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Schwindelerregend: Die Fahrt mit den schmalen Booten durch die Rinne des Pontcysyllte-Aquädukts ist im wahrsten Sinne der Höhepunkt einer Kanaltour in Wales.

© Axel Baumann

Wales: Mit der Königin zum Wasserfall

Der Westen Englands ist wie geschaffen fürs gemütliche Trödeln. Eng sind die Kanäle, doch ein Hausboot passt gerade noch durch.

Die „Queen“ ist kein leichtes Mädchen. Stolze acht Tonnen bringt sie auf die Waage. Zudem ist sie noch ziemlich langsam. Mit nur drei Kilometern pro Stunde trägt uns der Stahlkoloss durch das träge braune Wasser des „Monmouthshire & Brecon“-Kanals in Wales. Da ist es ratsam, die „Queen“ behutsam zu bewegen, Untiefen des 56 Kilometer langen Wasserwegs legen es nahe. Kleine Kursabweichungen – und schon droht eine Sandbank, denn der Kanal ist kaum einen Meter tief.

Gerade erst haben wir uns an den Linksverkehr auf britischen Straßen gewöhnt, und nun das: „Auf Gewässern fährt man weltweit rechts, also linksseitig oder Backbord an Backbord aneinander vorbei. Das gilt auch fürs Vereinigte Königreich“, sagt Nigel Curtis von Road House Narrowboats in Gilwern nördlich von Cardiff.

Die kleine Marina nahe der Brücke 103 gibt es seit 1892. „Es ist das älteste Narrowboat-Unternehmen am Kanal“, erzählt Nigel. Gemeinsam mit seiner Frau Sally führt er den Betrieb mit vier Schiffen. Die Kanal-Enthusiasten gaben dafür ihre stressigen Jobs in Bournemouth in Südengland auf. Die langen, schmalen Hausboote (Narrowboats) lassen sich zwar ohne Bootsführerschein fahren, doch eine einstündige Einweisung ist zumindest für Neulinge erforderlich.

Schleusen ist dead easy (kinderleicht)

Die erste Erkenntnis: Auf einem Narrowboat gibt es weder Steuerrad noch Joystick, keine Anzeigen für den Abstand zwischen Schiffsboden und Grund oder die Geschwindigkeit. Am Heck befindet sich lediglich eine lange Eisenstange, die Ruderpinne. Eine Ein-Hebel- Schaltung mit Vorwärts- und Rückwärtsgang sowie Leerlauf steuert den Dieselmotor. „Man fährt nach Gefühl. Schwappen Wellen ans Ufer, seid ihr zu schnell“, erläutert Nigel. „Das Schleusen ist dead easy (kinderleicht). Wenn ihr wisst, wie man eine Badewanne füllt und entleert, dann habt ihr das Prinzip schnell verstanden.“

Stirnrunzeln. Doch Nigel verspricht, an Ort und Stelle zu sein, wenn wir nach vier Stunden die erste von fünf Schleusen erreichen. Erleichterung. So, wie sieht es denn an Bord aus? Eingerichtet ist das Schiff wie ein Wohnwagen – bei elf Meter Länge und zwei Meter Breite. Vier Personen finden einen Schlafplatz. Es gibt ein feststehendes Doppelbett, ein kleines Bad, eine komplett ausgestattete Küche, dahinter eine Sitzecke, die abends zu zwei weiteren Betten umfunktioniert werden kann.

Die zahlreichen Kanäle in Großbritannien stammen aus der Zeit der industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts. Thomas Dadford jun. ist der Erbauer des „Monmouthshire & Brecon“-Kanals. Gemeinsam mit seinem Vater und zwei Brüdern war er für die Konstruktion diverser Wasserstraßen in Wales verantwortlich.

Pferdebahnen brachten aus den umliegenden Zechen und Wäldern Kohle, Kalkstein, Erze, Schiefer und Holz zu den Kanälen. Die Narrowboats, die einst getreidelt wurden, transportierten die Güter dann in die größeren Städte oder zu den Seehäfen entlang der Küste. Mitte des 19. Jahrhunderts setzte schließlich der Rückgang des Warentransports auf dem Wasserweg ein. Die kostengünstigere Eisenbahn war auf den Vormarsch.

„Ab 1920 wurde der „Mon & Brec“-Kanal kaum noch genutzt“, sagt Nigel. Fünf Jahrzehnte später entwickelte sich langsam der Tourismus auf einigen wiederbelebten Abschnitten. Mehr als 3000 Kilometer beträgt das historische Wasserwegenetz in Wales und England.

