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Hüben Mecklenburg, drüben Schleswig-Holstein. Die Grenze in der Mitte des Schaalsees war bis 1990 unüberwindbar.

© Gerald Haenel/laif

Mecklenburg: Wo Johnny Depp meckern darf

Am Schaalsee wird die Umwelt respektiert. Deshalb kommt auch nur Gesundes auf den Teller.

Plötzlich lichtet sich der Tunnel aus hohen Linden und gibt den Blick auf das Klinkerfachwerk des alten Brückenhauses frei. Es steht auf einer Insel im Schaalsee. Eine „Insel der froheren Einsamkeit“, wie Klopstock sie nannte. Die Ode an das Eiland hat 15 Strophen. Lang ist auch die Geschichte derer von Bernstorff auf dieser Insel. „Wir gehören zum mecklenburgischen Uradel“, erklärt Johann Hartwig Graf von Bernstorff und blickt auf den allmählich aus dem Morgennebel auftauchenden Schaalsee, wie in ein Meer der Erinnerung.

Nach dem Ende der DDR bekam die Familie des 1945 von der SS ermordeten Widerstandskämpfers Albrecht Graf von Bernstorff einen großen Teil des gräflichen Gutes Stintenburg ist zurück. Großneffe Johann Hartwig Graf von Bernstorff kümmerte sich um den Wiederaufbau des alten Brückenhauses, in dem einst DDR-Grenzer auf Patrouillengang Kaffeepause machten. Es entstand eine kleine Fischerei mit Kiosk, aus dem Brückenhaus wurde ein mit Solardach so ökologisch korrektes wie mit Frischeküche erfolgreich werbendes Ausflugsziel. Aus allen Fenstern und von der Gartenterrasse blickt man auf den buchtenreichen, glasklaren See mitten im Unesco-Biosphärenreservat Schaalsee.

Der junge Fischer Jens, einer der letzten der Schaalseefischer, landet seinen Fang direkt im Bootsschuppen an. Was nicht sofort verarbeitet wird, bleibt in Hälterkisten frisch. „Das Brückenhaus steht für einen Brückenschlag zwischen Mensch und Natur, Tradition und Moderne, Ost und West“, sagt von Bernstorff und beschreibt damit auch das Programm der dünnbesiedelten Landschaft im Nordwesten Mecklenburgs.

Einst verlief die deutsch-deutsche Trennungslinie mitten durch Norddeutschlands tiefsten See, zerteilte Wald, Feld und Flur und legte den ganzen Landstrich ins künstliche Koma, was der Natur, weniger dem Tourismus zugutekam. Orte wie Stinteburg waren als Sperrgebiet von der Außenwelt abgeschlossen. Heute sind die Grenzen zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein im Schaalseegebiet buchstäblich verschwommen. Über Grenzwege ist Gras gewachsen und die Region ringt um Gäste.

„Wir wollen den Wert dieser 309 Quadratkilometer großen wasserreichen Natur- und Kulturlandschaft zwischen den Ballungszentren Hamburg, Lübeck und Schwerin erhalten und gleichzeitig für Besucher erlebbar machen“, beschreibt die Initiative „Biosphärenreservat Schaalsee – Für Leib und Seele“ ihre Strategie zur nachhaltigen touristischen Belebung dieser sensiblen Landschaft, in der etwa 12 300 Menschen und 249 Vogelarten leben. Wer ihren Wegweisern folgt, trifft im Biosphärenreservat auf 78 Direktvermarkter, Gaststätten, Ferienwohnungen, Kunsthandwerker und andere Betriebe, die sich, wie das Brückenhaus, zum schonenden Umgang mit Natur und Umwelt verpflichtet haben. „Solch ein Netzwerk ist eine dolle Sache“, bekräftigt der Graf, „man lernt sich kennen und vermarktet sich gegenseitig.“ Seine Speisekarte wirbt beispielsweise für das Fleisch vom Bio-Gut Gallin.

Natürlich Bio
Natürlich Bio

© Hanne Bahra

Kräftig weht dort der Wind über Felder mit LPG-Dimensionen. Doch Jens Rasin, der „Bio-König von Gallin“, hat ein breites Kreuz. Und einen runden Bauch. Am liebsten mag er seine selbst gemachte Schlackwurst. Auch Speck, Schinken, Salami sind im Hofladen zu kaufen. Schlachtersülze, Rindersteak und Bio-Burger, „Soljanka ostalgisch“ und Bockwurst mit Brötchen gibt es in der „Bauernstube“. Alles aus eigener Produktion. Jens Rasin zeigt mit großer Geste über Wiesen und Felder. „So weit Sie sehen können – alles meins. Mehr als tausend Hektar.“

