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Geschafft! Angekommen, etwa wie hier auf der 3025 Meter hohen Zehnerspitze der Fanesgruppe in den Dolomiten, ist jede Mühsal des Aufstiegs vergessen.

© imago/Imagebroker

Bergsteigen: Vom Glück der Strapazen

Warum zieht es so viele Menschen in die Berge, ja auf höchste Gipfel? Selbst erfahrene Kletterer haben keine einfache Erklärung.

Millionen von Touristen und Bergsportler wollen jedes Jahr hinauf in die Alpen. Allein der Deutsche Alpenverein (DAV), der weltweit größte Bergsteigerverband, hat fast 1,1 Millionen Mitglieder. Jeder neue Skilift und jede zusätzliche Seilbahn erleichtern den einst so mühsamen Anstieg und begünstigen fragwürdige Massenveranstaltungen wie Popkonzerte oder Modenschauen in luftiger Höhe.

Ischgl in Tirol zum Beispiel bezeichnet sich selbst als die „Partyhauptstadt der Alpen“ und lockt Spaß-Sucher so: „Erleben Sie Konzerte und Events der Superlative – mit internationalen Stars … Seien Sie mittendrin, wenn in Ischgl die Party beginnt.“ Im Angebot des fast 1400 Meter hoch gelegenen „Ibiza der Alpen“ sind Modelshows, Schönheits- und Snowboard-Wettbewerbe und vieles mehr.

Schon vor Jahrzehnten, als alles noch ruhiger in den Alpen war, regten deshalb besorgte Naturschützer wie der Publizist und Fotograf Hans Steinbichler an, Berghütten und Zufahrtswege verfallen zu lassen und so „vor den Alpen wieder die Barriere des Schweißes zu errichten“ – so stand es zum Beispiel 1988 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Wer die Bergwelt genießen wolle, müsse sich körperlich anstrengen. Ein guter Teil der Bergliebhaber ist bereit dazu.

Der Berg ruft

Doch was bloß treibt Menschen in Scharen die Hänge hinauf? Und was zwingt einen kleinen Teil von ihnen sogar hinauf in die Todeszone eisiger Gipfel? Der Bergsteiger, Schauspieler und Regisseur Luis Trenker fand auf diese Fragen eine legendäre Antwort, die er 1938 zum Titel seines Spielfilms über die Erstbesteigung des Matterhorns machte: „Der Berg ruft.“ Doch warum ruft er, und vor allem: wen? Dem Ruf folgen jedenfalls nicht nur Verrückte und Abenteurer.

Der Brite George Mallory, der 1924 beim Versuch umkam, den Mount Everest zu erklimmen, hat einmal geäußert, er klettere auf Berge einfach deshalb, weil sie da seien. Das könnte ein Beweggrund für viele Millionen Erdenbürger sein, „aber die Mehrzahl der Menschen besteigt die Berge eben nicht“, gibt Peter Grupp zu bedenken. Der Bonner Historiker ist selbst Bergsteiger und weiß nur zu gut, dass die Bewunderung für die Besseren der Kraxler vermischt ist mit Unverständnis für ihren Antrieb.

„Man erschauert vor den Risiken und Wagnissen, die herausragende Alpinisten eingehen, versteht ihr Tun aber eigentlich nicht.“ Auch Menschen, die nur ab und zu ihre Bergstiefel schnüren und sich mit Steigeisen, Karabinerhaken und Seilen in den Felswänden nach oben stemmen und ziehen, begleite der Ruf, ziemlich „seltsame Gesellen“ zu sein. Jedenfalls sei es bisher noch keinem Bergsteiger gelungen, einem Flachlandtiroler seine Motive wirklich plausibel zu machen. Dennoch sei ein Versuch gewagt.

Den Göttern ganz nah

Lange bevor die ersten Seilschaften die Gipfel ins Visier nahmen, galten diese als Sitze von Gottheiten – längst nicht nur in Europa. Gebirge seien „als Orte, wo sich Himmel und Erde berühren, von einer religiösen Aura umgeben“, schreibt Grupp in seinem Buch „Faszination Berg“ über das Aufkommen des Alpinismus. Wo Sterbliche nur mühsam hingelangen, muss man den Göttern im Himmel einfach nahe sein. Dies ahnend, hätten sich bereits die Menschen der Stein- und Bronzezeit „für kultische Handlungen in unzugängliche Berggegenden“ zurückgezogen, um ihren Gottheiten möglichst nahe zu sein.

Seit damals residieren die Götter auf den Gipfeln der Erde. Zeus und die anderen Hauptgottheiten der griechischen Mythologie wohnten auf dem fast 3000 Meter hohen Olymp. Die Japaner verehren bis heute den Fudschijama und die australischen Ureinwohner den nicht minder berühmten Uluru (Ayers Rock). Moses empfing von Gott die Zehn Gebote nicht in einem lieblichen Tal, sondern auf dem Berg Sinai.

Mancherorts krallen sich sogar Klöster in die Felswände oder thronen auf Vorsprüngen: Der Berg Athos ist ein Beispiel dafür, aber auch die irische Felseninsel Skellig Michael, auf der ab dem späten 6. Jahrhundert nach Christus Mönche in bienenkorbförmigen Steinhütten hausten, gepeitscht von Wind und Wetter, umtost vom Atlantik. Asketische Einsiedler passten seit jeher gut zum harten Leben auf dem nackten Fels.