Croesu y Cymru – willkommen in Wales!

Endlich dürfen wir den Schlüssel umdrehen. Der Motor nagelt wie ein Traktor. Nigel drückt die „Queen“ vom Ufer aus ein Stück Richtung Kanalmitte. Behutsam legen wir den Vorwärtsgang ein und tuckern schon auf die erste Brücke zu. So niedrig ist sie, dass wir nicht mehr aufrecht stehen sollten. Pinne nach links, das Schiff steuert zeitverzögert nach rechts. Und umgekehrt. Hinter der nächsten Kurve kommt ein noch längeres Boot als unsere „Queen“ geradewegs auf uns zu. Nervös und mit wenigen Zentimetern Abstand gleiten wir mit einem zaghaften „Hello“ aneinander vorbei.

Gänseblümchen, Löwenzahn und Scharbockskraut säumen das Ufer. Bei unserem Tempo verpassen wir nichts. Am Kanal verläuft noch der Treidelpfad. Heute nutzen ihn Radler und Jogger. Selbst gemächliche Wanderer sind schneller als die 23 Jahre alte „Queen“.

Wir schippern unter einem hellgrünen Buchendach, durch das die Mittagssonne mit ihren Strahlen goldene Tupfer auf die Wasseroberfläche malt. Entenmütter geben ihren Küken im schlammigen Wasser Schwimmunterricht, und zottelige Wollknäule blöken auf den angrenzenden grünen Weiden: Croesu y Cymru – willkommen in Wales! Alle paar Kilometer passieren wir verschlafene Dörfer. Nur aus den Pubs und Restaurants dringt munteres Stimmengewirr. Llanelly, Llangattock und Crickhowell, das vom „Tafelberg“ überragt wird, liegen bereits hinter uns, als die erste von fünf Schleusen hinter Llangynidr in Sicht kommt.

Nach knapp zwei Stunden haben wir fünf Schleusen gemeistert

Angekommen: Auch (Freizeit-)kapitäne müssen sich mal die Füße vertreten.
Angekommen: Auch (Freizeit-)kapitäne müssen sich mal die Füße vertreten.

© Axel Baumann

Das untere Tor steht offen. „Langsam und gerade einfahren“, ruft Nigel Curtis vom Ufer aus. Doch links vom Schleusentor strömt Wasser aus, reißt den Bug des Narrowboats herum. Na bravo, wir stehen quer im Kanal. Mit Tauen und Hilfe von zwei Spaziergängern bringen wir die „Queen“ unter Herzrasen und Schweißausbruch wieder in Position. Der Graureiher, der eben noch erfolgreich gefischt hat, scheint verächtlich hinüber zu den „Landratten“ zu schauen und fliegt davon.

Ganz vorsichtig bugsieren wir die „Queen“ nun in die Schleusenkammer. Nicht das Prinzip der Kammerschleuse erweist sich als Krux, sondern das Schließen der Tore mittels dicker Eichenbalken. Das Hoch- und Runterkurbeln der Ventile, um Wasser ein- und auszulassen, erfordert ordentlich Muckis. Der Skipper muss das Boot frei schwimmend mit Vorwärts- und Rückwärtsgang mittig im Trog halten, damit es nicht zu nah an die Tore gerät. Nach 15 Minuten ist das Becken gefüllt, die „Queen“ um drei Meter angehoben. Nach knapp zwei Stunden haben wir nicht ganz ohne Stolz fünf Schleusen gemeistert – „dead easy“!

Bis Talybont-on-Usk wollen wir es noch schaffen, bevor am Himmel die Sterne angeknipst werden. Stockdunkel wird es jedoch bereits vorher, im Ashford-Tunnel. Vor der Einfahrt müssen wir schauen, ob sich ein entgegenkommendes Boot in der Einbahn-Röhre befindet. Wir haben Glück, es ist nur Abendlicht am anderen Ende zu sehen.

Anspruch eines jeden Skippers ist es, das Boot so auf Kurs zu halten, dass die Fender nicht die Wände des 340 Meter langen Tunnels touchieren. Geschafft! Wir machen die „Queen“ vor Brücke 144 fest. Ein zartrosa gebratenes Lammfilet mit grünen Bohnen im „White Hart Inn“ in Talybont haben wir uns redlich verdient.