Auf den Koppeln weiden hunderte Fleischrinder. Zuchtbullen sorgen auf natürliche Art für Vermehrung. „Und die Schweine haben bei uns noch Schwänze“, sagt der Mecklenburger Biobauer, der seit 1992 am Südrand des Unesco-Biosphärenreservates Schaalsee einen der größten Biobetriebe Deutschlands aufgebaut hat. Schließlich wolle er sich später nicht von seinen Kindern vorwerfen lassen, die Welt kaputtgemacht zu haben. Eher würde er seinen Beruf an den Nagel hängen. Ein verhältnismäßig mildes Lebensende findet das Galliner Vieh im hofeigenen EU-zertifizierten Schlachthaus. „Ich bin wahrscheinlich einer der letzten Ossis, der solch einen Betrieb hat. Jetzt sind wir nicht mehr der Arsch der Welt, sondern der Mittelpunkt Norddeutschlands.“

Grünkern statt Reis

Bioküche in der Dorfschule. Küchenchefin Ute Alm-Linke und Partner.
Bioküche in der Dorfschule. Küchenchefin Ute Alm-Linke und Partner.

© H.Bahra

In seinem Hofladen bietet Rasin auch Produkte seiner Nachbarn an. Der Käse stammt aus der Milchschäferei Richter in Klein Salitz. Anja und Andreas Richter kamen vor zehn Jahren aus dem Erzgebirge zum Freiwilligen Ökologischen Jahr nach Mecklenburg und sind dann hier „hängen geblieben“. Sie zogen in das Dorf am Ostrand des Biosphärenreservates, in dem es „zehnmal mehr Schafe als Menschen gibt“, kauften sich Schaf Hannah und eigneten sich das Schäferei- und Käserhandwerk im Selbststudium an.

2005 gründeten sie mit 20 Ostfriesischen Milchschafen im ehemaligen LPG-Kuhstall eine Ich-AG. Bereits ein Jahr später zählte sie der „Feinschmecker“ zu den besten Käseproduzenten Deutschlands. Das Prinzip Bio ist ihnen Philosophie aber auch Überlebensstrategie, denn „Deutschland ist nicht Frankreich, wo auch konventionelle Läden in Mengen Schafskäse anbieten“. Andreas träumt davon, einmal Zeit für eine Reise in das Käsewunderland zu finden, doch täglich müssen mehr als 140 Mutterschafe gemolken werden …

Der Bioland-Betrieb beliefert 20 Läden und Restaurants, so auch das Bio-Restaurant „De oll Dörpschaul“ in Rosenow. Wo von 1930 bis 1968 Kinder unterrichtet wurden, hat sich nun Küchenchefin Ute Alm-Linke vorgenommen, den Gästen gesunde, heimatverbundene Kost nahezubringen. „Wir versuchen zu animieren, ohne Geschmacksverstärker und exotische Früchte zurechtzukommen“, sagt die 57-Jährige, die sich ihre Kochkunst selbst beigebracht hat.

Reisende, die dafür mitunter extra von der A 20 abbiegen, genießen die immer neuen und mitunter gewagten Kreationen, wie Grüner Spargel mit Rhabarber zu Hähnchenleber. Statt Reis gibt es Grünkern oder Nackthafer. Oder Hagebutten- und Rosenblütennudeln. Die hausgemachte Kräuterlimonade aus Minze, Waldmeister und Eberraute ist der Renner. Etwa 180 alte Gemüsearten, Pflanzen und Kräuter wachsen im Hausgarten. Das Konzept heimischer Kräuterküche hat sich bewährt, auch wenn die Leute aus dem Dorf über Brennnesselsuppe immer noch nur lachen können.

So mancher Bauer grinste ungläubig, als 2009 die Lebenspartnerinnen Monika Reh und Mück Kröbler-Reh aus Köln nach Nesow zogen, um sich in dem Dorf den Traum vom Leben auf dem Land zu erfüllen. Das bekommen die Stadtweiber niemals hin, hieß es. „Nach drei Monaten haben wir die Leute zu Kaffee und Kuchen eigeladen, heute sind wir mittendrin im Dorfleben“, sagt Monika, einst Personalmanagerin, und blickt unternehmungslustig unter der breiten Hutkrempe hervor. Sie war bereits 60 Jahre alt, als sie auf die vier Hektar große Ranch zog, die die beiden Frauen sich heute mit 15 Schafen, mit den Ziegen Johnny Depp und Angelina Jolie (Brad Pitt ist leider verendet), mit Minischweinen, Gänsen, Hühnern, Katzen und Hunden teilen.

„Bereut haben wir den Wechsel keine Sekunde. Schon diese Weite, die kenne ich so nur von Amerika“, schwärmt Monika. Auf dem Storchenhof ist immer etwas los: Konzerte, Kleinkunst, Kaffeeklatsch nach Voranmeldung. Das Kölner Kabarett und das jährliche VW-Bus- T1-Treffen haben Kultcharakter.

Im Heulager der ehemaligen Scheune haben sich Hamburger Pilger einquartiert, die das Klosterdreieck Ratzeburg– Zarrentin–Rehna erwandern. Feriengäste aus Berlin spazieren über den Mönch-Ernestus-Wanderweg, der grenzenlos vom Kloster Ratzeburg zum ehemaligen Nonnenkloster Rehna führt, zum Dorf hinaus.

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