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Wedeln statt wandern. Teile des Fernweges sind auch im Winter zu bewältigen. Des Skifahrers Lohn: unberührter Schnee.

© Schaefer

Tirol: Ein Wintertraum

Der Versuch, auf Skiern ein Stück vom Fernwanderweg München–Venedig zu bewältigen.

Man sehe sich einfach Tino und Cäsar an. Wer wissen will, wie verschieden die Glungezer und die Lizumer Hütte sind, muss nur einen Blick auf die beiden werfen. Tino, ein agiles Kerlchen mit kurzem Fell, springt sofort auf, wenn sich im Schneetreiben von draußen jemand der hoch gelegenen Glungezerhütte nähert. Kommt ein Fremder zur Türe der Lizumer Hütte herein, hebt Cäsar hingegen bestenfalls mal den schweren Kopf. Cäsar ist eine Bordeaux-Dogge und wiegt 75 Kilo. Das Fell hängt ihm in Falten ums Gesicht, Sabber tropft aus seinem riesigen Maul, sein Körper drückt auf die stämmigen Beine. Übrigens: Zur Lizumer Hütte kann man sich mit dem Taxi hinauffahren lassen. Ganz so weit haben wir es nicht kommen lassen.

Beide Hütten liegen oberhalb von Hall in Tirol, auf der südlichen Seite des Inntals. Im Sommer verbindet beide der Fernwanderweg München–Venedig. Um mir diese Route als Skitour zeigen zu lassen, treffe ich mich mit Benedikt Purner, 30 Jahre alt, Bergführer. Wir ziehen die Felle auf die Skier, mit ein paar Handgriffen ist das erledigt. Unsere „Felle“ sind blau und violett. Die Steighilfen sind längst keine mit Fischtran getränkten Robbenfelle mehr, sondern bestehen aus einem robusten Mohair-Synthetik-Mix.

Das Inntal verschwindet unter einer Wolkendecke, darüber zeigen sich im Norden kurz die Karwendelgipfel. Wir gehen los. Benedikt wählt nicht den Normalweg zur Glungezer Hütte. Er will über den Ostgrat aufsteigen. Während des steilen Aufstiegs erzählt er vom Skifahren am Glungezer. Der Gast muss gottlob nicht sprechen, der Weg ist anstrengend genug. Schon vor 100 Jahren sei der 2677 Meter hohe Glungezer ein legendärer Skiberg gewesen, schwärmt der Bergführer. Richtig populär wurde das Gebiet, als 1928 die Bahn auf den Patscherkofel oberhalb Innsbrucks fertig war.

Von dort musste man nur noch rüberqueren, und hatte dann eine der längsten Abfahrten Tirols vor sich. Da eine Stelle der Passage lawinengefährdet war, wurde eine mit Holz überdeckte Galerie gebaut. Später, auf der Hütte, finde ich in einem Buch ein Zitat der Skipionierin Alice Czelechowsky: „Ich war wohl die erste Skifahrerin, die um die Jahrhundertwende die winterliche Gipfeleinsamkeit genossen und am Glungezer ihre Gleise im unberührten Pulverschnee gezogen hat.“

„Samma wuide Hund gwesn“

Die Glungezer Hütte versteckt sich. Wie auch das Inntal und die Karwendelgipfel. Wie überhaupt die ganze Landschaft heute. Seit der Schäferhütte im Sattel haben wir fast nichts mehr gesehen. Schneetreiben setzt ein, der Wind hat die Schneedecke am Grat verblasen und gehärtet. Immer wieder rutschen die Ski ab, glücklicherweise gelingen die Spitzkehren noch. Endlich stapfen wir über gefrorenen Kompost und die geduckte Glungezer Hütte zeigt sich. Wir zerren die Türe auf. Tino bellt.

Ein Gast sitzt am Tresen. Er ist der einzige. Ein Hüttenangestellter schwatzt mit ihm, beide sind ältere Bergler. „Samma wuide Hund gwesn“ – das sind so die Themen an langen Hüttennachmittagen, wenn draußen alles weiß ist, die Landschaft nur eine Leinwand, unbemalt, blank. Wenn der Schnee allmählich die Fenster zuweht. Wenn sich vor der Türe Schneewächten bilden, hingewehter Pulver. Unberührter Pulverschnee, total unbrauchbar, weil man fast nicht vor die Hütte treten kann.

