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Blick auf die Altstadt von Ios. Die Insel ist mit 15 Kilometern Länge und sieben Kilometern Breite eher klein. Im Sommer drängeln sich vorwiegend junge Leute in den Gassen mit zahlreichen Bars und Musikkneipen.

© Stefan Berkholz

Partyinsel Ios: Und die Götter lachen

Ios ist die Partyinsel in der Ägäis. Doch das Eiland wirbt auch mit dem Grab Homers. Ist das echt? Nicht mal der Dichter hat existiert, sagen Experten.

Michalis Petropoulos sieht aus wie ein jung gebliebener Rockstar. Dabei ist er seit mehr als drei Jahren der (parteilose) Bürgermeister auf der griechischen Kykladeninsel Ios. Jenem kleinen Eiland in der Ägäis also, das besonderen Wert auf sein jugendliches Image legt. „We offer only the feeling“, sagt Petropoulos, lächelt und macht dann eine entschuldigende Geste. Petropoulos ist 61 Jahre alt – man nimmt es ihm nicht ab. Passend zur Flippie- und Disko-Insel für Jugendliche, trägt der Bürgermeister nicht nur schulterlanges, weißes Haar, Turnschuhe und Jeans, sondern auch ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Rock Daddy“.

Die Touristen, die nach Ios kommen, seien in der Regel im Schnitt zwischen 20 und 25 Jahre, erklärt Petropoulos. Das Phänomen: die Klientel habe sich seit Jahrzehnten nicht verändert. Das Image hält allen Stürmen der Zeit stand.

Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre habe es begonnen, blickt der Bürgermeister zurück. Damals seien Hippies von Mátala auf Kreta gekommen und hätten Ios für sich entdeckt. Der Legende nach siedelten in den 1960er Jahren Hippies aus aller Welt in Mátala, viele kamen aus den USA, auch jene, die den Kriegsdienst in Vietnam verweigerten. Angeblich lebten auch Bob Dylan, Joni Mitchell und Cat Stevens zeitweise in Mátala. Es war eine große Kommune, die sich auf verschiedene natürliche Höhlen verteilte. Als eine der Wohnhöhlen einstürzte, wurden die Hippies von Kreta vertrieben. Dann entdeckten einige von ihnen das winzige, dünn besiedelte Ios für sich. Die Einheimischen waren völlig perplex. Bis dahin kannten sie auf ihrem kargen Eiland Touristen vor allem vom Hörensagen.

„It’s a party island“, holt Petropoulos einen wieder in die Gegenwart. Allein im Hauptort, Ios Village oder Chora genannt, gebe es 40 Diskotheken und Bars. „All night long“, sagt er lächelnd, also die ganze Nacht hindurch. Sperrstunden existieren nicht.

Gegen Mittag kriechen die Youngster aus den Betten

Es gebe 1400 Einwohner auf der Insel, klärt uns der Bürgermeister auf. Eine verschwindende Zahl gegenüber den Touristen. Der größte Run auf die Insel allerdings liegt schon 25 Jahre zurück. Damals, im Jahr des Mauerfalls, seien beinahe 200 000 Gäste auf der Insel gezählt worden. So viele sind es bei Weitem nicht mehr. Doch kann es an Sommertagen vorkommen, dass sich bis zu 10 000 Touristen auf dem Eiland vergnügen. Hält man sich um Mitternacht im Gassengewirr von Chora auf, sieht man Jugendliche in Gruppenstärke die nächtliche Szenerie erobern. In der Hauptgasse dröhnt für jeden Geschmack etwas und alles wild durcheinander: hier für die Romantiker Titel der „Doors“ mit Jim Morrison; dort schrille Diskomusik; andernorts Funk, Punk, New Wave, Reggae, Techno. Die Bassfrequenzen wummern um die Wette. Wohnen hier überhaupt noch Einheimische? Und wenn ja, wie halten sie dieses akustische Gewitter aus?

