berliner wandten, um sie für die Erschließung der Bergwelt zu gewinnen“, berichtet Stefan Wierer, Obmann der Zillertaler Bergführer. Und das hat funktioniert. Die Bergbegeisterung der Flachlandtiroler von der Spree war legendär. Sie waren Männer der ersten Stunde bei der Gründung des Deutschen Alpenvereins im Jahr 1869, erwarben mit Hilfe von Vorstandsmitglied Enno Schumann das Gelände im obersten Zemmgrund und konnten am 28. Juli 1879 bereits das erste Schutzhaus der Region einweihen.

Nicht nur der Ort war gut gewählt. Am Zusammenfluss zweier mächtiger Gletscher umgibt ihn ein Kranz von Dreitausendern: hier die Berliner Spitze, dort der Schwarzenstein und die Zsigmondyspitze, das „Matterhorn des Zillertals“. Aber auch die Ausstattung war für damalige Verhältnisse bereits mehr als komfortabel. Schon bald gab es einen Telefonanschluss, eine Dunkelkammer für Fotografen, ein eigenes Postamt und – sehr praktisch in jenen Tagen – eine Schusterei. 1911 gingen schließlich eine Gaserzeugungsanlage und ein Wasserkraftwerk in Betrieb. Zu jener Zeit war die Berliner Hütte die größte und modernste des gesamten Alpenraums.

Heute steht sie als einziges Schutzhaus des Alpenvereins unter Denkmalschutz. Im Eingangsbereich empfangen den Gast Fotos legendärer Hüttenwirte, alte Schilder fordern dazu auf, die „Schlafgelder abends (sic!) bei der Kasse zu zahlen“, auf den Fluren haben Waschschüsseln aus früheren Zeiten überdauert. Besonderes Schmuckstück ist der Speisesaal, eine wahrhaft filmreife Location. Mehr als vier Meter hoch, prunkt er mit holzgetäfelten Wänden samt aufwendigem Schnitzwerk. Von der Decke baumeln sechseckige Leuchter, die für eine geradezu feierliche Atmosphäre sorgen.

Schmuckstück. Der Speisesaal in der „Berliner Hütte“. Foto: Gerhard Heidorn/laif
Schmuckstück. Der Speisesaal in der „Berliner Hütte“. Foto: Gerhard Heidorn/laif

© LAIF

Vor 100 Jahren, erzählt man sich, wurde hier im Smoking diniert. Heute löffeln die Gäste stattdessen in Funktionskleidung ihre Backerbsensuppe. Und natürlich trägt Beate aus Weißensee, die uns das Radler bringt – Berliner Weiße bleibt den Besuchern erspart – statt weißem Schürzchen und Servierhäubchen lediglich T-Shirt und Jeans. Doch ist sie ebenso stolz wie Hüttenwirt Rupert Bürgler, in solch geschichtsträchtigen, na ja, fast heiligen Hallen ihr Geld zu verdienen. „Ich komme schon seit mehreren Jahren, um hier in der Sommersaison zu jobben“, erzählt sie. Außer ihr sind auch ein paar Freiwillige aus Berlin zum Arbeitseinsatz angereist. Sie bessern die Fenster aus und helfen auch anderweitig, das in Würde gealterte Haus instand zu halten. „Die Berliner Hütte ist schon etwas ganz Besonderes“, meint Bergführer Stefan. „Seinerzeit war das eine echte Pionierleistung. Im Grunde genommen waren die Berliner die ersten Dienstleister, die dem Tourismus im Zillertal den Weg geebnet haben.“ Schließlich errichteten oder erwarben sie neben der Berliner Hütte noch weitere Schutzhäuser, legten zahlreiche Wege an und kümmerten sich um Ausbildung und Altersversorgung der Bergführer.

Ohne dieses Engagement wäre es kaum möglich, auf dem „Berliner Höhenweg“ die Runde durch den Naturpark Zillertaler Alpen drehen. Sie gehört wohl zu den reizvollsten Hüttentouren in Österreich. „Das Schöne ist, dass man unterwegs je nach Belieben und Können etliche Dreitausender mitnehmen kann“, schwärmt ein Hüttengast. Doch auch ohne Gipfelbesteigungen sind 6700 Höhenmeter und allerlei ausgesetzte Stellen – mit Seilen oder Ketten gesichert – zu überwinden. Deswegen sollte der Tourengeher eine gute Kondition, Trittsicherheit und angemessene Bergausrüstung mitbringen, sich im Zweifelsfall auch immer einem Bergführer anvertrauen.

Dunkles Kapitel der heilen Bergwelt

Wir probieren es aus und starten bei strahlendem Sonnenschein am Schlegeisspeicher, einem 1782 Meter hoch gelegenen Stausee unweit vom Bergsteigerdorf Ginzling. Zunächst geht es auf relativ kommodem Pfad zum 2498 Meter hoch gelegenen Friesenberghaus hinauf. Vorbei an Zirbel- und Latschenkiefern passieren wir die Baumgrenze. Die Vegetation wird immer spärlicher, zwei Stunden später sind wir in der weißen Gipfelwelt angekommen. Ringsum grüßen das Petersköpfli und der Hohe Riffler, unter uns markiert ein Bergsee einen blauen Tupfen in der Landschaft. Nachdem wir uns sattgesehen haben, nehmen wir den Übergang zur Olperer Hütte in Angriff. Eigentlich weist die Passage keine großen Schwierigkeiten auf. Wäre da nicht die meterdicke Schneeschicht, die sich trotz der sommerlichen Temperaturen auf den Hängen gehalten hat.

