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Platz da! Selbst die Kapazität der Kanäle ist in Venedigs Hochsaison am Limit. Am Markusplatz ist dann sowieso kein Durchkommen mehr.

© Manuel Silvestri/Reuters

Tourismus als Bedrohung: "Wir morden unsere Städte"

Schon frühe Reisende priesen Venedig als einen Ort voller Schönheit, Romantik und Melancholie. Was blieb davon übrig? Ein Gespräch mit dem Archäologen und Kunsthistoriker Salvatore Settis (74) über Massentourismus, verkaufte Traditionen und die Hoffnung auf Einsicht.

Salvatore Settis, Sie gelten als das Gewissen der Provinz Reggio Calabria. Jetzt beklagen Sie sich über den Ausverkauf der Städte. Was meinen Sie damit?

Es ist mehr als eine Klage. Ich versuche, Leute zum Nachdenken zu bringen, um zu erkennen, was in Städten geschieht.

Was stört Sie besonders?

Drei verschiedene Phänomene sind in Städten überall in der Welt zu verzeichnen. Die Vertikalisierung der Städte, das heißt: die Mode, Wolkenkratzer zu bauen. Dann das Wuchern der Städte, das Schaffen von Megalopolis. Und drittens: die Grenzen innerhalb der Städte, das heißt die Bezirke für die Reichen und die Slums für die Armen. Und in meiner „Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte“ nehme ich Venedig als ein Beispiel für diese Entwicklung.

Der Tourismus spielt dabei eine herausragende Rolle, sagen Sie. Sie bezeichnen den Tourismus als Monokultur. Was meinen Sie damit?

Es wird behauptet, der Tourismus sei die einzige Einnahmequelle. Eine Folge davon: Die Stadt verliert immer mehr Einwohner. Venedig leert sich. Viele Palazzi und Apartments sind mittlerweile Zweitwohnsitze für Leute, die ganz woanders leben. Wie zum Beispiel Woody Allen, der einen Palazzo am Canal Grande besitzt. Aber er wohnt da vielleicht ein oder zwei Tage im Jahr. Eine Stadt, in der keine Bürger mehr leben, ist nicht länger eine Stadt. Wer bleibt, sind die Touristen. Davon kommen Jahr für Jahr acht Millionen nach Venedig. Das heißt: Auf jede Person, die dauerhaft in Venedig lebt, kommen rund 600 Touristen.

Was hat der Tourismus mit dem realen Leben zu tun?

Der Tourismus ist ein sehr wichtiger Teil des realen Lebens. Doch es hat ein gewaltiger Wandel stattgefunden. Früher konnten sich eine Weltreise nur sehr privilegierte, wohlhabende und kultivierte Leute leisten. Heute haben wir den Massentourismus. Der ist vollkommen anders.

Salvatore Settis
Salvatore Settis

© Stefan Berkholz

Aber er ermöglicht eben auch ärmeren Schichten, etwas von der Welt zu sehen.

Ja, aber die Reiseagenturen treiben die vielen Leute immer zu denselben Orten. Also nicht nur nach Rom, Florenz oder Venedig, die die wichtigsten Ziele in Italien sind. Sondern eben auch innerhalb der Städte, also beispielsweise in Venedig immer nur zum Markusplatz und etwas drumherum. Den Touristen werden Orte gezeigt, die sie bereits kennen und die sie nicht überraschen. Es wird ihnen beispielsweise keine Möglichkeit gegeben, über den Unterschied zwischen ihrer eigenen Kultur und der Kultur – sagen wir von Venedig – nachzudenken. Und die meisten Touristen bleiben in Venedig ohnehin weniger als einen Tag!

Wollen Pauschaltouristen heutzutage überhaupt noch nachdenken? Wollen sie etwas entdecken? Oder wollen sie sich bloß amüsieren?

Ich denke, dass der Mensch es mag, zu denken. Das Denken ist doch ein erfreulicher Teil menschlichen Daseins. Aber es wird immer seltener angeregt. Gerade in Italien gäbe es für die öffentlichen Institutionen die Möglichkeit, den Touristenstrom zu leiten und zu weniger bekannten und weniger überlaufenen, aber ebenso schönen Orten zu führen, beispielsweise nach Verona oder Vicenza oder Padua.

Wer verdient eigentlich am Massentourismus mit Kreuzfahrtschiffen? Kommt davon etwas in den Städten, bei den Einheimischen an?