Frühestens gegen Mittag kriechen die Youngster aus den Betten, um sich dann an den Stränden abzulegen. In Milopotas etwa, der längsten Sandmeile mit Hotels, Tavernen und Cafés im Südwesten der Insel. Oder sie ziehen nach Koumbara, in der Nähe des Hafens, oder nach Manganari im Süden. Während das Partyvolk vom Nachmittag an schon wieder vorglüht, bleibt es an der Ostküste in Kalamos, Psathi oder Theodoti ruhiger. Dort finden jene Urlauber ihren Platz, die Ios aus ganz anderen Gründen schätzen. Denn die Insel ist auch eine Schatztruhe des Altertums. Da gibt es zum Beispiel das Ausgrabungsgebiet der bronzezeitlichen Siedlung Skarkos, mit Blick auf den Hafen von Ios.

Vor allem aber soll ein Name den Besucher vor Ehrfurcht erblassen lassen: Homer. An dem ältesten epischen Dichter des Abendlandes kommt man auf Ios nicht vorbei. Sagen über Sagen sind hier geboren, wild wuchern Legenden, und die Insel macht ordentlich Werbung mit seinem Namen. Denn hier soll er seine letzte Ruhe gefunden haben. Das Grab ist kaum zu verfehlen. Braune Hinweisschilder mit weißen Buchstaben weisen den Weg über die gesamte Insel bis in den Norden, nach Plakotós: „Homer’s tomb – Plakotos“ ist da zu lesen.

Am Ende der Straße: ein großer Parkplatz, angelegt für Karawanen von Reisebussen. Dann führt ein schmaler Kiesweg durch die dürre, stachlige Macchia. Es ist heiß, die Sonne glüht, Zikaden sägen.

Liegt hier wirklich Homer begraben?

Am Hafen wacht der antike Dichter
Am Hafen wacht der antike Dichter

© Stefan Berkholz

Bereits am Wegrand zur Grabstätte informieren Texttafeln, die in griechischer, englischer und deutscher Sprache verfasst sind. „An dieser Stelle deckt die Erde den geheiligten Kopf des Führers des gottreichen Homer“, wird der griechische Geschichtsschreiber Herodot aus dem 5. Jahrhundert vor Christus zitiert. Und der griechische Schriftsteller Pausanias wusste im 2. Jahrhundert nach Christus zu berichten, dass die Bürger von Ios das Grab des Homers zeigen und „an anderer Stelle“ jenes von Klymenes, der Mutter des Homer.

Chris Varonos weiß mehr. „Die Legende sagt“, erklärt uns der 70-jährige Reiseführer an Ort und Stelle, „dass Homers Mutter auf Ios geboren wurde.“ Wie auf Kommando erheben Zikaden ihren Gesang in der Stille, sägen ohrenbetäubend und unerkannt. Wildkräuter duften um die Wette. Flirrende Hitze liegt über der Stätte. In der Ferne grüßen die benachbarten Inseln Iraklia und Naxos. Eine herrliche Stelle, ein wunderbarer Ausblick. „Und deshalb“, unterbricht der Reiseleiter unsere Andacht, „liegt Homer hier begraben.“

Ehrfürchtig verweilen unsere Blicke dann auf einem hüfthoch gemauerten Geviert, zwei mal zwei Meter vielleicht, für große Gruppen also nicht geeignet. Innen erblicken wir eine Ausbuchtung wie ein Kamin. Zwei weiße Marmorquader stehen hochkant, einer ist quer darüber gelegt. „Well“, bedauert unser Reiseleiter, „es sind heute nur ein paar Steine hier zu sehen“. Aber in der Zukunft – er wird nun feierlich –, in der Zukunft werde man darangehen, eine richtige Grabstätte für Homer zu errichten, das sei man dem größten Epiker aller Zeiten schuldig.

„Wir wissen über Homer wirklich nichts“

Gedruckte Reiseführer gehen nüchtern mit dem Mythos um. Polyglott etwa hat in sein schmales Bändchen über die Kykladen die Bemerkung gesetzt: „Ios nahm schon immer für sich in Anspruch, das Grab Homers zu besitzen. 1771 glaubte denn auch der holländische Offizier Paasch van Krienen, dieses Grab bei Plakotós im Norden entdeckt zu haben. Die von ihm geöffneten Gräber stammen jedoch aus jüngerer Zeit.“

Mysteriös klingt das alles, legendenumwoben und voller Rätsel. Heerscharen von Wissenschaftlern tüfteln seit Jahrhunderten an einem Werk herum, das schmal ist wie selten eines. Mittlerweile neigt man sogar dazu, nur die „Ilias“, diese rund 16 000 Verse, Homer zuzuschreiben, nicht aber die „Odyssee“, den Bericht über die Irrfahrten des Odysseus.