Der spektakulärste aller britischen Aquädukte befindet sich auf dem Llangollen-Kanal

Der neue Tag bringt die nächste Herausforderung: Vier romantisch aussehende Ziehbrücken säumen den Weg nach Pencelli. Schnell sind die drei per Hand mit einer Winde hochgekurbelt. Doch die elektrische Brücke mitten in Talybont bereitet Kopfzerbrechen. Sie will sich nicht bewegen. Im kleinen Lebensmittelladen unterhalb des Kanals hat man eine Idee: „Der rote Sicherungsknopf könnte versehentlich gedrückt worden sein.“ Des Skippers Erlösung: Knopf entriegeln, „Up“-Knopf drücken und schon schnurrt die Brücke nach oben.

Bis Brecon, wo der Fluss Usk den Kanal mit Wasser speist, ist es noch ein Tagestörn. Da wir einen weiteren Kanal in Nordwales erkunden wollen, drehen wir bereits in Pencelli um und begeben uns auf die Rücktour. Ein Tunnel, fünf Schleusen und genau 50 Holz- und Steinbrücken liegen vor uns, bis Nigel seine „Queen“ und uns hinter Brücke 103 in Empfang nimmt.

Szenenwechsel – 160 Kilometer nördlicher. Der spektakulärste aller britischen Aquädukte befindet sich auf dem Llangollen-Kanal. „Geflutet wird dieser Wasserweg durch die Horse Shoe Falls, einen Wasserfall in Form eines Hufeisens“, berichtet Bill Furniss an der Llangollen Wharf.

Der Mörtel besteht nur aus Kalk, Wasser und Ochsenblut

„Schon 1884 gab es die ersten Touristenboote, die von Pferden gezogen wurden. Ich führe diese Tradition weiter und biete Ausflugstouren zu den Fällen an“, sagt Furnis. Wir machen uns mit der motorisierten beige-grünen „Catherine“ in Richtung des 18-bogigen Pontcysyllte-Aquädukts auf. „Der für diese gigantische Konstruktion verwendete Mörtel besteht nur aus Kalk, Wasser und Ochsenblut“, verrät uns Bill.

In einer scharfen Rechtskurve biegen wir bei Trevor in den 307 Meter langen gusseisernen Trog des Aquädukts ein. Die Bauweise von vor 200 Jahren mutet heute abenteuerlich an, doch sie hat sich bewährt: Der schottische Konstrukteur Thomas Telford ließ schwere Metallplatten verschrauben und diese mit walisischem Flanellstoff, der vorher in kochende Zuckerlösung getränkt war, abdichten. Die Nahtstellen wurden danach mit Blei versiegelt. 1805 erfolgte die Einweihung des „Stroms im Himmel“. Die Fahrrinne ist nur minimal breiter als die „Catherine“. An der Ostseite verläuft der Treidelpfad, der durch ein Geländer zum Abgrund hin gesichert ist. Zur anderen Seite: Abgrund! Knapp 40 Meter tiefer rauscht der wilde Fluss Dee durchs Tal. Für Höhenangst ist es jetzt der falsche Moment.

Das Städtchen Chirk ist unser Ziel. Der gleichnamige Aquädukt bildet die Grenze zu England. Es wäre so „dead easy“ weiterzuschippern, nur leider fehlt uns dazu die Zeit.

Boote sind auch für ein paar Tage zu mieten

Vorfahrt für Pferde
Vorfahrt für Pferde

© Axel Baumann

ANREISE

Nächst gelegener Flughafen zum „Monmouthshire & Brecon“-Kanal ist Bristol. Ab Berlin-Schönefeld mit Easyjet, von Bristol in circa zwei Stunden per Leihwagen oder Bahn über Newport nach Abergavenny/Gilwern. Der Llangollen-Kanal ist gut mit Easyjet über Manchester erreichbar. Von Manchester circa 1,5 Stunden per Leihwagen bis Chirk. Die Zugfahrt ab Flughafen über Chester nach Chirk dauert bis zu drei Stunden.

BOOT

Es gibt zahlreiche Narrowboat-Anbieter. Die Boote sind wochenweise oder auch nur für einige Tage buchbar. Beispiel am „Monmouthshire & Brecon“-Kanal: Road House Narrowboats, Internet: narrowboats-wales.co.uk. Ein Boot für zwei bis sechs Personen: ab 1100 Euro pro Woche.

AUSKUNFT

Für viele Leser bedauerlich: Auch bei den Walisern gibt’s kein Telefon. Informationen einholen, Anfragen stellen – nur übers Internet (visitwales.com) sowie per E-Mail möglich.

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