Sie erzählen, wie früher Haflinger Pferde Kohlensäcke auf die Hütte brachten. Aber manchmal kam ein Träger. Der schleppte zweimal am Tag 60, 70 Kilo auf dem Rücken herauf. So geht die Legende. Der Buhl Hermann war das, erzählen sie. Innbrucks berühmtester Bergsteiger, der zwei Achttausender ersterstiegen hat; hier habe er für den Himalaya trainiert.

„Geh’, mach mir no eins“, sagt der Gast zum Hüttenangestellten. Der schenkt noch ein Bier ein. An seiner rechten Hand fehlen Finger. Nein, nicht erfroren. Beim Holzspalten passiert, sagt er. Und wenn er schon dabei ist: Als junger Bub habe er sich das Nasenbein gebrochen beim Skifahren, schau her, ganz krumm ist die Nosn bliebm. Und ein paar Wochen später das Schlüsselbein. „Dös hab i der Mutter gar ned gsagt, sonst hätt sie mi nimmer rausglassen zum Skifahrn.“ Habe ihm halt zwei Wochen der Arm weh getan, schief sei es zammengwachsn. „Beim Barras hamses mir dann brechen wolln, damit es wieder grad is. Nix do, hab i gsogt. I ko olles doa damit, da wird nix brochen.“

Montags auf dem Glungezer

Benedikt Purner, Bergführer
Benedikt Purner, Bergführer

© Barbara Schaefer

Hüttenwirt Gottfried Wieser stellt hausgebackenes Walnussbrot hin. Im Hochsommer seien die 30 Schlafplätze der Hütte oft ausgebucht durch die Fernwanderer vom „München–Venedig- Traumpfad“. Benedikt Purner schaut sich in der Hütte um und sagt: „Ja, im Sommer sind hier heroben hauptsächlich Auswärtige, und im Winter fast bloß Einheimische.“

Skitourengehen ist anstrengender als wandern. Mir hat der Aufstieg zugesetzt. Benedikt erzählt dem Hüttenwirt, dass er sich am Tag vorher in der Kletterhalle „richtig verausgabt“ habe, und sagt dann: „Da war mir so ein Regenerationstag heute grad recht.“ Tja, so isses.

Als es schon dunkel ist, bellt Tino wieder. Ein junger Kerl kommt herein, durchtrainiert, schwarze Locken. Er bestellt einen Teller „Kathmandu-Spaghetti“ mit Ingwer, Chili, Knoblauch, Kurkuma und dazu ein dunkles Weißbier. Montags gehe er oft abends auf den Glungezer, sagt er. Denn montags, so wurde es mit der Liftgesellschaft vereinbart, soll die Pistenraupe nicht vor zehn Uhr fahren, und so können Skitourengeher an der Piste entlang aufsteigen. Allein: Die Raupe war schon zugange. Diese wird am Steilhang in ein Drahtseil eingehängt – und wer diesem in die Quere kommt, begibt sich in Lebensgefahr. Alle in der Hütte schimpfen, dass die Liftgesellschaft sich nicht an die Verabredung halte.

Im Matratzenlager sind die Decken akkurat gefaltet, die rot karierten Kopfkissen mit Handkanten-Knick ordentlich darauf gestellt. Jetzt habe ich zwei Decken ausgebreitet, das mit „Fussende“ beschriftete Ende genau dort, an den Füßen. Ich krieche in den Hüttenschlafsack, eine Hülle aus Baumwolle, die die Gäste von zu Hause mitbringen. Tino bellt noch einmal. Stimmen sind zu hören. Wohl ein weiterer Gast. Draußen ist es finster, der Wind bläst. Gute Nacht.

Kein Panorama, keine Sicht, keine Orientierung

Beim Frühstück von anderen Gästen keine Spur. Sie sind im Dunkeln mit Stirnlampen abgefahren. Herrjeh! Die Überschreitung zur Lizumerhütte sei „wirklich schön“, sagt Benedikt: unbekannt, wild, und immer wieder tolle Ausblicke. Er gehe die Tour immer Ende Dezember mit Freunden. Alle seien von der Fortbewegung auf dem Grat fasziniere. „Man stapft nicht einfach einen Hang hinauf, es erwartet einen ein abwechslungsreicheres Gelände, rauf und runter, immer am Grat entlang.“ Eine richtig alpine Unternehmung sei es. Und man muss auch selbst spuren. Das hat für Benedikt etwas Positives. „Es ist halt keine Autobahn, die da hinauf führt.“ Hüttenwirt Wieser fügt an: „Da oben, das ist Kanada-verdächtig. Fantastisches Skigelände.“

