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Schritt für Schritt. Wer durch Schnee stapfen muss, braucht natürlich erheblich länger für den Weg hinauf zum Brandenburger Haus als im Sommer.

© Barbara Schaefer

Ötztal: Am Gipfel der Freundschaft

Das Brandenburger Haus im Ötztal liegt auf 3277 Metern. Eine beliebte Unterkunft des Deutschen Alpenvereins – mit dunkler Geschichte.

„Siehst du jetzt die Hütt’n?“, fragt Bergführer Karl Dung. „Ach du meine Güte, so weit noch.“ Ganz hinten am Kesselwandgletscher zieht sich ein Felsgrat entlang. Dort ist ein Gebäude auszumachen. Es hockt da wie eine Warze auf der Nase: das Brandenburger Haus. Keine Menschenseele zu sehen, schon seit Stunden nicht. Wer kommt nur auf die Idee, so weit abgelegen im Ötztal Hütten zu bauen? Und so hoch, nämlich auf 3277 Metern? Die höchstgelegene Hütte des Deutschen Alpenvereins.

Und warum tragen Hütten in Österreich Namen deutscher Städte und Regionen? Das ist schnell erklärt: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten die Städter die Berge. Das Bürgertum stieg auf die Gipfel, Einheimischen kam das nicht in den Sinn. Sie waren ohnehin immer draußen, hüteten Vieh, bestellten das Land. Die Städter schufen die touristische Infrastruktur, bauten Hütten; Berlin wirkte im Zillertal, die Dresdner im Stubai und am höchsten steht das Brandenburger Haus im Ötztal. Vorangebracht wurde dies von den Alpenvereinssektionen. Der Alpenverein war per Satzung unpolitisch. Doch was heißt schon unpolitisch? Der Verein war ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Strömungen und ist das bis heute. Und so kann man an der Geschichte der Hütten die deutsche Geschichte nacherzählen, bis in die Gegenwart.

Auch der Alpenverein hatte eine dunkelbraune Zeit. Antisemitismus war verbreitet, das Heldenhafte der Bergsteiger, das sei, so dachten die Verblendeten, eine arische Eigenschaft. Dabei waren unter den berühmtesten Kletterern der Zeit viele Juden. Logischerweise, denn Bergsport war eine Domäne der bürgerlichen Schichten in den Städten, und dort hatte die jüdische Bevölkerung überwiegend ihren Platz.

„Arierparagraphen“ in der Satzung

Besonders unrühmlich ragt das flache Brandenburg in der Geschichte des Alpinismus hervor: Bereits 1899 (!) spaltete sich die „Sektion Mark Brandenburg“ vom Berliner Alpenverein ab, um eine „judenfreie Sektion“ zu gründen. Man wollte eine „alpine Arbeitsgemeinschaft, die auf völkischer Grundlage aufgebaut war“, hieß es zum 25-jährigen Vereinsjubiläum 1924. Die Sektion Mark Brandenburg setzte sich vehement für einen „Arierparagraphen“ in der Satzung ein.

Treibende Kraft war der Vorsitzende Waldemar Titzenthaler, ein Berliner Fotograf, fanatischer Deutschnationaler und Antisemit: Die Männer der Sektion Mark Brandenburg gehörten, so Titzenthaler, „zu den wenigen, die erkannt hatten, dass man seinen Umgang und seine Freundschaft in den Kreisen suchen soll, die gleichen Stammes sind wie man selbst“. In dieser Umgebung fühlte sich auch der führende Nazi Hermann Göring wohl; er trat im Oktober 1931 der Sektion Mark Brandenburg bei, die ihn zum Ehrenmitglied machte. Bis 1924 hatten 98 von 110 Sektionen im Alpenverein einen „Arierparagraphen“ in ihre Satzung aufgenommen.

Mit reinen Vereinsinterna hielt man sich nicht auf. An vielen Hütten wurden Schilder aufgehängt: „Mitglieder der Sektion Donauland und Juden unerwünscht“. Die Sektion Donauland war die rühmliche Ausnahme der Alpenvereinsgeschichte; Juden und nichtjüdische Alpinisten hatten sie in Wien gegründet, setzten ein Fanal gegen die fatalen Tendenzen der Zeit. „Donauland“ wurde zur drittgrößten Sektion – was sich bis nach Berlin auswirkte.

