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Keinen Bogen müssen Besucher um den (fast) autofreien Marktplatz von Greifswald machen. Absolut sehenswert!

© Uli Schulte Döinghaus

Spaziergang in Greifswald: Wo Caspar David Friedrich zeichnen lernte

Stolze Hansestadt: Greifswald hat einen hübschen Hafen, prächtige gotische Giebelhäuser und eine Türmerstube mit Ausguck.

Schiffe sind immer weiblich? Klar. „Queen Mary“, „Mayflower“, „Alouette“, „Lorelei“. Was aber, wenn ein Eigner seinen Anderthalbmaster „Alfred“ genannt hat? Liegt dann die „Alfred“ an der Kaimauer des Greifswalder Museumshafens vertäut, der „Alfred“, das Segelschiff „Alfred“? Über derlei maritime Sinn- und Seinsfragen lassen sich Einheimische, Studenten, Touristen und Skipper besonders im Sommer immer wieder gern aus, wenn sie die Treppen und Bänke vor den Liegeplätzen bevölkern.

Um es ein für alle Mal klarzustellen: Schiffe sind immer weiblich. Auch die „Alfreds“ der Seefahrt. Jetzt, im Früh-Frühjahr, werden derlei wichtige Dinge am Greifswalder Hafen nicht diskutiert, da sich Skipper und Landratten eher rar machen. Vielmehr rumpeln einheimische, meist junge Familien ihre Kinderwagen über Beton und Asphalt, manche flankiert von Kleinkindern, die ihre Tretroller bewegen wie einstmals Freiherr von Drais seine Draisine.

Der Pfad vom Museumshafen bis zum Nachbarort Wieck, wo die Ryck in den Greifswalder Bodden mündet, ist wahrscheinlich der beliebteste Spazierweg für alle, die in Greifswald etwas Zeit mitgebracht haben. Vor und hinter einem sechsstöckig aufragenden Backsteinspeicher, dessen Baufälligkeit das ortsansässige Wappentier Greif krönt, zeigen Architekten, was ihnen zum zeitgenössischen Wohnen am Wasser eingefallen ist. Die Ein- und Mehrfamilienhäuser am Fluss sehen nach beträchtlichen Mieten aus. Wie Denkmäler mit Ruten verharren Angler vor der Ryck. „Zander. Barsch“, antwortet einer unwillig, bevor er sich in die Bewegungslosigkeit zurückbegibt.

Im Sommer stehen die Gäste Schlange

Nach fünf, sechs Spazierkilometern ist ein Abstecher zur Ruine Eldena fällig, einem Ensemble aus backsteinernen Fragmenten. 1200 entstand dort ein Zisterzienserkloster, das nach der Reformation zerfiel. Caspar David Friedrich erhob die Ruinen zu Ikonen der Frühromantik. Die geheimnisvollen Klosterruinen nutzte der große Sohn der Stadt (1774–1840) als Vorlage in zahlreichen Gemälden. Aber nichts von seiner Magie spiegelt die Fassade der unweit gelegenen Caspar-David-Friedrich-Schule wider, einer klassischen, wenngleich sanierten „Platte“ im Greifswalder Ostseeviertel aus den 50er und 60er Jahren.

Das Ostseeviertel galt zu DDR-Zeiten als städteplanerisches Vorzeigeviertel und als Kampfansage an all den bürgerlichen Habitus, der sich in der Innenstadt der alten Hansestadt in Jahrhunderten breitgemacht hatte. Die „Friedliche Revolution“ machte Schluss mit Verfall und plattsozialistischer Schreckensarchitektur; Greifswald ist wieder wohnlich und ansehnlich.

Auf einem eigens ausgewiesenen Caspar-David-Friedrich-Bildweg kann man in und um Greifswald studieren, von welchen Stadt- und Landschaftssichten sich Caspar David Friedrich beflügeln ließ. Wo das 30-Kilometer-Flüsschen Ryck in den Greifswalder Bodden mündet, am Hafenausgang von Wieck, könnte eines seiner bekanntesten Gemälde geboren worden sein – „Die Lebensstufen“. An klaren Tagen lassen sich hier – durch die geschosshohen Fensterfronten des Cafés „Utkiek“ – nordöstlich die Umrisse von Rügen erahnen.

„Im Sommer“, sagt die gut gelaunte Serviererin Ramona, „stehen die Gäste in langen Schlangen an, um den Ausblick zu genießen.“ Jetzt, Ende Februar, ist reichlich Platz und Gelegenheit für einen kurzen Klönschnack. Die 25-jährige Brandenburgerin kellnert, um das Promotionsjahr ihres Medizinstudiums zu finanzieren. Ein bisschen betulich zum Leben sei Greifswald, doch fast ideal zum Studieren. Ramona steht mit ihrem Urteil nicht allein: An der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald sind derzeit 11 200 Studentinnen und Studenten eingeschrieben, fast viermal mehr als noch vor 20 Jahren.