Ein Murmeltier huscht flink das glitzernde Weiß hinauf. Wir dagegen kommen nur im Schneckentempo vorwärts. Bei jedem Schritt versinken wir knietief, manchmal bis zur Hüfte in der kalten Pracht und müssen aufpassen, dass wir nicht auf dem Schneefeld abrutschen. Schließlich sind wir froh, in der Olperer Hütte unser erstes Nachtlager aufschlagen zu können. Zumal es sich in dem 2007 neu aufgebauten Schutzhaus angenehm wohnen lässt. Eine riesige Fensterfront eröffnet das Panorama auf den tief unten liegenden Schlegeisspeicher und schneebedeckte Berge. Nach dem Abendessen mit Speckknödelsuppe, Schnitzel und Cappuccino-Torte machen es sich die Wanderer bei einem Südtiroler Rotwein am flackernden Kaminfeuer noch etwas gemütlich – bis sie dem vollbrachten Tagwerk Tribut zollen müssen und sich in die Betten trollen.

Die Etappe zum Furtschaglhaus ist problemlos in vier Stunden zu bewältigen. Und so legt mancher Wanderer, der sich nicht ausgelastet fühlt, noch eine Gipfelbesteigung ein. Das Gros der Gruppe hingegen stärkt sich stattdessen mit dem himmlischen Apfelstrudel von Hüttenwirtin Barbara und genießt die Aussicht „am schönsten Arsch der Welt“, wie ein Gast sich ausdrückt. Der Blick schweift vom weißen Kamm des Großen Möseler zur bedrohlich erscheinenden Furtschaglspitze. Das Schönbichler Horn, das gleich daneben liegt, sieht dagegen relativ harmlos aus. Doch weit gefehlt. „Das ist eine der beiden Königsetappen des Berliner Höhenwegs, für die brauchen wir jetzt die Bergausrüstung“, klärt uns Bergführer Stefan auf. Und wir sind froh, ihn bei uns zu haben. Denn in 2900 Meter Höhe, als sich Schneefelder und Schuttflanken abwechseln, wird es etwas ungemütlich. Erst geht es über eine drahtseilgesicherte Rinne zum Südhang des 3134 Meter hohen Gipfels und von dort aus auf die Ostflanke, bevor der Weg auf der anderen Seite über den Garberkar mehr als 1000 Meter in die Tiefe führt.

Wer nach solchen Strapazen an der Berliner Hütte ankommt, weiß die Pionierleistung der deutschen Alpinisten erst richtig zu schätzen. Umso mehr freuen wir uns über die stilvollen Zimmer mit karierter Bettwäsche sowie das gute Essen und fühlen wir uns Welten entfernt von den Niederungen des Alltags – bis wir einen Blick in die alten Hüttenbücher werfen.

Zunächst lesen wir unzählige Berichte von Gipfelbesteigungen, die mit kleinen Anekdoten, Gedichten oder auch Zeichnungen gewürzt sind. „Abends übten wir gar fein die Berliner Sprache ein, um nur nicht aufzufallen...“, schrieben zum Beispiel Agnes und Seppl aus München im Juni 1929. Ein Arzt aus Berlin-Steglitz beschwert sich indessen über den Spinat, an dem sich einige aus der Gruppe den Magen verdorben hätten. Und dass es zum Frühstück keine Erbsensuppe gegeben habe, wie das sonst vor großen Touren üblich sei.

Nicht erspart werden den Gästen auch mit Hakenkreuzen versehene Schilderungen der Schutzpolizei Innsbruck, und ein hier eingekehrter Turnverein beschließt seine Eintragung mit „Ski Heil! Heil Hitler“. Doch auch das ist Teil der deutschen Geschichte. Nicht allein, dass die Nationalsozialisten in besonderem Maße den Bergsport für ihre Zwecke missbrauchten. Erschreckend ist vor allem, wie früh sich im Deutschen und Österreichischen Alpenverein antisemitische Tendenzen breit gemacht hatten. Dieser Entwicklung etwa ist die Existenz des Friesenberghauses geschuldet, unser erstes Etappenziel. Nachdem die Wiener Sektion 1921 einen Arierparagraphen in ihre Satzung aufgenommen hatte, gründeten jüdische und nichtjüdische Mitglieder die „Sektion Donauland“, die drei Jahre später aus dem D.u.Ö.A.V. ausgeschlossen wurde. Aus Protest schlossen sich 600 Mitglieder der DAV-Sektion Berlin zum „Deutschen Alpenverein Berlin e. V.“ zusammen, der drei eigene Hütten errichtete (Glorerhütte, Obertauernhaus, Friesenberghaus). Diese wurden jedoch 1938 enteignet.

Die wenigen überlebenden jüdischen Mitglieder, die sie später zurückbekamen, sahen sich nicht in der Lage, sie zu erhalten und übergaben sie 1968 der Sektion Berlin. Inzwischen erinnern vor den drei Hütten – eher unauffällige – Gedenksteine an dieses dunkle Kapitel der viel beschworenen Bergfreundschaft. Sie tragen eine Bronzeplakette mit der Inschrift „Gegen Intoleranz und Hass (1921–1945). Uns Bergsteigern zur Mahnung“. Dazu Davidstern und Edelweiß.

Nachdenklich geworden, tauchen wir wieder in die Bergwelt ein. Die Königsetappe zur Greizer Hütte steht an: 1200 Höhenmeter hinauf, 1100 talwärts beim Abstieg über das Schwarzensteinmoor, Rosskar und Mönchenscharte, wo immer wieder das Seil gebraucht wird. Wir sind zurück im Hier und Jetzt.

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