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Der Himmel über Brandenburg. Nirgends in Deutschland sieht man so gut Sterne wie in Gülpe.

© Thomas Becker · Tagesspiegel

Reise zum Sternenpark Westhavelland: Wo die Dunkelheit gerettet wird

Einer der finstersten Flecken Deutschlands liegt im Westen Brandenburgs. Ideale Bedingungen für Hobbyastronomen. Doch mit den Touristen kommen auch Probleme.

Von Markus Lücker

Versprochen war die Unendlichkeit des Alls. Ein ungetrübter Blick auf die Milchstraße und ein grandioser Nachthimmel. So stand es in den Werbebroschüren zum Westhavelland. Doch drei Stunden vor Sonnenuntergang schaut Thomas Becker erst mal auf Florfliegen. Eigentlich wollte er nur seine Teleskope präsentieren. Unbedacht hat er die Schutzplane von seiner Sternenausrüstung gezogen, jetzt krabbelt und schwirrt ihm ein ganzer Schwarm der weißgeflügelten Insekten entgegen. Er fuchtelt. „Die machen sich schon bereit für die Winterruhe“, erklärt Becker.

Viel mehr als Schlafen ist in dem winzigen Ort Parey, wo Becker seine Teleskope hat, auch nicht möglich. Die Sehenswürdigkeiten beschränken sich auf eine 1831 gebaute Kirche im neogotischen Backsteinstil, ein verlassenes Bauernhaus mit eingestürztem Dach und ein paar Straßenlaternen. Ansonsten Wiesen, Wind, Nichts.

Aus Mangel an Alternativen hat Parey die Leere zum Konzept erhoben. Nur an wenigen Orten in Deutschland ist die Nacht so dunkel wie im Westhavelland. Vor fünf Jahren ernannte die International Dark-Sky Association das Gebiet deshalb zum ersten deutschen Schutzreservat für einen finsteren Nachthimmel. 1315 Quadratkilometer im Dienste der Dunkelheit, eine Fläche fast doppelt so groß wie Hamburg. Lampen wurden umgerüstet, Beleuchtungskonzepte erstellt. Der entscheidende Vorteil des Westhavellands: Wo nicht viel ist, kann nur wenig störend leuchten.

Perfekte Momente sind selten

Seitdem ist das Gebiet am westlichen Rand von Brandenburg zu einem zentralen Anlaufpunkte für Astronomie-Begeisterte geworden. Denn je schwärzer die Nacht, desto besser lassen sich Sterne beobachten. Die Reisenden suchen Isolation, Entschleunigung, Kontakt zur Natur. Hotels im nahe gelegenen Rathenow werben mit romantischen Abenden unter der Milchstraße. Gastgeber stellen Liegen, Rotwein und Heizdecken bereit.

In einer wolkenlosen Nacht ist der Blick ungetrübt.
In einer wolkenlosen Nacht ist der Blick ungetrübt.

© Thomas Becker

Becker betreut das Schutzgebiet im Auftrag der örtlichen Naturverwaltung. Doch wer Sternen nachjagt, muss auch für Enttäuschungen bereit sein. Das hat der Parkmanager in den Jahrzehnten gelernt, in denen er als Hobbyastronom durch die Nächte zieht. Plötzlich aufziehender Nebel oder Staub in der Luft können den Blick behindern. Wind lässt das Teleskop schwanken – besonders nervig, falls man Fotos machen möchte.

Perfekte Momente sind selten. Solche wie im März 1996. Becker, damals noch Teenager, steht auf einem Rastplatz in der Brandenburger Provinz. Am Himmel saust der Komet Hyakutake vorüber. „Der ganze Himmel war voll mit seinem Schweif“, erzählt er. Einen kompletten Film verknipst er mit seiner Analogkamera, während die Eltern auf ihn im Auto warten. Die Bilder hat er noch heute.

Die Enttäuschung bahnt sich an

Aufbruch, eine Stunde vor Sonnenuntergang. Becker bleibt zurück, bei ihm stehen noch Lichtmessungen auf dem Aufgabenplan. Mit dem Fahrrad geht es ohne seine Begleitung von Parey aus tiefer in die Wildnis, vorbei an Wiesen und Wiesen und Wiesen. Die Kälte treibt das Blut aus den Fingerspitzen. Einmal plumpst rechts etwas in den Wassergraben. Drei pelzige Tierchen schwimmen davon. Vielleicht sind es Otter, vielleicht Biber.

Ziel der Fahrt ist der Gülper See. Dort soll es in der Nacht noch dunkler werden. Und schließlich braucht es den idealen Beobachtungspunkt für den perfekten Sternenhimmel. Die Website des Parks hat für solche Orte ein eigenes Ordnungssystem eingerichtet. In Kategorien wie „störende Fahrzeuge“ und „Rundumsicht“ werden bis zu 25 Punkte vergeben. Am besten bewertet sind „Abgelegene Plätze ohne Infrastruktur“. Meist handelt es sich um Grasflächen an Feldwegen. Die Unterschiede zu allen anderen abgelegenen Plätzen ohne Infrastruktur in der Region erkennt vermutlich nur der Profi.

Da bahnt sich die erste Enttäuschung an: Regenwolken am Horizont. Aber der ausdauernde Sternengucker lässt sich von so was nicht abschrecken. Aus dem kleinen Wassergraben wird mit fortschreitender Strecke zunächst ein Bach, dann ein Fluss und schließlich der Gülper See, in Broschüren beworben als Brut- und Rastplatz verschiedenster Vogelarten. In all seiner Pracht liegt er da – für Blicke uneinsichtig hinter einer meterhohen Wand aus Schilf verborgen. Noch so eine Enttäuschung.