Auf der Suche nach dem Lebenssinn

Auch die Alpen wurden von früheren Kulturen als „heilig“ gepriesen, wirkten aber auch unheimlich. Bergdrachen, Geister und Dämonen schienen dort ihr Unwesen zu treiben, wo immer wieder der Donner durchs Gebirge grollte, Gletscher ächzten und Sturmgeheul die Nerven plagte. Besser also, man hielt sich fern davon. Außer freilich, man wollte Gott im Himmel möglichst nahe sein, so teuflisch der Aufstieg auch sein mochte.

Zu jeder Zeit gab es allerdings Menschen, die den mühsamen Gang ins Gebirge wagten, auch ohne dass eine Arbeit in den Bergen sie dazu zwang oder ein Gott sie nach oben rief. So mancher forscht in der Höhe eher nach einem verborgenen Lebenssinn oder nach einer anderen Sicht auf sich selbst.

Sieht man vom verständlichen Hochgefühl ab, das auch bequemere Menschen ergreift, wenn sie nach einer Seilfahrt mit der Bergbahn über die Spitzen eines Gebirges schauen, dürfte hier der Schlüssel zur Antwort nach dem Motiv so vieler Alpinisten zu finden sein: Wer sich die Strapazen und Lebensrisiken des Kletterns aufbürdet, sucht das Eigentliche womöglich weniger auf dem Gipfel als in der Tiefe seiner Persönlichkeit, seltener auch in ihren Abgründen.

Wer oben ankommt, gilt als stark

Stets aber gilt es beim schweißtreibenden Aufstieg, die eigene Bequemlichkeit und eine ganze Meute innere Schweinehunde niederzuringen. „Wir wünschen uns, dass das Glück uns in den Schoß fällt, und sind doch am meisten stolz auf das, was wir unter Mühen und Entbehrungen erreichen“, urteilt der Bergführer und Psychologe Martin Schwiersch aus dem Allgäu. Die Aussicht von einem per Seilbahn erreichten Gipfel „mag uns überwältigen, der eisige Wind dort oben frösteln lassen, doch können wir uns keiner Leistung rühmen“. Fürs wahre Gipfelgefühl müsse die Bergspitze aus eigener Kraft erreicht werden.

Nicht nur für die Kraxler auf diversen Karriereleitern, sondern auch für Bergsteiger geht es ganz schnöde darum, nach oben zu kommen. „Oben und unten sind zentrale existenzielle Verortungen des Menschen, zumindest in unserer Kultur“, sagt Schwiersch. Wer oben anlange, gelte als stark und mutig, reif und souverän, mächtig und intelligent. Der Gipfelstürmer hat schlagartig seinen Selbstwert gesteigert, was mitunter als orgastisches Gefühl von Präsenz, Kraft und Lebensfülle erlebt werde. Die triumphale Körpersprache in solchen Momenten ist dem Fernsehpublikum nur allzu gut bekannt: gereckte Hände, Daumen und Eispickel, Umarmungen sowie das V-förmige Siegeszeichen aus Mittel- und Zeigefinger.

Skurrile Züge trägt bisweilen der Ansturm so vieler verbissen siegeswilliger Menschen hinauf zur felsigen oder eisigen Spitze, selbst auf den Mount Everest und andere Achttausender, am besten natürlich auf alle vierzehn. Manche haken Gipfel ab wie Meilensteine beim Marathon. Es zählt nicht das Klettern, sondern das Ankommen am höchsten Punkt, und koste es das Leben. Das Klettern selber wird zum nötigen Übel, das Erlebnis beim Aufstieg gerät zum Beiwerk.

Gipfel, die glücklich machen

„Dass der Gipfel das Ziel ist, leuchtet einerseits unmittelbar ein“, findet Schwiersch. Doch dass ein knappes Verfehlen des Gipfels „als vollständiges Scheitern definiert wird – und zwar sowohl von den Bergsteigern selbst als auch vom breiten Publikum –, scheint mir ein Auswuchs einer Gesellschaft zu sein, in welcher der Zweite bereits der erste Verlierer ist“.

Stiller sind die weniger spektakulären Gipfel, und auch sie können den Bergsteiger glücklich machen. Das Bewusstsein, sich an einem Ort aufzuhalten, „der die meiste Zeit sich selbst gehört“, könne als etwas Heiliges empfunden werden. „Jedenfalls erleben es die meisten Menschen als ungebührlich, auf einem Gipfel dauernd zu lärmen“, urteilt der 55-jährige Psychotherapeut. Typisch sei dort oben eine gedämpfte Atmosphäre: „selten ein lautes Wort, eher dosierte Gesten, keine hektischen Bewegungen, eher sitzen, schauen, zurückhaltend miteinander reden, wenig lautes Lachen“. Dann endlich ist Zeit, die Augen umherwandern zu lassen.

Die Aussicht vom Gipfel unterscheidet sich von anderen dadurch, dass sie vollkommen unverstellt ist. Man hat buchstäblich den Überblick und verliert sich ein wenig im Wechselspiel von Weite und Nähe. Dadurch fühle sich der Mensch „zentriert – und damit nicht in den Weiten des unumschränkten Horizonts verloren, wie es vielleicht auf dem Meer sein könnte“.

Auf das entlegene Tiefland von so erhabener Warte hinabschauen zu können, schafft Schwiersch zufolge „Distanz zum Alltag und den Problemen des Tals“ und nähre die „Illusion, ihnen nun besser gewachsen zu sein“. Die Enttäuschung folgt freilich auf dem Fuß, sobald man wieder unten ist. Diese Ernüchterung werde „am besten durch eine neuerliche Bergtour gelindert“. Die ausgelüfteten Bergstiefel warten ja schon.

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