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Die Magie der Berge. Ein paar Schneefelder zeugen noch vom vergangenen Winter, die meisten wird die Sonne jetzt wegschmelzen. Doch einige, im Schatten gelegen, werden den Sommer überdauern.

© Barbara Schaefer

Italienische Seealpen: Der Lohn der Kondition

Am Gipfel funkeln die Sterne, unten liegt das glasklare Meer: Eine Wanderung vom Jagdgebiet des italienischen Königs bis hinab nach Ligurien.

König Vittorio Emanuele II. war viel in den Bergen, aber ein großer Wanderer soll er nicht gewesen sein. „Dafür ein um so größerer Jäger und Schürzenjäger“, sagt Roberto Pockaj, Wanderführer in den Seealpen, den Alpi Marittime. 1855 kam Vittorio Emanuele das erste Mal in das Gebirge. Damals war er schon König, aber noch nicht von ganz Italien, sondern von Piemont und Sardinien. Sein Volk war bitterarm, vor allem in den damals überbevölkerten Tälern.

Zehn Monate im Jahr sind die hohen Pässe kaum passierbar, es gibt keinen Weg ans Meer, in den Süden, zum Reichtum verheißenden Salz, zu Fischen, zu Anbauflächen in milderem Klima. Die Gemeinden witterten ihre Chance in der Jagdleidenschaft des Königs, sie übereigneten ihm die Wälder als Königliches Jagdgebiet.

Der Steinbock trägt Tarnung

Allein 300 Treiber waren nun nötig für die Gamsjagd. Die Männer zogen lärmend durchs Tal, die Tiere flüchteten in die Höhen, und irgendwo oben verbarg sich „Vittorio“. Dort hinauf ist er zu Pferde gelangt, dafür wurden Wege angelegt und somit die Grundlage des heutigen Wanderwegenetzes in der Umgebung von Valdieri geschaffen. Hier erkunden wir Abschnitte eines sechzehntägigen Weges von den Seealpen hinunter ans Meer.

Wir starten am ehemaligen Jagdhaus des Königs, steigen steil hinauf im Valle Scura. Über ein Schneefeld schreiten Gämsen, und an einer Militärbaracke steht ein Steinbock; sein braun geschecktes Fell wirkt wie ein Tarnanzug vor der verwitterten Mauer, erst als er sich wegdreht, bemerken wir ihn.

Die Berge streben düster gen Himmel, der rot-schwarze Gneis wirkt bedrückend. Wassertropfen benetzen die grünen Flechten auf den Felsen. Weiter geht es auf der alten Militärstraße, das königliche Jagdhaus ist schon nicht mehr zu sehen, Wolken hängen dort unten, wie ölgetränkte Wattebäusche.

Normale militärische Paranoia

Auf der Passhöhe, der Colle di Tenda, pfeift ein eisiger Wind um bröckelndes Mauerwerk. Hier, in der baumlosen Ödnis, entlang der französisch-italienischen Grenze verläuft ein Verteidigungswall von nun verlassenen Kasernen und Forts. Die breiten Militärwege sind akkurat gepflastert und mühen sich im Zickzack die Berge hinauf. Angelegt wurden sie 1909, und später, in den 1930er Jahren ausgebaut.

Aber warum? So sehr wir auch Wanderführer Roberto Pockaj oder Nani Villani, Vizedirektor des Naturparks, löchern, so recht erklären kann es keiner. Frankreich und Italien lagen nicht miteinander im Krieg, wer befürchtete was von wem? „Normale militärische Paranoia“, lautet noch die klarste Antwort.

Die Stimmung ist kafkaesk wie in Dino Buzzatis "Tartarenwüste"

Pigna. Das Dorf mit den typischen Gassen spiegelt den Charme Liguriens.
Pigna. Das Dorf mit den typischen Gassen spiegelt den Charme Liguriens.

© Barbara Schaefer

Der Spuk erinnert an ein Meisterwerk der italienischen Literatur, an Dino Buzzatis „Tartarenwüste“. Der norditalienische Autor und begeisterter Alpinist Buzzati schickt in seinem 1940 erschienenen kafkaesken Roman den Offizier Drogo an einen „toten Grenzabschnitt“: Nach einem zweitägigen Ritt erreicht Drogo die Festung in den Bergen. „Rechts und links zogen sich, soweit das Auge reichte, zerklüftete, anscheinend unzugängliche Gebirgsketten hin.“

Abweisend steht das Fort auf der Passhöhe, „nackt und gelblich erstreckten sich seine Mauern“. Drogo will auf keinen Fall länger als vier Monate bleiben und wird fast sein ganzes Leben lang ausharren, immer in Erwartung eines Angriffs der Tartaren. Wer wie wir heraufgewandert ist auf den Colle di Tenda wähnt sich in Buzzatis Welt. Auch im Roman ist das Fort ein „aberwitziges Meisterwerk“, um einen Pass zu bewachen, „über den keine Menschenseele kam“.

