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Sommer mit Stillleben. Die Emsländerin Silke Wendt hat ihren Schuppen mit Kannen und Körben, Eimern und Töpfen dekoriert. Im Holzhaus nebenan serviert sie Vegetarisches.

© Hanne Bahra

Fröhliches Treiben am Stettiner Haff: Endlich wieder Kaffeeklatsch

Lange wirkten die Dörfer am Stettiner Haff verschlafen. Zugereiste haben sie aufgeweckt, mit charmanten, kreativen Konzepten.

Die Kirchenglocke schlägt zwölf. Marco Dorka kneift die Augen zusammen und fixiert den Himmel über Rieth. „Immer mittags fliegt der Seeadler übers Dorf“, sagt er. Krähen krächzen, Hähne krähen, Amseln singen. Der Himmel am Ende der Welt ist hoch und blau und so leer wie die Dorfstraße, die dampfend nach einem warmen Landregen in der Sonne döst. „Vorführeffekt“, entschuldigt der Tourismusfachmann den verpatzten Auftritt des wohl spektakulärsten heimischen Vogels. Nur noch 13 Brutpaare soll es von ihm geben in dieser östlichsten Ecke Vorpommerns.

Der Ort am Stettiner Haff wirbt zuallererst mit dem „Dorferlebnis Rieth“, dann mit „Waldbadestelle, Bootsanleger, drei Fischern und Natur so weit das Auge reicht“. Zu DDR-Zeiten lag Rieth zu dicht an der polnischen Grenze, um touristisch überrannt zu werden. Hier und da ein Kinderferienlager, ein Gästehaus der SED-Kreisleitung, ein Betriebsferienheim. Viel Wald gehörte zum Jagdgebiet des damaligen Armeegenerals Heinz Hoffmann. Die von urwüchsigen Linden gesäumte Dorfstraße aus militärtauglichen Betonplatten lässt heute noch Fahrradfelgen ächzen.

„Eigentlich war Rieth schon zu DDR-Zeiten ein sterbendes Dorf. Ab Mitte der 70er Jahre gab es keine Zuzugsgenehmigung mehr für Fremde“, berichtet Bernd Kloß, früher Grenzer, heute Polizist mit dem Hobby Ortsgeschichte. Er wohnt in einem der wenigen stadtvillenartigen Häuser des Dorfes, das mit florierendem Holzhandel einst bessere Zeiten gesehen hat. Vor zwei Jahren gab es in Rieth auch noch einen Tante-Christa-Laden. Alle trafen sich in der Einkaufsquelle bei Christa Backhaus und griffen wie die Kinder gerne in die Bonbongläser. Die Rentnerin verkaufte alles, was der Mensch so braucht, auch Butter, Plüschbären und Deos. Jeder kannte sie im Dorf.

Heute ist Christa Backhaus im Altersheim. Brot und Fleisch bringt der mobile Lebensmitteldienst. Arbeit findet in Rieth längst kaum jemand mehr. Nach der Wende lebten hier nur noch die Alten. Dann haben Stadtmenschen das Dorf am Stettiner Haff entdeckt. „Die haben uns Einheimische aufgeweckt“, sagt Bernd Kloß. Die konnten sich begeistern an der Abgeschiedenheit ohne Handyempfang und Durchgangsverkehr, an den sandigen Seitenwegen, mit Pfützen so groß wie sonst nur Dorfteiche, die den Regen auffangen.

Von den 182 Einwohnern des Haffdorfes Rieth sind heute die meisten Zugezogene. 1999 sanierte Marco Dorka gemeinsam mit dem Architekten Dirk Bartelt den denkmalgeschützten „Gasthof zum Blauen See“ und kombinierte knarzende Treppen, Lehmfachwerkwände und Holzständerbauweise denkmalgerecht und originell mit modernem Design. Inzwischen bieten die beiden 176 Betten in 25 Ferienhäusern an. Viele dieser Häuser standen lange leer und drohten zu verfallen.

Nicht nur in Rieth, auch in Vogelsang-Warin, Ahlbeck, Gegensee oder Altwarp – in nahezu allen Dörfern, die sich inzwischen mit insgesamt 17 Anbietern zum touristischen Netzwerk „Riether Winkel“ zusammengeschlossen haben. Eine glückliche Netzwerkfamilie, deren Herzstück der Riether Dorfverein ist. „Wir haben das Dorf wieder zum Leben erweckt“, sagt die Lehrerin Silvia Henning, die aus Sachsen hierher kam und heute Vorsitzende des Dorfvereins ist, der Kaffeeklatschrunden, Sommerfeste und Adventsmärkte organisiert, die Treppe der alten Dorfkirche saniert und auch mal mit den Rentnern von Rieth in den Berliner Friedrichstadtpalast düst. Das macht Freunde im Dorf.