Nicht alle Alpinisten waren Dumpfköpfe

Als 1924 die Sektion Donauland aus dem Österreichischen Alpenverein ausgeschlossen wurde, protestierten die Bergsteiger an der Spree. Und bewiesen, dass das Modell der Brandenburger Sektion eben nicht sein musste, dass es auch anders ging, dass nicht alle Alpinisten nationalistische Dumpfköpfe waren: 600 Mitglieder der damaligen Sektion Berlin traten gemeinsam aus und gründeten den Deutschen Alpenverein Berlin e.V., der allen Bergsteigern offen stand. 1934 wurde er von den Nazis verboten.

So weit zur unrühmlichen Geschichte der Sektion „Mark Brandenburg“. Ihre trotz allem großartige Hütte wurde in diesem Jahr unter Denkmalschutz gestellt.

Die Berliner und Brandenburger Bergsteiger hatten sich einen abenteuerlichen Platz ausgesucht. 1904 begannen sie in einem der größten Gletschergebiete der Ostalpen mit dem Bau. Bis heute ist es ein langer Weg zur Hütte, für die Bauarbeiten war dies problematisch – und teuer. Nur zwei Monate im Jahr konnten Handwerker arbeiten, manchmal gab es Schneestürme mitten im Sommer. 1909 wurde die Hütte eingeweiht. 17 Zimmer mit 42 Betten und weitere 29 Schlafplätze. In einer Dunkelkammer konnten Bergsteiger ihre Fotoplatten entwickeln. Heizung und Beleuchtung funktionierten mit einem Gemisch aus Leichtbenzin, Luft und Gas, erzeugt in einem Nachbargebäude. Eine Anlage, die in der Schokoladenfabrik Sarotti in Berlin ihr Vorbild hatte.

Der Aufstieg ist kein Pappenstiel

Wirtin Anna Pirpamer
Wirtin Anna Pirpamer

© Barbara Schaefer

Aber die Freude an der Hütte war von kurzer Dauer. Im Ersten Weltkrieg wurde das Haus dem Militär unterstellt, das Skikurse abhielt. Ein Ausbilder beschreibt den Aufstieg dramatisch: „... überfiel uns am Gletscher ein wütender Schneesturm. Wolken, Schneetreiben, Sturm und totale Finsternis raubten uns jede Sicht und Orientierung. Übermüdete Soldaten ließen sich lautlos in den Schnee fallen, andere warfen die Skier fort, weil sie damit einfach nicht weiterkamen.“

Hoch dramatisch geht es nachts mit dem Kompass weiter, schließlich hieß der Ausbilder Luis Trenker: „So ließen wir unsere braven Latten, hol’s der Teufel, blind durch den nächtlichen Schnee laufen, jede Sekunde gewärtig, im Schlund einer Spalte auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.“ Er schafft es – das Zitat stammt aus seiner Autobiografie „Alles gut gegangen“ –, doch 70 der Soldaten müssen mit Erfrierungen zu Tal gebracht werden.

Bis heute ist der Aufstieg kein Pappenstiel. An diesem Abend hat sich noch eine Gruppe Holländer heraufgemüht. Bis auf die Autorin, die hinterm Bergführer herschnaufte, sitzen nur Männer in der Stube. „Wir haben hier höchstens ein Viertel Frauen als Gäste, keine Ahnung, warum das so ist“, sagt Anna Pirpamer. Seit sechs Jahren arbeitet sie hier oben, seit drei Jahren als verantwortliche Hüttenwirtin. Das ist durchaus erwähnenswert, denn Anna Pirpamer ist gerade mal 25 Jahre alt.

