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Adel definiert sich heute nur anders...

© Karikatur: Klaus Stuttmann

Reich bleibt reich, arm bleibt arm: Und die Privilegiertesten schotten sich noch immer ab

Seit 1919 verschafft Abstammung keine Vorteile mehr. Doch Vermögen, Anerkennung, Bildung und Macht werden heute immer noch vererbt. Ein Essay.

Ein Essay von Hannes Soltau

Unter Kindern kursiert heute noch ein Abzählreim: „Kaiser, König, Edelmann – Bürger, Bauer, Bettelmann – Du bist nicht, doch du bist dran.“ In dem arglos daherkommenden Vers taucht eine vergangene Welt auf, die mit der heutigen politischen Realität vermeintlich wenig zu tun hat. Eine Ständegesellschaft mit sozialer Rangordnung? Die sollte in Deutschland Geschichte sein.

Vor einem Jahrhundert, im Jahr 1919, wurden die Adelsprivilegien abgeschafft. Bis dahin waren Angehörige der Aristokratie von der Wehrpflicht befreit, hatten privilegierte Zugänge im Staatsdienst und mussten keine Steuern zahlen.

Mit der Weimarer Verfassung war das überwunden. Da stand: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich (…) Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben.“ Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann rief vom Balkon am Reichstag: „Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue!“

Morsch geworden war der gefestigte politische Herrschaftstand des Adels, der sich auf Abstammung, Tradition und göttliche Absicht berief. Eine sozial exklusive, abgekapselte Gesellschaftsschicht mit ausgeprägtem Standesethos, die aber trotzdem in Anspruch nahm, für die Allgemeinheit zu handeln. Im Neuen, der Republik, sollte kein Mensch mehr qua Geburt bevorzugt, sollten Privilegien und Status einzig Verdienst von Leistung und Fleiß sein. Das bürgerliche Glücksversprechen hieß Chancengleichheit.

Ein wahrlich hoher Anspruch, der bis heute die Legitimationsgrundlage der Sozialen Marktwirtschaft bildet. Der sich aber mit der Herausforderung konfrontiert sieht, dass sich auch jenseits von aristokratischen Privilegien wirkmächtige Dynastien entwickeln können. Die Herkunft als zentraler Faktor sozialer Ungleichheit ist keineswegs überwunden. Vermögen, Anerkennung, Bildung und Macht werden heute noch immer innerhalb von abgegrenzten sozialen Gruppen, Seilschaften und Familien vererbt.

Elemente einer Ständegesellschaft

Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz erkennt in den mehrheitsfähigen Klagen darüber, wie ungerecht Deutschland sei, ein altbekanntes Motiv: Da stünden jene, die den Eindruck haben, Wohlstand und Zufriedenheit erreicht zu haben, neben jenen, die das Gefühl schildern, abgehängt zu sein.

Wie früher die festgeschriebenen Vorrechte der höheren Stände teilt heute die vorherrschende Marktlogik die Bevölkerung in stabile Gruppen: reich bleibt reich, arm bleibt arm. Einflussreich bleibt einflussreich, einflusslos bleibt einflusslos. Bildungsbürger bleiben, wer sie waren, das Prekariat in der Regel auch. Und so tauchen auch im liberal-demokratischen Gewand der Gegenwart Elemente einer Ständegesellschaft auf.

Die Abschottung der Privilegiertesten funktioniert noch immer durch Selbstrekrutierung. Zwar gilt der allgemeine Zugang zu Bildung als Grundlage für Aufstiegsmöglichkeiten, doch das ist weithin ein Mythos, den auch die Pisa-Studien widerlegen. Wann immer aufgezeigt wird, wie stark gute Ergebnisse beim Test mit der sozialen Herkunft zusammenhängen, geht ein betroffenes Raunen durchs Land – dann ist wieder Ruhe. Dabei sind die negativen Auswirkungen von sozioökonomischer Benachteiligung in Deutschland sogar besonders deutlich ausgeprägt. Dem Hochschulbildungsreport zufolge beginnen gerade einmal 21 Prozent der Kinder aus Nichtakademikerhaushalten ein Studium, unter den Akademikerkindern sind es hingegen 74 Prozent.

„Bildung wird in Deutschland immer noch überdurchschnittlich stark vererbt“, sagt Ulrich Hinz, der bei der Stiftung der Deutschen Wirtschaft den Bereich Schülerförderung leitet. Die Zahl der Privatschulen ist von 1992 bis 2017 um 81 Prozent gestiegen. Und die meisten Privatschüler stammen aus gut situierten, bildungsnahen Familien und haben nur selten einen Migrationshintergrund. Auch im Parlament, das sich „das Volk“ frei zusammenwählen kann, ist ein Missstand erkennbar: Den 80 Prozent der Bundestagsabgeordneten mit abgeschlossenem Studium stehen 17 Prozent Akademiker in der Bevölkerung gegenüber. Die Lebensrealität eines Großteils der Wahlberechtigten ist sichtlich unterrepräsentiert – was die Entfremdung von demokratischen Institutionen begünstigt.

"Du an Deiner Drehbank, Ich auf meinem Thron“

Wilhelm II. hatte noch bei seinem letzten öffentlichen Auftritt als Deutscher Kaiser am 10. September 1918 vor Arbeitern der Kruppschen Werke in Essen die gottgegebene Legitimität seines Herrschaftsanspruchs betont: „Wir sind von oben abkommandiert, ein jeder an seinem Platz, Du an Deinem Hammer, Du an Deiner Drehbank, Ich auf meinem Thron.“

Zwei Monate später tauschte er im niederländischen Exil seine Paradeuniform gegen zivile Kleidung ein. Eine anachronistisch gewordene, jahrhundertealte Welt der Hochwohlgeborenen und Durchlauchten wurde in jenem Herbst endgültig aus den Angeln gehoben. Hinweggefegt waren Institutionen, die eben noch als selbstverständlich und geachtet galten.

