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Abseits vom Rummel. Die Crew der „Kayhan 11“ sucht und findet immer wieder verschwiegene Buchten, wie die von Aglimani, um dort vor Anker zu gehen.

© Franz Lerchenmüller

Gulet-Kreuzfahrt: Wo Aphrodite einfach verschwand

Gulets, die türkischen Holzschiffe, sind elegant und überaus gemütlich. Durchs einstige Karien an der Südwestküste der Türkei fährt ein Archäologe mit.

Zumindest das Rätsel der steinernen Torte scheint gelöst. Der kreisrunde Fels in der Mitte zwischen dem römischen Theater, der Säulenhalle aus dem 4. Jahrhundert vor und der Kirche aus dem 6. Jahrhundert nach Christus, ist in 16 Segmente geteilt. „Ein Amussium“, sagt Julian Bennett. Es zeigt an, aus welcher Richtung die acht starken Winde wehen, und diente dazu, beim Bau der Stadt Kaunas die Ausrichtung der Straßen entsprechend festzulegen.

Ansonsten aber, haben die sieben Teilnehmer dieser Tour an der Südwestküste der Türkei in den vergangenen Tagen gelernt, ist die Archäologie eine Wissenschaft, die mit vielen „vielleicht, möglicherweise, anscheinend“ arbeiten muss. Der Konjunktiv hat Konjunktur, wer nur Fakten, Fakten, Fakten gelten lässt, wird öfter mal verzweifelt den Kopf schütteln.

Kaunas immerhin verrät nach vielen Grabungen doch einiges über sich: Es wurde von Griechen gegründet, die ältesten Teile des Theaters stammen aus dem 4. Jahrhundert vor Christus. Es verfügte über einen Kriegs- und einen Handelshafen, der heute fast verlandet ist. Eine alte Steuertafel besagt, dass man Fisch, Salz und Mastix exportierte, Harz des Mandelbaums, mit dem Wein haltbar gemacht wurde. In den Schilfflächen um den mäandernden Fluss, in denen 1950 Szenen des Films „African Queen“ mit Humphrey Bogart gedreht wurden, brüteten Mücken – ein Chronist berichtet von der „grünen Gesichtsfarbe“ der Bewohner, die häufig unter Malaria litten.

Schließlich beschwört Mister Bennet, der an der Universität in Ankara lehrt, im römischen Bad den Klangteppich, der einst hier geherrscht haben dürfte: Männer sangen lauthals, Wasser schwappte, Verkäufer priesen wortreich Leckereien an, und immer wieder brüllte jemand vor Schmerz, weil er sich, Schönheit muss leiden, gerade die Beinhaare mit einer Pinzette ausreißen ließ. Der englische Archäologe versteht es, einen Alltag, der 2000 Jahre zurückliegt, überaus lebendig wiederauferstehen zu lassen.

Straßen gab es damals wenige

Karien ist Thema dieser Reise, jene antike Region zwischen dem heutigen Göcek im Osten und Bodrum im Westen der Küste, in der etwa zwischen 1800 und 1200 vor der Zeitenwende das Volk der Karer lebte. Später wanderten Griechen ein und mischten sich mit ihnen, dann kam das Gebiet unter persische und schließlich unter römische Herrschaft – es war, was man ein Multikultigebiet nennen könnte.

Der englische Archäologe Julian Bennet kennt sich aus mit dem Alltag von vor 2000 Jahren.
Der englische Archäologe Julian Bennet kennt sich aus mit dem Alltag von vor 2000 Jahren.

© Franz Lerchenmüller

Passenderweise sind die Reisenden mit einem Gulet unterwegs, einem jener eleganten türkischen Holzschiffe, die schon im alten Karien gebaut wurden, und sie reisen auch so wie einst. Denn Straßen gab es damals wenige, der Seeweg war die bevorzugte Art des Fortkommens. Die Größe des Schiffes enspricht mit 34 Metern Länge in etwa der einer antiken Trireme, jenem Kriegsschiff, bei dem die Ruder in drei Reihen übereinandersaßen. Und wenn die „Kayhan 11“ abends wie ein halbes Dutzend anderer Gulets auch in einer der verschwiegenen Buchten liegt, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, eine kleine etruskische oder griechische Flotte wäre vor Anker gegangen.

Jeden Tag legt der Kapitän an einer anderen antiken Stätte an, und die Reisenden gehen an Land. Und jedes Mal erwartet sie eine neue Überraschung. Da ist Lydae, jenes Städtchen aus dem 3. Jahrhundert vor Christus, das immer noch zum größten Teil unter der Erde verborgen liegt. Die beiden Mausoleen, so viel steht fest, stammen aus späterer, aus römisch-byzantinischer Zeit.

Denn sie weisen Rundbögen auf – und die wurden erst von römischen Baumeistern erfunden. Mitten zwischen Steingräbern, Olivenbäumen und Säulenresten wohnt „Mr. Happy“, ein freundlicher türkischer Hirte mit seiner Frau. Er schenkt Salbeitee aus, verkauft aus Gräsern geflochtene Armbänder und achtet ansonsten darauf, dass niemand mit dem Metalldetektor über das Gelände geht und nach noch verborgenem Gold oder Bronze buddelt.

Bunte Scherben auf Schritt und Tritt

Viel besser erhalten und in ihren Strukturen deutlich erkennbar ist die Festung von Loryma, 410 vor Christus erstmals erwähnt. Eine breite Mauer mit zackigen Ausbuchtungen für Katapulte umschließt den Bergrücken, Rhodos liegt im Westen im Dunst. Von hier, kein Zweifel, ließ sich der Seeweg prima übersehen und auch beherrschen.