Hinterm Süßen Weg liegt Kuchenduft in der Luft

Katja Gaugel vom Café de Klönstuw.
Katja Gaugel vom Café de Klönstuw.

© Hanne Bahra

Fischer Döring und seine Frau gehören zwar nicht zum Verein, sehen dem Treiben der neuen Nachbarn aber mit Wohlwollen zu. Ihr Haus steht am Grenzweg, der zum rund neun Kilometer langen sandigen Radweg nach Polen führt, folgt man dem Wegweiser, den Horst Döring eigenhändig angebracht hat.

„Rund 3,2 Millionen Touristen interessieren sich für Erholung auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern“, konstatiert das hiesige Wirtschaftsministerium, das den Wettbewerb LandArt 2012 auslobte, an dem sich insgesamt 39 Netzwerke und Kooperationen beteiligten. Leute wie Dorka und Bartelt bringen – auch als schwules Ehepaar – mit ihren backsteinroten und blauen Häusern Farbe in eine Region, deren politische Landschaft eher für braune Schattierungen bekannt ist. Im „Riether Winkel“ aber weht ein frischer Wind. Das alte Fischer- und Bauerndorf überrascht mit neuem Hafen, restaurierten Häusern, blühenden Vorgärten und freundlichen Bewohnern wie eine Fata Morgana im touristisch weitgehend noch verschlafenen Land.

Vor vier Jahren entdeckte Ulrike Siedl aus dem Ruhrgebiet das Dorf, aus dem sie nun nie wieder weg will. „Diese Ruhe und der Himmel so nah“, schwärmt die Marketingfrau. Sie knüpft Netzwerke, sorgt dafür, dass Rieth in der Welt bekannt wird. Und natürlich auch für ihre Kreativwerkstatt. „Ohne solche Synergien könnte man hier nicht existieren“, sagt Silke Wendt. Die schlanke Emsländerin steht barfuß im Garten und genießt, umgeben von wilden Blumen und Streuobstbäumen, „das Einfache, die Natürlichkeit und den würzigen Duft der nahen Kiefernwälder“.

Im Frühstücksraum ihres schwedischroten Holzhauses sitzen Gäste bei Flocken aus der Kornquetsche, bei selbstgebackenem Brot und Brötchen, zu denen es hausgemachte Aufstriche gibt. „Wenn man für etwas brennt, klappt es auch mit einem vegetarischen Konzept mitten in der vorpommerschen Pampa“, sagt die Ökotrophologin, die hier seit 2008 Urlaubsangebote rund um das Thema gesunde Kost anbietet. In Kochkursen und Koch-Camps können schon Kinder lernen, wie aus Körnern Brot oder Nudeln werden und man aus einfachen, naturbelassenen Produkten schmackhafte Gerichte zubereiten kann. Die Eier für ihren Frühstückstisch werden dann auch von Hühnern des Dorfes gelegt, und jeden Freitag steht eine Kiste voller Biolebensmittel vor der Tür.

Hinterm Süßen Weg liegt Kuchenduft in der Luft. In der ehemaligen Molkerei backt die rothaarige Katja Gaugel aus Baden-Württemberg Kalten Hund und Holunderblütentorte. In ihr Café de Klönstuw kommen Gäste aus der Haffregion, von Usedom, sogar aus der Schweiz.

Im Nachbardorf Ahlbeck betreibt Petra Henrich, einst Geigerin im Meininger Staatsorchester, eine Pension mit akademischen Angeboten. Chöre und Orchester können hier proben, zum Abschluss gibt es ein Konzert. Die Berlinerin Mike Schlegel wollte eigentlich Stewardess werden und um die Welt düsen, heute gibt es für sie nichts Schöneres, als ihren Mecklenburger Kaltblutpferden auf den dicken Hintern zu schauen, während sie Gäste durch Wald, Flur und Wacholdertal kutschiert. Auf Wunsch auch nach Altwarp, wo Fischer Zach zwischen Binnendünen und Haff Hornhecht, Lachs und Zander über Erlenholz räuchert. Brasse gibt es in Aspik zu Bratkartoffeln, Barsch in feuriger Paprikasuppe. Dazu spielt Seemannsmusik, hier und da hängen Fischernetze, Heringstonnen dienen als Blumenkübel.

Wenn die Sonne glutrot im Haff versinkt, kehren letzte Gäste in die Riether Dorfkneipe „Orchidee“ ein. Radio Ostseewelle dudelt viel zu laut durch den Raum. Drei Radler aus Schwaben schwatzen gutgelaunt bei Bier und Bratkartoffeln. Sie kamen über den Oder-Neiße-Radweg nach Rieth. Das Ziel ist die Insel Usedom – jetzt aber bleiben sie noch ein, zwei Tage im Dorf.

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