"Niemals Lautsprechermusik zum Frühstück"

Kunst des Bildhauers Heinrich Zenichowski in Wieck
Kunst des Bildhauers Heinrich Zenichowski in Wieck

© Uli Schulte Döinghaus

Universität und Universitätsmedizin sind die wichtigsten Arbeitgeber in der Stadt. Der Wissenschaftsstandort Greifswald hat es in der jüngsten Zeit zu einiger Reputation gebracht, auch durch Ausgründungen von pharmazeutischen Start-ups und durch Forschungseinrichtungen. Unmittelbar im Schatten des Greifswalder Doms St. Nikolai ist zum Beispiel das „Alfried Krupp Wissenschaftskolleg“ entstanden – ein moderner Backstein-Stahl-Glasbau, in dem Geistes- und Naturwissenschaftler disputieren, forschen und arbeiten.

Nebenan entsteht hinter dem Fachwerk eines ehemaligen Wohnhauses für Pfarrerswitwen ein Gästehaus für die Wissenschaftler: Ein Blick ins entkernte Innere des Anwesens zeigt auch, wie aufwendig eine stadthistorische Rekonstruktion sein muss, wenn sie zugleich das Denkmal schützen und verwöhnten Professoren ein Obdach bieten soll. Bis es so weit ist, steigen die akademischen Gäste gerne im „Hôtel Galerie“ ab, wo sie umgeben sind von zeitgenössischer Kunst und selten gewordener Stille: „Niemals Lautsprechermusik zum Frühstück“, verspricht der Concierge und Philosophiestudent Georg Meier. Gut so!

Noch kurz vor seinem Tod 2013 sorgte der legendäre Krupp-Generalbevollmächtigte Berthold Beitz, der in der Nähe von Greifswald geboren wurde und gelegentlich im „Hôtel Galerie“ übernachtete, dafür, dass sich hier die Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung engagierte: Ein zeitgenössisches Wahrzeichen entstand, ziemlich genau im Kern der Altstadt und einen Steinwurf von Markt und Fischmarkt entfernt. Wo einstmals Hering und Dorsch verkauft wurden, gibt’s heute leider nicht mal eine simple Bude für Fischbrötchen. Wer frischen Fisch möchte, deckt sich am besten bei der Fischereigenossenschaft im benachbarten Wieck ein, die auch eine Gaststätte unterhält. Drei Heringe in süßsaurer Soße kosten rund acht Euro.

Bitte bücken!

Greifswalds historischer Fischmarkt an der Vorderseite des ochsenblutrot verputzten Rathauses aus dem 13. Jahrhundert ist zu einem der Lieblingsspielplätze für Kinder geworden, die waghalsig ein Fischerdenkmal umrunden und manchmal ins allenfalls kniehohe Wasserbecken abrutschen. Zum Aufwärmen bei einer heißen Tasse Kakao bieten sich gleich nebenan zahlreiche Kaffeehäuser an; eine „Erste Berliner Dampfbäckerei“ ist leider nur noch als historische Fassadenbeschriftung im Schuhhagen präsent. Darunter hat nämlich eine internationale Sandwichkette aufgemacht.

Das geistliche Zentrum der Stadt könnte der Dom sein, wenn auch nicht zurzeit. Im Inneren wird gerade hin- und hersaniert; die begehbaren Seitenschiffe sind mit protestantischer Pädagogik zugestellt, mit Tafeln, die von Pfarrhaushalten erzählen und von frommen Missionaren, die in Palästina unterwegs waren. Da bietet es sich an, den Domturm über 264 Treppenstufen zu wendeln, an einer Türmerstube vorbei, die wieder hergerichtet werden soll und steil über dem Glockenstuhl, in dem unter anderem eine 600 Jahre alte Franziskanerglocke bimmelt.

Bitte bücken! Die Türmer müssen fast kleinwüchsig gewesen sein, mancher Holzbalken scheint von Besucherblut gefärbt zu sein. Dafür bietet die Aussichtsplattform, mit einem Absperrgitter bewehrt, einen weiten Blick auf Bodden, Ryck und Boddenvorland – und eine Sicht auf die Altstadt, die fast zum Greifen nah erscheint.

"Ayers Rock" von Greifswald

Im Zentrum der Stadt breitet sich der Marktplatz aus, teils mit prächtigen gotischen Giebelhäusern, teils mit Häusern umgürtet, die dem hanseatischen Bauen nachempfunden wurden. Der autofreie Marktplatz ist ausladend groß wie drei, vier Fußballplätze – die wenigen Marktbuden, die jetzt, im Spätwinter, hier aufgestellt sind, werden in diesen kalten Tagen nur gelegentlich von Radfahrern passiert. Die Universitäts- und Hansestadt Greifswald rühmt sich, zu den radfahrerfreundlichsten Städten der Republik zu gehören.

In der Saison rollen hier manchmal Hundertschaften von Urlaubsradlern an, die von Usedom herüberkommen oder auf dem Ostseeküstenradweg unterwegs ist. Viele machen Rast vor dem Museumshafen, schauen auf das jenseitige Ufer, über dem sich kaum merklich hebt, was sie spöttisch das „Ayers Rock“ von Greifswald nennen, eine rekultivierte Deponie in den Konturen des australischen Monuments. Vertäut davor ankern historische Kutter und Segler. Unter anderem der, die oder das Alfred, dem sein Besitzer vor etwas mehr als 100 Jahren seinen oder ihren Namen gab.

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