Thomas A. Szlezák ist Professor für Griechische Philologie. Er hat kürzlich ein Standardwerk zum Thema veröffentlicht. Szlezák erzählt von Legenden und Überlieferungen, er erwähnt Aristoteles, von dem allerlei Fragmente gesichert seien. In einem ist auch von Ios die Rede. Homer sei auf der Insel von einem Fischerjungen auf die Probe gestellt worden, er habe aber das Rätsel nicht lösen können. Darüber sei der Poet vor Gram gestorben, womöglich habe er sich sogar umgebracht. „Na-ja“, zieht der Gräzist Szlezák die beiden Silben ironisch in die Länge, „na-ja!“. Und fügt hinzu: „Die Leute von Ios hatten wohl sonst nicht viel vorzuweisen und ließen dann den Reisenden, der sicher selten genug vorbeikam, wissen, es gebe dort das Grab des Homer. Sodann gibt Szlezák zu bedenken, dass ja nicht mal gewiss sei, ob Homer als Person überhaupt existiert habe. Ob er als Name nicht schon ein Mythos sei, und die Verse eben vom Erzählen weitergetragen wurden, wie es einst ja üblich war. „Seine Person ist leider nicht fassbar“, bedauert Szlezák, „wir wissen über Homer wirklich nichts.“

Herbert Bannert ist ein Altphilologe aus Wien. Bei Rowohlt liegt sein Standardwerk „Homer mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten“ vor. Hat Homer denn nun existiert? „Wir wissen, dass es einen Mann Homer gegeben hat, im 8. Jahrhundert vor Christus, aber er hat die Gedichte nicht ,erfunden’, sondern eine alte Tradition genial zusammengestellt“, erklärt der Wissenschaftler. In allen Homer-Biografien der Antike sei immer der Sterbeort Ios angegeben. Freilich stammten diese Schriften aus der Zeit nach Christus ... „Die Historizität dieses ,Grabes’ auf Ios ist noch umstrittener als diejenige des Dichters selbst“, sagt Martin Maischberger von der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Für „das vermeintliche Grab auf Ios“ könnten nichts „außer vage Konjektionen ins Feld geführt werden“.

Der Parkplatz bietet sich für jede Tempelanlage an

Fassen wir zusammen: Ob Homer gelebt hat oder eine Figur der Sagen ist, bleibt umstritten. Ob Homer folglich gestorben sein kann und womöglich sogar auf Ios, können wir deshalb nicht felsenfest behaupten. Die sogenannte Grabstätte im Norden von Ios ist so ungewiss wie grüne Männchen auf dem Mars. Unser freundlicher Reiseführer auf Ios aber wusste in der Mittagsglut vor Ort brandheiß zu berichten, dass ein „Ministry of Antiques“ Geld bereitgestellt habe, um demnächst eine repräsentative Grabstätte für Homer zu errichten. Die Straße und der geräumige Parkplatz bieten sich für jede Tempelanlage förmlich an.

Zuletzt bekommen wir noch neueste Informationen vom Bürgermeisteramt auf Ios. Michalis Petropoulos’ schriftliche Antwort auf unsere Fragen ist erfreulich aufschlussreich. „Die Markierung des Grabes in Plakotos erfolgte 1960“, schreibt der Bürgermeister. „Der Parkplatz wurde im Jahre 2000 angelegt. Es existieren in der Gegend insgesamt drei Gräber und natürlich ist es sehr schwer zu sagen, ob eines das Grab von Homer ist. Derzeit planen wir, ein Monument für Homer in der Nähe zu errichten.“

Ein Ende der Ausbauten ist nicht in Sicht. So wird eine Adresse für den Tourismus nach und nach erweitert, allen Zweifeln zum Trotz.

Man sollte das Rätsel um Homers Grab aber nicht so ouzoernst nehmen. Ein Wissenschaftler empfahl des Dichters Werk: „Wie heißt es bei Homer? Dort ist vom ,unauslöschlichen Gelächter der seligen Götter’ die Rede.“ Und wie begann der Bürgermeister von Ios, Michalis Petropoulos, uns bei unserem Besuch einzustimmen? „We offer only the feeling“.

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