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Ruckedigu, Blut ist im Schuh. So gurren die Tauben im Märchen von „Aschenputtel“. Nur hübsch ist dagegen dies Highheel-Exemplar im Grimm-Park von Marburg.

© Beate Schümann

Bei Froschkönig & Co: Das Gift der Königin

Unterwegs auf der Märchenroute: Vor 200 Jahren erschien die Erstausgabe der Grimm’schen „Kinder und Hausmärchen“.

„Nimm mich mit in dein Bettlein“, quakt der hässliche Frosch. Dass er geküsst wird, ist der wohl größte Irrtum in der Grimm’schen Märchengeschichte. Denn der Froschkönig wird erlöst, weil ihn die Prinzessin gegen die Wand wirft. Aber wer glaubt heute noch an den Märchenprinzen? Alles Lug und Trug, denkt man, und doch bleibt neben dem Zweifel ein Fünkchen Hoffnung.

Auch im Jubiläumsjahr, das die Erstausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ vor 200 Jahren feiert, muss niemand Kröten herzen, sich vom bösen Wolf fressen oder von einer neidischen Königin vergiften lassen, um sich verzaubert zu fühlen. Niemand muss sich im dunklen Wald verlaufen, um den Märchen auf die Spur zu kommen. Auf der Deutschen Märchenstraße können Reisende dem Leben der beiden Brüder gefahrlos nachspüren und manchem Bewohner aus ihrem Sagen- und Märchenreich leibhaftig begegnen. Die Strecke mit rund 50 Stationen führt über gut 600 Kilometer von Hanau bis nach Bremen.

Hanau ist die Geburtsstadt von Jacob (1785–1863) und seinem Bruder Wilhelm (1786–1859). Sie glänzt mit den beiden Superstars aus der Märchen- und Germanistenszene. Ihr Leben lässt sich heute jedoch nur noch anhand von Gedenktafeln nachvollziehen, da Hanau im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde. Allein das Nationaldenkmal der Brüder Grimm, das seit 1896 vor dem Neustädter Rathaus steht, blieb verschont. Nachdenklich blicken die beiden lebensgroßen Bronzefiguren vom Sockel, als wollten sie sagen: Die Zeiten werden sich nie so ändern, als dass das Wünschen und Träumen nicht mehr helfen würde.

Nur 50 Kilometer entfernt wuchsen die Grimm-Geschwister im Fachwerkstädtchen Steinau auf. Zwischen der Katharinenkirche, in der ihr Großvater Pfarrer war, und dem mächtigen Renaissanceschloss steht der Märchenbrunnen. Der magische Platz ist der Wirkungskreis des großen Zauberers aus dem Gestiefelten Kater. „Ich tische gern Märchen auf“, sagt Stadtführer Günther Mirsch lachend und tippt auf die lange Nase seiner Maske. Er und seine Kollegen tragen Kostüme aus König Drosselbart, Frau Holle und Schneewittchen, wenn sie ihre Gäste zu fünf wahrheitsgetreuen Grimm-Stationen bringen. Dazu zählt auch das mit Schmuckfachwerk verzierte Wohn- und Amtshaus von Vater Philipp Wilhelm, das heutige Brüder-Grimm-Haus. In zehn Räumen wird eine moderne Ausstellung über Leben, Werk und Wirken der Familie Grimm gezeigt.

Kaum irgendwo trifft der Ausdruck „malerisch“ besser zu als bei Marburg. Eng stehen Fachwerkhäuser in Gängen und Gassen, Menschen laufen treppauf, treppab und von überall her sieht man das Schloss. Die Altstadt erscheint so herrlich historisch, dass man glaubt, die beiden Brüder könnten jeden Moment um die Ecke biegen. Sie kamen an die Lahn, um an der renommierten Universität Jura zu studieren. Ihren Spuren kann man auf dem „Grimm-Dich-Pfad reloaded“ nachgehen und an Häusern, Mauern und Treppen zehn künstlerische Märchensymbole erraten.

Aus der alten Stadtmauer ragen die Skulpturen vom Wolf und den sieben Geißlein, der Froschkönig hockt über dem Neustadt-Brunnen. An der Universitätskirche leuchtet der Sterntaler als Lichtinstallation, am Markt sucht man die Fliegen vom Tapferen Schneiderlein. Den Torbogen der Neuen Kanzlei garnieren sieben Zwergenmützen, und im Weinberg unterm Schloss leuchtet ein großer, roter Aschenputtelschuh.

„Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen ...“

Grimm-Denkmal in Kassel nahe der ehemaligen Wohnung der Märchenbrüder ist nur däumlingsgroß ausgefallen.
Grimm-Denkmal in Kassel nahe der ehemaligen Wohnung der Märchenbrüder ist nur däumlingsgroß ausgefallen.

