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Schön in der Spur bleiben. Tourengeher müssen lange Aufstiege meistern und über eine gute Kondition verfügen.

© Barbara Schaefer

Lawinengefahr: Du nimmst die Schaufel

Skitourengehen wird immer beliebter. Doch Laien unterschätzen die Risiken. Im Gasteinertal gibt’s Kurse für den Ernstfall.

Der Mann im roten Anorak sticht wie rasend mit einer Schaufel in den Schnee. Er schaufelt wie ein Berserker, brüllt die anderen an: „Weg mit dem Schnee hinter mir! Schneller! Ich brauch’ Platz!“ Eben war hier noch Winteridylle. Jetzt herrschen Hektik und Stress. „Und das Ganze ist noch Kinderkram im Vergleich zu einem Ernstfall“, sagt Gerhard Angerer, der Mann mit dem roten Anorak. „Einer muss Chef sein!“, ruft Angerer und macht es auch gleich vor. Er packt einen aus der Gruppe an der Jacke: „Du nimmst diese Schaufel!“ Die Menschen um ihn herum sollen ein LVS-Gerät im Schnee finden – im Ernstfall hinge an diesem Lawinenverschüttetensuchgerät ein Leben dran.

Das Gasteinertal ist bei Skitourengehern beliebt, Urlaubern und Einheimischen genügt es nicht mehr, mit Liften rauf- und auf Pisten runterzufahren. Sie wollen zur Gadauner Hochalm oder auf die Hohe Geisl. Dorthin gelangt man nur zu Fuß, mit Ski und Fellen drunter. Damit es möglichst nicht zum Ernstfall kommt und ein von einer Lawine Verschütteter ausgegraben werden muss, vermittelt ein Wochenendcamp Basiswissen zum Thema Skitouren. Eine sinnvolle Sache. In Österreich soll eine halbe Million Skitourengeher unterwegs sein, von 300 000 geht man in Deutschland aus. Während vor zehn, 15 Jahren Skitourengehen das Wintervergnügen der Bergsteiger war, schnüren heute auch Skifahrer abseits der Pisten bergauf. Der Unterschied: Bergsteiger hatten Ahnung von den Bergen, von den Gefahren, von Lawinen und Wind und Wetter. Normale Skifahrer hingegen können bestenfalls Skifahren. Mehr nicht.

Am ersten Abend im Hotel peitscht Bergführer Angerer den Theorieteil durch. Schnee- und Lawinenkunde, Gefahrenstellen laut Lawinenlagebericht interpretieren, Tourenplanung, Risiken, Wetterbericht. Am Morgen steht die Gruppe mit ihren Leihski – auch das gibt es jetzt für Tourengeher – am Fuße des Geiselkopfes. Der Bergführer verteilt die Lawinen- piepser, Geräte zum Umhängen, klein wie ein Smartphone. Sie werden auf „Senden“ eingestellt und übermitteln dann unhörbare Signale. Sollte jemand unter eine Lawine geraten, können die anderen der Gruppe ihre LVS-Geräte auf „Empfang“ stellen und mit der Suche beginnen.

Und wenn doch eine Lawine abgeht?

Bergführer Angerer empfiehlt, es zu Beginn der Tour eher langsam angehen zu lassen, immerhin liegt ein dreistündiger Aufstieg vor uns. Er versucht in der alpinen Realität zu vermitteln, was er gestern am Beamer vorführte. Er lässt die Hangneigung schätzen. Wichtig, wenn man beurteilen möchte, ob die Schneedecke abgehen könnte. Er fragt nach der Lawinenwarnstufe und danach, wie nun weitergegangen werden soll. „Die Aufstiegsspur ist die Visitenkarte des Tourengehers“, fügt er an. Irrsinnig steil gilt nicht als eine gute Spur, genauso wenig wie lange Hangquerungen, die die Schneedecke zerschneiden.

Piiieeep! Kaum größer als ein Smartphone: Verschüttetensuchgerät.
Piiieeep! Kaum größer als ein Smartphone: Verschüttetensuchgerät.

© Barbara Schaefer

Bietet Wald Schutz? Was ist mit einer Spur entlang eines Baches? Ist es gefährlicher bei Sonne, bei viel Schnee, bei wenig Schnee? Es schießen einem immer mehr Fragen durch den Kopf. „Ihr müsst aufeinander achten“, schärft der Bergführer den Skitourengehern ein, „das Gelände beobachten, auf Alarmzeichen hören – wie das Wummern der Schneedecke.“ Ein gespenstisches Geräusch, das hörbar wird, wenn sich die Schneedecke setzt.

Wir gehen weiter. „Hände aus der Stockschlaufe“, sagt Angerer. „Sonst ziehen dich die Stöcke wie ein Anker nach unten.“ Und wenn doch eine Lawine abgeht? „Schussflucht!“, rät der Bergführer. Und wer nicht flüchten kann, solle mit den Händen vor dem Mund eine Atemhöhle bilden, „die kann die Überlebenschancen um wertvolle Minuten verlängern“. Zeit, die die Suchenden brauchen, bis sie den Verschütteten finden. Je mehr Angerer erklärt, um so mulmiger kann einem werden.

Warum sollte man sich das überhaupt antun? Wir machen Pause an einer Hütte. Davor eine Bank in der Sonne. Wenn mal keiner was fragt, merkt man, wie ruhig es hier ist. Winterstille. Nichts, einfach gar nichts ist zu hören. Gegenüber aber, am Schoberkogel, führt neuerdings eine hohe Hängebrücke vom Berg weg, dort sind alle, dort ist Halligalli. Dort ist normaler Skiwinter.

„Generell ist es nicht lebensgefährlich, in die Berge zu gehen“

Schön ist es, von all dem nichts mitzubekommen. Wie aber lässt sich dieser Tourenboom der vergangenen Jahre erklären? Immerhin werden pro Winter in Österreich 80 000 Paar Tourenski verkauft. Gerhard Angerer glaubt, die Menschen suchten „Abenteuer und Naturverbundenheit“.

Uns klingen noch Angerers Warnungen in den Ohren, die Berichte von Lawinentoten, die Bilder von gewaltigen Abgängen. Wir fragen: Wer traut sich überhaupt noch raus ins Gelände, wenn er die abschreckenden Details gehört hat? Der Bergführer antwortet pragmatisch. Es gebe diese Risiken nun mal, er und seine Kollegen wollten jedoch ein Bewusstsein dafür schaffen. „Schließlich ist es generell nicht lebensgefährlich, in die Berge zu gehen. Man muss nur wissen, was man tut.“

Nach gut drei Stunden sind wir an der Hagener Hütte angekommen. Puh, anstrengend war’s, aber herrlich ist es hier oben. Vor der Hütte ziehen wir die Felle von den Ski ab. Eine Glocke bimmelt. Wie bitte? In einem steinernen Mahnmal hängt sie. Die läutete der Wind für die Säumer, damit sie sich im Nebel nicht verirrten. Der ungeheizte Winterraum ist geöffnet, wir zerren unsere Daunenjacken aus den Rucksäcken, holen Vesperbrote und Thermoskannen heraus. Blick nach draußen, in die Winterlandschaft.

Und da ist weit und breit kein Mensch zu sehen, Skitourenboom hin oder her. Ach so, und es gibt ja noch einen Grund, diese Aufstiegsmühen auf sich zu nehmen: Wir packen alles wieder ein und treten vor die Tür. Die Sonne gleißt, wir steigen in die Skibindungen – und ab geht es, durch unberührten Tiefschnee, weit weg von Liften und Pisten.

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