Es ist ein Spagat mit dem Tourismus

Auf einem überwucherten Pfad haben drei Ornithologen ihr Lager aufgeschlagen. Neben einem Transporter in Tarnfarben sitzen sie um ein Lagerfeuer. Da ist Steve, der Naturschutzgutachten für Windparks erstellt. Ingenieur Jan kümmert sich um Tofuwürste auf dem Grillrost. Und da hockt Bert, der über sich selbst sagt „Ich komme aus der Klapse“ und damit meint, dass er in einer Psychiatrie arbeitet. Sein Gesicht ist kaum zu erkennen. Das meiste wird von einem enormen Bart und einer Kapuze in Camouflage-Optik verdeckt.

Seit er 13 ist, kommt Bert an den See. Er erlebte mit, wie für den Sternenpark die Fahrradwege ausgebaut wurden und die Touristen kamen. „Es ist ein Spagat“, sagt er und schnieft, weil die Kälte die Nase zum Laufen bringt. Einerseits profitierten Tiere von der Dunkelheit, deren Orientierungssinn von zu viel Licht durcheinandergerate. Andererseits sieht er Touristenpärchen, die für Selfies über die Schutzzäune zum See klettern und dabei die Silberreiher aufschrecken. „Dann ist der Naturschutz auch dahin.“

Einige der Reiher gleiten gerade hinter dem Schilf durch die Luft. In dem zurückgehenden Licht haben die Vögel vor dem grauen Himmel jegliche Konturen verloren. Nur manchmal reflektieren die Schemen ihres Gefieders die Strahlen der untergehenden Sonne. Dann sieht es aus, als würden kleine weiße Blitze über das Wasser kreisen. Die drei Ornithologen wollen am nächsten Tag die Südseite des Sees erkunden. Vielleicht treffe man sich ja wieder.

Die Wolken bleiben, hängen tief. Es wird Nacht. Statt Sternen gibt es den befürchteten Regen. Nur im Lichtkegel des Fahrrads lässt sich grob erahnen, wo ein Weg verläuft. Irgendwo in der Nähe muss „Beobachtungsplatz 2“ der Kategorie „Abgelegene Orte ohne Infrastruktur“ liegen. Der Internetauftritt des Parks lobt ihn für seine wenigen störenden Bäume: 19 von 25 Punkte in der Gesamtwertung. Doch das Wetter vereitelt jeden freien Blick nach oben.

Reise zum Herzen der Finsternis

Nächster Tag, kurz vor Sonnenuntergang, ein zweiter Versuch. Auf der Südseite des Sees ist kein einziger Mensch zu finden. Nur ein verlassener Unterstand für Vogelbeobachter. Der Blick geht aufs Wasser, auf Wellen, auf Nichts. Viel Grau, viele Wolken und die Ahnung, dass der Blick auf das All auch an diesem Abend wieder verborgen bleiben wird. Mit einem roten Marker hat jemand den Satz „Living young and wild and free“ auf das Holz des Unterstands geschrieben. Junges, wildes, freies Leben.

Polarlicht im Sternenpark Westhavelland.
Polarlicht im Sternenpark Westhavelland.

© Thomas Becker

Ganz in der Nähe liegt Gülpe, das Herz der Finsternis. Jedes Jahr im Spätsommer findet dort das Westhavelländer Astrotreffen statt. Die Tickets für 2020 sind bereits zur Hälfte reserviert. Jetzt fliegen im Minutentakt Gänseformationen am Himmel und hüllen den Ort in ein konstantes Geschnatter.

„Blässgänse“, präzisiert Martin Miethke. Die grauen Haare hängen ihm lang unter der Wintermütze hervor. Seit 13 Jahren lebt er in Gülpe. Wenn er nicht gerade für einen von drei Männerchören in der Region singt, bietet er Sternenführungen an. Vor allem, weil ihm die vielfältige Landschaft gefällt. Vielfältig? Er habe vorher in Bayern gewohnt, sagt er. Da war es ihm zu aufgeräumt. „Nur Berge und Agrarflächen.“ In Gülpe finde er immer wieder etwas Neues.

Hunderte Punkte strahlen am Himmel

Die Tour startet. Ein paar Hundert Meter geht es aus dem Ort hinaus. Mit einer Stirnlampe führt Miethke den Weg entlang. Manchmal versteht er die Aufregung um den Sternenhimmel nicht, sagt er. Als junger Mann sei er für einen Monat nach Guinea gereist, um in einem Dorf das Spielen der Djembé-Trommel zu erlernen. Was man halt so macht. Nachts habe dort absolute Dunkelheit geherrscht: „Den Unterschied zwischen Erde und Himmel sah ich nur, weil irgendwann die Sterne aufhörten.“

Er kommt zum Stehen. Dann, tatsächlich, reißen über einem Feldweg zwischen Pfützen und drei kargen Sträuchern die Wolken auf: Hunderte Punkte strahlen durch das Loch im Himmel. Ein Satellit – nein, gleich zwei – düsen durch die Dunkelheit, wie ein paar Sternschnuppen, die einfach nicht verglühen wollen. Ganz oben schimmert die versprochene Milchstraße.

Martin Miethke beginnt zu erklären. Und aus den Worten über Konstellationen werden ausgestreckte Finger und aus Spiralen der Galaxien weit kreisende Arme und Pirouetten. Jedes Himmelsobjekt wird zu einer eigenen Choreographie von Miethke. Es ist nicht perfekt – kein Hyakutake, nicht Guinea –, aber ziemlich nahe dran.

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