Graupensuppe, Gulasch und Polenta

Wir wandern weiter. Am späten Nachmittag erreichen wir das Rifugio Questa. Hüttenwirt Flavio, eine rote Wollmütze auf dem Kopf, steht davor und ruft uns ein freundliches buona sera zu. Die Hütte ist in die Jahre gekommen, auf kleinem Raum stehen Resopaltische, an der Wand hängt ein graues Wahlscheiben-Telefon.

Flavio serviert nach der Graupensuppe Gulasch mit Polenta und stellt eine Karaffe Rotwein auf den Tisch. Draußen verschwinden die Berge in diffuser Nacht. Seit 26 Jahren lebt Flavio den Sommer über in der baumlosen hochalpinen Welt. Vermisst er etwas? „Die Ruhe“, sagt er. Zu viele Wanderer, sagt er knurrig. Wir hatten den ganzen Tag nicht einen getroffen.

Der Morgen hat die Wolken weggewischt, ein kristalliner Bergtag liegt vor uns, wir ziehen weiter nach Süden. An diesem heißen Tag werden einige von uns in einem See schwimmen, an dessen Rändern noch Schnee liegt, wir werden uns nicht sattsehen können am Dreitausender Monte Argentera, dem höchsten Berg im Naturpark und wieder erfüllt sich, was Dino Buzzati in einem Essay zum Alpinismus formulierte: „Ist es nicht wundervoll, dass uns der Zauber der Alpen so viele Freuden, soviel Jugend, Gesundheit, Poesie, und so viele glückliche Illusionen gegeben hat?“

"Hier bei uns ist es ja auch nicht schlecht"

Wir werden das Lunchpaket mit kaum sättigendem Weißbrot an einer roten Blechhütte verzehren, dem Bivacco Guglia, eine stumpf wettergegerbte Notunterkunft aus Metall. Frankreich ist zum Greifen nah. Auf der anderen Seite liegt der Nationalpark Mercantour, während wir im italienischen Naturpark wandern. Beide Parks bewerben sich gemeinsam für die Auszeichnung als Unesco-Weltnaturerbe.

Nani Villani vom italienischen Park erklärt, warum das für sie wichtig sei: In Italien fehlt seit Berlusconis Misswirtschaft Geld für alles, für Kultur und für die Natur. Die lokalen Behörden hätten noch nicht erkannt, welch einen Schatz die abgelegenen Täler bergen. „Die Biodiversität ist enorm, auf kleinstem Raum leben Pflanzen und Tiere vom hochalpinen Habitat bis hinunter zum Mittelmeer.“ Mit einer Unesco-Auszeichnung können sie den Park vor Ort leichter verteidigen – und besser schützen.

Um diesen Reichtum zu vermitteln, haben sie mit den Franzosen zusammen den Wanderweg geplant. Villani schaut noch einmal auf den Monte Argentera. Als Journalist eines italienischen Bergsteiger-Magazins ist er viel in der Welt herumgekommen, „ich war im Himalaya, in Patagonien, und jedes Mal, wenn ich zurückkomme, denke ich: Also hier bei uns ist es ja auch nicht schlecht.“

Am Ende singen alle das Partisanenlied

Erfrischung in Sichtweite: das Mittelmeer bei Ventimiglia.
Erfrischung in Sichtweite: das Mittelmeer bei Ventimiglia.

© Barbara Schaefer

In der Don-Barbera-Hütte wird Rotwein ausgeschenkt. Das erleichtert das Singen, als Naturpark-Ranger Eric seine Gitarre holt. Er gibt den Adriano Celentano, die ganze Hütte singt, und am Ende folgt „Bella Ciao“, das Lied der Partisanen. Man kann davon ausgehen, dass dies auch zur Zeit der Faschisten in den Bergen inbrünstig gesungen wurde.

In Valdieri, wo unsere Reise begann, gründeten Söhne der angesehenen Familie Bianco eine Partisanengruppe, die sich oft in den Bergen versteckte. Es mag Zufall sein, aber die gesamte Küchenbrigade der Hütte kommt dazu, alle stehen am Tresen, singen mit.

Danach scheucht uns der Wirt hinaus, nun sei es aber gut, Hüttenruhe. Wir spazieren in der Nacht noch auf einen Hügel, Eric und seine Gitarre und wir, ein paar Wanderer aus Deutschland, stehen unter der Milchstraße, Wetterleuchten am Horizont. So viel Schönheit ist kaum auszuhalten.