Ich zitiere in meinem Buch einen italienischen Journalisten, der das untersucht hat. Er stellte fest, dass die Umweltschäden die Einnahmen für die Stadt bei Weitem übertreffen. Die Kreuzfahrtschiffe lohnen sich also nur für die Schiffseigner.

Was können wir tun, um Städte zu rekultivieren?

Was wir vor allem wieder lernen müssen, ist, das historische Gebilde einer Stadt zu bedenken, nicht etwa als Last, sondern als wichtigen, wahrhaftigen Bestandteil des Lebens in einer Stadt. Die Geschichte einer historischen Stadt ist das Gedächtnis, das individuelle Gedächtnis von jenen, die in ihr leben. Und Venedig ist kostbar und einmalig, „natürlich“ autofrei und höchstes Sinnbild für den menschengerechten Zuschnitt einer historischen Stadt.

Was meinen Sie mit dem „frenetischen Rhythmus der Tourismusindustrie“, wie es einmal in Ihrer Streitschrift heißt?

Der Tourismus ist als gesellschaftliche Pflicht erdacht, eine Reihe von Orten kurz hintereinander zu sehen. Deshalb hat sich der Tourist sehr rasch von einem Ort zum anderen zu bewegen. Sie können gar nicht innehalten und sich fragen, warum gehen wir jetzt durch diesen Palast in Venedig? Was bedeuten diese vier Bronzepferde von San Marco? Wo kommen sie her? Es bleibt einfach keine Zeit. Die Touristen bekommen nur einen allgemeinen Eindruck, aber es vervollkommnet nicht ihre Sicht auf die Welt.

Sie schreiben in Ihrer Streitschrift von „überfallartigen Stippvisiten“ und sagen zum Beispiel auch, dass dieses wilde Fotografieren vor den sogenannten Sehenswürdigkeiten kein kulturelles Interesse weckt und auch keine Erinnerung archiviert. Diese Klick-Klack-Fotos „ersetzen den Blick und das Gedächtnis“, schreiben Sie.

Ich denke, wir sollten den Tourismus gewissenhafter organisieren. Heute ist es doch so, dass viele Touristen in der Hetze rund um die Welt gar nicht mehr wissen, wo sie sind. Sie schauen dann beispielsweise nur auf ihren Reiseplan und entdecken: Ah, es ist Dienstag, dann befinden wir uns wohl hier gerade in Belgien. Denn gestern, Montag, waren wir in den Niederlanden, und morgen, Mittwoch, werden wir in Luxemburg sein. Das meine ich mit frenetischem Rhythmus der Tourismusindustrie.

„Wer ist es aber, der die historischen Städte mordet?“, fragen Sie am Ende Ihrer „Streitschrift“. Welche Antwort geben Sie?

Die Antwort ist, dass wir alle sie morden. In dem Sinne, dass wir – als Bürger – uns nicht genügend darüber im Klaren sind, was geschieht.

Sie sprechen von der Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit.

Architekten verraten ihre Ideale, obwohl sie wissen, dass einiges falsch läuft. Sie wollen Aufträge bekommen und wenn ihnen jemand sagt, bau mir einen Wolkenkratzer auf dem Markusplatz, dann werden sie es tun, denn sie erhalten eine Menge Geld dafür. Und natürlich müssten die öffentlichen Einrichtungen und Verwaltungen ihren Auftrag ernst nehmen, um künftigen Generationen eine schöne und nicht eine verunstaltete Welt zu hinterlassen.

Sie schreiben in Ihrer „Streitschrift“ von Korruption und Misswirtschaft und Raffgier, die all diese Wünsche für die Zukunft zunichtemachen. „Wir wären fähig, die Sonne und die Sterne abzuschalten, weil sie keine Dividende erwirtschaften“, zitieren Sie einen Ökonomen. Haben Sie die Hoffnung, dass ein Wandel eintreten könnte?

Ja, die habe ich. Ich bin sehr optimistisch. Die Dinge laufen in einer solch verkehrten Weise – da muss ich einfach optimistisch sein, dass sich etwas wandeln wird. Die einzige Frage ist, ob ich es noch erleben werde oder nicht.

Salvatore Settis: Wenn Venedig stirbt. Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte. Aus dem Italienischen von Victoria Lorini. Wagenbach Verlag. 160 Seiten, 14,90 Euro

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