© picture alliance

Von Kassel aus eroberten Grimms Märchen die Welt. Gut 30 Jahre lebten Jacob und Wilhelm in dieser Stadt, studierten, spazierten und philosophierten im Bergpark von Schloss Wilhelmshöhe. Dort entstanden ihre wichtigsten Werke, auch die „Kinder- und Hausmärchen“, für die sie Geschichten aus mündlichen und schriftlichen Quellen sammelten. Das Handexemplar mit Notizen und Kommentaren, das zum Unesco-Dokumentenerbe gehört, ist im neu eröffneten Grimm-Museum zu sehen. Das Brüder-Grimm-Denkmal nahe der ehemaligen Wohnung ist indes nur däumlingsgroß ausgefallen. Im Café Nenninger gegenüber kann man bei einem Stück Grimm-Torte über die „Märchenonkel“ nachdenken. Ihre Märchen sind weltberühmt, in rund 160 Sprachen übersetzt und millionenfach gedruckt. Doch als Germanisten, Sprachforscher und liberale Intellektuelle sind sie fast vergessen.

Die Fachwerkstadt Hann. Münden liegt malerisch am Zusammenfluss von Weser, Werra und Fulda. Das prächtige Renaissance-Rathaus wird zur Sprechstunde des Wundarztes sonnabends richtig voll. „Ich bin der Doktor Eisenbart, kurier die Leut' nach meiner Art“, ruft der goldberockte Mann mit Lockenperücke und führt seine Werkzeuge vor. Von diesem Operateur, Starstecher und Knochenflicker, der 1727 hier starb, ist bei den Grimms nichts zu lesen.

Doch die Legende lebt, und die Stadt hat Eisenbart zur Leitfigur gemacht. Auf der Bühne trägt Willy Waldner mit seinen Helfern den launigen Sketch über das Wirken des oft verunglimpften Medicus vor. Der Wanderarzt zog mit Gauklern und Artisten von Markt zu Markt, stellte Arzneien her und besaß das kurfürstliche Recht zu behandeln. Eine Statue über dem Sterbehaus sowie die Grabstätte an der Aegidi-Kirche erinnern an ihn. Schlag Zwölf öffnen sich im Rathausgiebel zwei Türchen und ein Glockenspiel mit Figuren zeigt den legendären Arzt bei der Arbeit.

Unendlich erscheint die Fahrt durch den sagenhaft dichten Reinhardswald, dem größten zusammenhängenden Waldgebiet Hessens, der wie im tiefen Zauberschlaf daliegt. Auf dem Hügel steht die Sababurg, die als „Schloss aus „Dornröschen“ dienen könnte. Rosen blühen überall, auch im Burggarten, wo ein Märchenrundgang mit elf Stahlschnitten des Künstlers Alfons Holtgreve gerade eröffnet wurde. Günther Koseck hat das einstige Jagdschloss in ein Genießer- und Erlebnishotel verwandelt, dessen Hofstaat glücklicherweise nicht eingeschlafen ist. In der Küche flackert auf dem Herd immer ein Feuer. Der Koch bringt kulinarische Köstlichkeiten auf den Tisch. Dornröschen hält regelmäßig Märchen-Audienzen.

Tauben haben in Polle an der Weser viel zu tun. „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen ...“ heißt es im Aschenputtelzimmer der Touristeninformation. Eigentlich gehört der Flecken in Niedersachsen ins Sagenreich des Münchhausenlandes. Doch obwohl der Lügenbaron noch 74-jährig eine Dame aus Polle geheiratet haben soll, hat sich die Gemeinde Cinderella verschrieben. Die örtliche Laienspielgruppe spielt das Märchen in der mittelalterlichen Burgruine, wo der blaublütige Verehrer das Herz des Mädchens gewinnt.

Im Zentrum der Weserstadt Hameln hört man ihn schon, den Rattenfänger mit seinem Flötenspiel. Als die Stadt vor langer Zeit unter einer Rattenplage litt, riefen die Ratsherren ihn zu Hilfe. Doch weil sie ihn um seinen Lohn prellten, griff er erneut zur Silberflöte und verschwand mit allen Kindern der Stadt. „Man muss halten, was man verspricht“, sagt Michael Boyer, der Profi-Rattenfänger für große und kleine Gäste. Im Fachwerk des alten Rattenfängerhauses belegt ein geschnitztes Spruchband, was sich anno 1284 zugetragen haben soll.

„Es gibt 56 Theorien“, weiß Boyer. Er selbst halte sich an die Brüder Grimm. Zwischen dem alten und dem neuen Rattenfängerbrunnen führt Boyer seine Fans zu Fachwerkhäusern aus dem Mittelalter und am Ende ins Museum Hameln, in dem Geheimnis und Magie des Rattenkults wissenschaftlich und spielerisch aufgearbeitet werden. Neuerdings können die Besucher Grimms Erzählung im begehbaren, mechanischen Rattenfänger-Theater nacherleben. Märchen, so scheint’s, werden nie unmodern.

Beate Schümann

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