Kochen, heizen – und das 16 Stunden am Tag

Ist das Leben oben einsam? „Ganz sicher nicht“, sagt die Ötztalerin, eine zierliche Frau mit dem Händedruck eines Möbelpackers. „Wenn ich aufwache, höre ich schon die Leute, es ist ja immer wer da.“ Am schwierigsten sei nicht die Versorgung. Die wird mit dem Hubschrauber bewältigt. Und auch nicht die Elektrizität, Strom liefern Sonnenkollektoren und ein Generator. „Am schwierigsten ist es, Personal zu finden.“ Es bewerben sich immer wieder mal „so Studenten“. „Die denken, sie steigen aus, haben zwei Monate keinen Stress.“

Aber „kochen, heizen, das ist ja alles aufwendig. Und das geht 16 Stunden am Tag. Die Ersten wollen um 5 Uhr ihr Frühstück.“ Sie sei das gewohnt, schließlich habe es schon zu ihren Kindertagen geheißen, „du duasch was“. Die Arbeit habe mit 14 in den Sommerferien angefangen, auf dem Feld und in der Gastwirtschaft wurde jede Hand gebraucht. „Nicht tagein, tagaus, doch man hatte Pflichten. Und das hat auch nicht geschadet.“ Denn: „In der Stadt hängen die jungen Leute eher mal rum.“

Ruhig sei es in der Hütte nur nachmittags. „Ich seh’ ja die Leute kommen: Eine Stunde bevor die da sind, tauchen sie am Gletscher auf.“ Wenn sie am Ende der kurzen Saison wieder ins Tal kommt, freue sie sich auf – Pommes. Und eine Badewanne statt der tröpfelnden Dusche. Und auf Annehmlichkeiten des Alltags: „Ich kann staubsaugen, wann ich will! Hier geht es nur, wenn die Sonne scheint und sonst nichts eingesteckt ist.“

Berliner kommen nur vereinzelt

Kommen vermehrt Berliner oder Brandenburger Bergsteiger herauf? „Auch nur vereinzelt“, sagt die Wirtin. Und nur die Teilnehmer des Eiskurses der Sektion Berlin „fragen nach der Geschichte“. Denn heute gehört das Brandenburger Haus der Sektion Berlin.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam auch das Ende für den Deutschen und österreichischen Alpenverein. Die Alliierten verboten die nationalsozialistische Vereinigung. Die Hütten in Tirol gehörten nun dem österreichischen Staat. In der Bundesrepublik wurde ab 1950 der Alpenverein neu gegründet, in der DDR blieb er dauerhaft verboten. Österreich gab die beschlagnahmten Hütten an den DAV zurück, und die Häuser der Ost- Sektionen wurden von westdeutschen Vereinen mit übernommen. Allein der Sektion Berlin wurden zehn Hütten übereignet, darunter eben auch das Brandenburger Haus.

Mit dem Fall der Mauer konnten sich auch die Alpinisten in den neuen Bundesländern wieder organisieren, ab 1995 wurden Alpenvereinssektionen neu gegründet, und viele von ihnen übernahmen ihre Hütten wieder. Eine Neugründung der Sektion Mark Brandenburg stand allerdings nie mehr zur Diskussion.

Eine Metalltafel erinnert an die dunkle Geschichte

Das Land Brandenburg fördert die Hütte seit 1997 finanziell. 1998 besuchte der damalige Ministerpräsident Manfred Stolpe die Hütte. Noch heute ist das Gesprächsthema im Talort Vent, um nicht zu sagen: Lästerthema: Denn, wer da hat schlapp gemacht ? Lachend prustet eine Venterin los: „Die Bodyguards. Zwoa so aufblosene Manda, vastehst? Vui Muckis und ka Kondition net.“

Im Jahr 2001 bekannte sich der Alpenverein zu seiner Vergangenheit und verabschiedete eine Proklamation gegen Intoleranz und Hass. Seit 2010 hängt eine Metalltafel an der Außenwand des Brandenburger Hauses, das die judenfeindliche Ausrichtung der Sektion Mark Brandenburg erläutert. Im Namen der Sektion Berlin heißt es weiter: „Uns ist es eine Stätte der Freundschaft und Begegnung für alle Bergsteiger, unabhängig von Nationalität, Religion oder Hautfarbe.“

Die junge Hüttenwirtin Anna Pirpamer kümmert sich nicht so sehr um die Geschichte des Hauses. Meist ist sie sogar zu beschäftigt zum Bergsteigen. Über die vergangene Saison sagt die junge Frau: „Es war ein schöner Sommer. Wir mussten nie das Dieselaggregat einschalten.“

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