Von all dem ist nichts zu sehen. Schneetreiben, kein Panorama, keine Sicht, keine Orientierung. „Die Überschreitung macht heute keinen Sinn“, sagt Benedikt. Es ist sehr freundlich vom Bergführer, das so zu formulieren. War doch schon längst klar, dass die Kondition des Gastes für acht, neun Stunden auf Ski, immer am Gipfelgrat entlang, für immer wieder Auffellen und Abfellen, nicht reichen würde. Sogar Gottfried Wieser, der ausschaut wie Papa Hemingway, geht nur einen Schritt vor die Tür, Tino weigert sich. Wir fahren ab, zurück ins Tal.

Und machen es so, wie manche Wanderer des „Traumpfads“: Wir fahren ein Stück. Benedikts weißer Transporter bietet Platz für viele Ski, Schuhe und für eine Matratze auf Holzbrettern. Zum Klettern fahren, und dann einfach irgendwo schlafen, wenn man müde ist – „das ist Freiheit“. Ein gutes Leben also, das Leben als Bergführer? Ja, sagt Benedikt. Wenn gutes Leben nicht bedeute, viele Dinge haben zu wollen.

Wir parken im Wattental. Hier beginnt militärisches Sperrgebiet, das ganze Tal ist ein hochgelegener Truppenübungsplatz. Der Aufstieg geht durch den Wald. Auf der nahen Straße fährt ein Militär- Jeep vorbei. Wir passieren ein seltsam verlassenes Dorf, das Hochlager des Heeres. Schließlich: die Lizumer Hütte. In der Stube hebt der kalbsgroße Cäsar kaum den Kopf. Eine turbulente Gruppe aus Holland hat einen Tisch besetzt, eine andere kommt aus Dortmund. Sie tragen alle Brustbeutel, südliches Ausland eben.

Im Sommer kommen eher Deutsche

Wie grundverschieden die Glungezer und Lizumer Hütte sind, lässt sich auch an den Hüttenwirten erkennen. Während der graubärtige Gottfried Wieser zuletzt als Consultant arbeitete, leise aber eloquent mit den Gästen spricht, ist Anton Nigg von der Lizumer Hütte ein rechter Knurrkopf. Er antwortet sparsam, manchmal ruppig. Für den freundlichen Umgang mit den Gästen wirft sich seine Frau ins Zeug. Sie stammt aus Südkorea, ihre Heimatstadt Taiwan vermisse sie „niemals“, wie sie sagt.

Rund 3000 Fernwanderer kommen im Sommer, rufen schon mitten im Winter an und reservieren im Voraus. Hauptsächlich Deutsche, erzählt Nigg. „Wir Tiroler machen andere Touren“, sagt Benedikt. „Wir wohnen ja schon mittendrin, wir müssen nicht so weit wandern.“ Er suche sich „immer mal so Projekterl“. So saß er im Sommer auf seinem Balkon und entwarf den 360-Grad-Plan: Alle Gipfel, die rundum zu sehen sind, zu besteigen. Und? „Ja, das hab’ ich abgeschlossen. Weil, wir sind dann umgezogen – und dann geht es ja von vorne los.“ Fernwandern hingegen passe zur deutschen Mentalität: „Man macht einen Plan, und dann wird ordentlich Etappe für Etappe durchgezogen.“

Im Winter wird der Fernwanderweg kaum angegangen. Außer der Glungezer und der Lizumer Hütte gibt es auch keine Anlaufpunkte. Viele Passagen sind objektiv gefährlich. Vor einigen Jahren hat es ein Münchner mit Schneeschuhen versucht. „Der war sportlich, kannte sich gut aus. Aber er kam in Südtirol in einer Lawine ums Leben“, erzählt Benedikt.

Wir haben am kommenden Tag nichts Großes mehr vor, steigen auf zum Klammjoch. Das Wetter ist so, dass auch geschundene Städter alle Mühen und Plagen vergessen. Die Sonne knallt, alles rundum liegt frisch verschneit vor uns. Wir stehen bald in der Unbenannten Scharte, blicken zur Mölser Sonnenspitze. Und es entspinnt sich noch ein schöner Dialog mit anderen Tourengehern: „Aui?“ – „Na, oa!“ Und so geht es zu Tal, durch unverspurten Schnee.

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