Auf dem Weg hinauf in die Berge nach Phoenix passieren die Reisenden eine halbwegs gut erhaltene, aber menschenleere Siedlung. „Nichts Antikes“, erklärt Julian. Es ist eines jener Dörfer, die 1923 verlassen wurden, als im Rahmen eines Abkommens 1,2 Millionen Griechisch-Orthodoxe aus der Türkei nach Griechenland und 400 000 Muslime aus Griechenland in die Türkei umgesiedelt wurden. Von Phoenix selbst ist nicht mehr geblieben als ein paar Mauerreste auf einem Hügel.

Ziegen weiden zwischen Johannisbrot- und Mandelbäumen, von denen Harz in dicken Blasen hängt. Wenig spektakulär wirkt dieses Ruinenfeldchen – bis Julian nachlässig mit dem Stiefel in einem Schutthaufen scharrt. Nacheinander entdeckt er den Boden einer Amphore, ein Stück „Terra nigra“-Keramik aus Italien und eine ölig schimmernde, türkisfarbene Scherbe. „Römisches Glas“, sagt er, ohne zu zögern. „Fände ein Archäologe in England binnen fünf Minuten drei solcher Stücke, würde er einen Luftsprung machen.“

Aufwachen und gleich eine Runde schwimmen

Handelsstraße. Ausgrabungen der alten Hafenstadt Knidos.
Handelsstraße. Ausgrabungen der alten Hafenstadt Knidos.

© imago

Die Wissenschaft und die Vergangenheit erlebbar zu machen, ist das erklärte Ziel des Veranstalters – ohne die Gäste freilich mit Wissen vollzustopfen. Mindestens ebenso großer Wert liegt auf Entspannung und Genuss. Die Reisenden erwachen vom Plätschern der Wellen und gleiten für eine erste Runde Schwimmen ins wohlig-warme Wasser.

Manche lesen ihre Bücher unterm Sonnensegel, während graue Felsen langsam vorüberziehen und die Maschine leise murmelt. Drei Mal am Tag treffen sie sich zu exzellenten Mahlzeiten mit mehreren Gängen – die verwöhnten Chirurgen, Rechtsanwältinnen und Versicherungsmakler aus Kanada und Australien kommen voll auf ihre Kosten.

Es wird viel gelacht und geredet, und häufig spielen die archäologischen Erfahrungen bei den Gesprächen eine Rolle. Wichtiger freilich als die endgültige Klarheit, ob die Felsengräber von Dalian eher aus dem 5. oder dem 6. Jahrhundert vor der Zeitenwende stammen, ist das grundsätzliche Verständnis, das sich nach und nach einstellt: wie in der Region die verschiedenen Völker im Lauf der Jahrhunderte aufeinander folgten. Wie sie sich bei den Ideen, den Stilelementen und dem Baumaterial ihrer Vorgänger bedienten, oder aber alles zerstörten und verwarfen. Und was für eine faszinierende, aber auch schwierige Wissenschaft Archäologie letztendlich ist.

Der Sockel, auf dem die Göttin wohl thronte, steht noch da

Knidos, wahrscheinlich schon im 12. Jahrhundert vor Christi Geburt von den Dorern gegründet, wird zum Höhepunkt der Reise. Rund drei Quadratkilometer der reichen Stadt wurden ausgegraben: ein altes und ein neues Theater, fünf Kirchen, eine mehr als 100 Meter lange Prachtstraße, an der entlang sich die Verschläge von Geschäften reihten. „Sie waren richtige Shopping-Queens“, sagt Julian lächelnd, „und sie hatten Geld. Geld aus dem Handel mit Öl und Wein.“

Im 4. Jahrhundert vor Christus blühten Medizin, Astronomie und Kunst in Knidos. Gerade zu jener Zeit beauftragten die Einwohner der Insel Kos den Bildhauer-Star Praxiteles, ihnen eine Statue der Aphrodite zu schaffen. Praxiteles formte zwei, eine bekleidete und eine nackte. Die Stadtväter von Kos, prüde, wie sie waren, entschieden sich für die Dame im Hemd. Und Knidos kaufte die andere. In weißem Marmor schimmernd soll sie über der Stadt gestanden haben, in der Hand ein Tuch, der vermutlich erste lebensgroße Akt in der Antike.

Von allen Seiten, heißt es, war sie zu sehen, von weither kamen Neugierige, um einen Blick auf die Schöne zu werfen. Man prägte Münzen mit ihrem Bild und fertigte Kopien an. Und nur deshalb ist heute noch bekannt, wie sie aussah. Denn irgendwann verschwand sie, und im 7. oder 8. Jahrhundert nach Christi Geburt wurde Knidos endgültig verlassen und vergessen. Geblieben ist zwischen den Überresten einer byzanthinischen Wasserleitung und den Trümmern filigran gemeißelter korinthischer Säulen der Sockel, auf dem die Göttin thronte – vermutlich thronte.

Jetzt sitzt ein junges Paar versunken darauf und teilt sich eine Flasche Bier. Die Abendsonne gießt goldenes Licht über die weißgrauen Trümmer rundum und lässt ahnen, wie extravagant der Anblick der Göttin einst gewesen sein muss. „Vom Weltwunder zum Geheimtipp – so vergehen Ruhm und Größe“, sagt Julian Bennett, der es wahrlich wissen muss.

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