Wie zwei Züge schoben sich die Kontinentalplatten aufeinander

Am nächsten Morgen dann, im Parco Naturale del Marguareis, sind die dunklen Gneisberge der Seealpen fern, wir wandern an Kalkgestein entlang, einmal durch eine schiere Mondlandschaft, eine Hochebene voll blendenden Gesteins, wie Buzzatis „Tartarenwüste“: „Und hinter den Felsen, wie ist es dort? – Sie sagen, es gebe dort nur Steine, eine Art von Wüste, weiße Steine, als ob dort Schnee läge.“

Selbst hier gedeihen Pflanzen. Dieses weiße Blümchen etwa, das eigentlich nur in Skandinavien wachse, sagt Pockaj. Wie zwei Züge, die sich bei einem Aufprall ineinander verkeilten, so hätten sich die afrikanische und die europäische Kontinentalplatte aufeinander geschoben, deshalb die Vielfalt. Ein Wimpernschlag dagegen der Zeitraum, in dem die Grenze zwischen Frankreich und Italien gezogen wurde.

Wir wandern jetzt auf den letzten Ausläufern der Alpen und glauben schon, das Meer riechen zu können. Lavendel- und Thymianduft steigt uns in die Nase. Der Süden ist nah. Die Abende verbringen wir nun in ligurischen Dörfern. Wir spazieren durch enge Gassen, die Orte wie Festungen ... Uns aber treibt nun die Sehnsucht zum Meer.

Die uralten Terrassen sind halb überwuchert

In Pigna heißen die Gassen „chibi“ (dunkel). Auch tagsüber brennen Laternen mit gelblichem Licht. In Apricale trotzt die erste mächtige Palme den Kiefern und Steineichen des Hinterlandes. Wir bewundern siebenhundert Jahre alte Fresken in der Kirche Santa Maria degli Angeli und fragen uns, wie so zart gestaltende Künstler in diese bäuerlichen Täler kamen. Wir wandern auf einem schmalen Pfad nach Airole, brauchen lange, weil wir Pflaumen von Bäumen pflücken. Die stehen verlassen auf uralten, halb überwucherten Terrassen. Die Bauern haben aufgegeben, sie zu bestellen.

Wir baden in einer grünen Grotte, eine überwucherte Zisterne, zu der uns Roberto Pockaj führte. Am Abend besuchen wir in Airole Dino Masala, der sein Geld als Bauunternehmer im nahen Nizza verdient, in seiner Freizeit aber Weinbauer ist. Jetzt kümmert er sich um den Rossese, eine einheimische rote Traubensorte, deren Rebstöcke auf wiederbelebten Terrassen stehen.

Dann geht es nur noch bergab. An Reihen von Gewächshäusern vorüber, den Resten der einst legendären Riviera dei Fiori, wo nun kaum noch Blumen gezüchtet werden, sondern pflegeleichte Kakteen und Fettgewächse. Eine Autobahn legt sich dem Weg noch quer, dann spazieren wir in Grimaldi di Ventimiglia durch einen Tunnel unter der Eisenbahn – und sind am Meer.

Und Roberto Pockaj, geboren in Genua und in die Alpi Marittime geflüchtet, weil er Hitze nicht aushält, unter 1000 Metern Höhe mürrisch und das Meer nicht mag, zieht seine Wanderschuhe aus und streckt die Zehen ins Wasser. Wir hingegen liegen lange im glasklaren Wasser und schauen zurück, nach oben, wo im diesigen Blau des Himmels die Berge nur mehr zu ahnen sind.

Tipps für die Seealpen

ÜBERNACHTEN

Das Rifugio Questa liegt auf 2388 Metern im Parco Naturale delle Alpi Marittime. Geöffnet: Mitte Juni bis Mitte September. Einfache Unterkunft, fantastisches Panorama.

Das Rifugio Don Barbera (auf 2079 Metern) befindet sich im Parco Naturale del Marguareis.

UNTERKUNFT IM TAL

Im etwas verwohnten, aber eindrucksvollen ehemaligen Kurhotel Terme di Valdieri kostet die Übernachtung mit Halbpension 99 Euro.

LITERATUR

Dino Buzzati: „Die Tartarenwüste“ (erstmals erschienen 1940), verschiedene Ausgaben, etwa in Die Andere Bibliothek, 34 Euro.

W. Bätzing, M. Kleider: „Die Seealpen“ – Naturpark-Wanderungen zwischen Piemont und Côte d’Azur. Rotpunkt-Verlag, 18 Euro.

AUSKUNFT

parks.it/parco.alpi.marittime und parcomarguareis.it

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