Doch 2017 attestierte eine Forschergruppe um den französischen Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty Deutschland in ihrem „Weltreport über Ungleichheit“ so viel ökonomische Ungleichverteilung wie zuletzt 1913, also im Kaiserreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Erträge des Wirtschaftswunders zwar lange Zeit auf breite Schichten der Bevölkerung verteilt.

Doch heute besitzen hierzulande die zehn reichsten Prozent 56 Prozent des Gesamtvermögens, auf die untere Hälfte hingegen entfällt ein Anteil von 1,3 Prozent. Das reichste Prozent der Bundesbürger besitzt sogar so viel wie die unteren 75 Prozent. In kaum einem anderen Mitgliedsstaat der europäischen Währungsunion sind die Privatvermögen so ungleich verteilt wie hierzulande.

Es ist eine Dynamik, die sich noch verschärfen dürfte: Gerade Immobilienbesitzer, also jene, die ohnehin über Werte verfügen, erzielten auf dem überhitzten Wohnungsmarkt in den vergangenen Jahren deutliche Wertsteigerungen und Renditen. Zudem wird Einkommen aus Kapital immer wichtiger, doch nur jeder achte Bundesbürger ist überhaupt Aktionär oder im Besitz von Fondsanteilen. Kleinsparer mit Girokonten und Sparbüchern hingegen verlieren Geld durch die Niedrigzinspolitik.

Großerben werden geschont

„Moral ist gut, Erbschaft ist besser“, wusste schon der Chronist des liberalen Aufbruchs Theodor Fontane. Erst vor wenigen Tagen offenbarten Zahlen der Bundesregierung, wie massiv Deutschland Großerben schont. Wer im vergangenen Jahr 100 Millionen Euro oder mehr erbte, zahlte im Schnitt nur eine Steuer von 0,2 Prozent – denn Betriebsvermögen werden bei der Erbschaftsteuer geschont. Während am oberen Ende der deutschen Wohlstandsgesellschaft der Spitzensteuersatz gesenkt und die Vermögensteuer ausgesetzt wurden, existiert auf der anderen Seite ein riesiger Niedriglohnsektor, in dem jeder vierte abhängig Beschäftigte weniger als 10,80 Euro Stundenlohn verdient.

Zu wenig, um davon etwas sparen zu können. Die Reallöhne derjenigen Beschäftigten mit den niedrigsten Stundenlöhnen sind in den vergangenen 25 Jahren um zehn Prozent gesunken. Immer wieder wird extreme Arbeitsausbeutung in Bereichen wie Pflege, Baustellen oder Fleischindustrie dokumentiert. Längst ist belegt, dass nur wenigen der soziale Aufstieg aus dem Prekariat gelingt. Wieder gilt: Du an Deinem Hammer, Du an Deiner Drehbank. Und wer sitzt auf dem Thron?

Wer die neuen Eliten sind, lässt sich bei einem Blick auf eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung ahnen, die feststellt, dass der Abstand zwischen Vorstands- und Mitarbeitervergütung bei den Dax-30-Unternehmen stetig wächst. Betrug das durchschnittliche Vorstandsgehalt im Jahr 2005 noch das 42-fache, lag es 2017 bereits beim 71-fachen – ein neues Rekordhoch. Solche Zahlen haben nichts mehr mit leistungsgerechtem Lohn zu tun.

Einst richtete das liberale Bürgertum sein Arbeitsethos gegen die aristokratische Maßlosigkeit des voraussetzungslosen Genusses. Heute, so stellte der Soziologe Sighard Neckel fest, scheint diese Rechtfertigungsordnung wieder überkommen. Leistung und Entlohnung sind in Managerkreisen wieder voneinander entkoppelt, exorbitante Gehälter demnach Zeugnisse einer Willkür, die wieder schicksalshafte Züge annehme. Die „Millionenfürsten“ in den Vorstandsetagen trügen heute keinerlei unternehmerisches Risiko, argumentiert Neckel, faktisch kämen ihre Einkommen dem Bezug von Renten gleich.

Facebook & Co. sind längst Machtzentren

Zudem bilden sich durch ökonomische Monopolstellungen von Unternehmen wieder unangreifbare Machtzentren heraus. „L’etat, c’est moi“ - Der Staat, das bin ich. Gesagt haben soll das der französische Sonnenkönig Louis XIV. Gegen solche absolutistischen Ansprüche bildete sich eine bürgerliche Öffentlichkeit. Allgemeininteressen sollten in der liberalen Demokratie auch durch die Allgemeinheit bestimmt werden.

Und heute? Bereits 1963 diagnostizierte Jürgen Habermas eine Refeudalisierung der Öffentlichkeit, Einzelinteressen wirtschaftlicher Akteure würden wieder als Gesamtinteressen dargestellt. Neckel spricht gar von einer Rückkehr zu einer „sichtbaren Repräsentation von Herrschaft“. Private Unternehmen wie Facebook und Twitter bestimmen zunehmend die Art der Verhandlung allgemeiner Angelegenheiten, kontrollieren die Kommunikation und Information.

Auf der anderen Seite zeigt die Debatte um den 5G-Ausbau und den chinesischen Hersteller Huawei, wie abhängig der deutsche Staat mittlerweile von Großkonzernen ist. Private Ratingagenturen und Hedgefonds können Länder in den Staatsbankrott treiben. Der politische Raum wird privatisiert. Das gilt auch für sozialstaatliche Leistungen, die durch private Mildtätigkeit wie Tafeln ergänzt, wenn nicht ersetzt werden.

Soziale Ungleichgewichte können Konsequenzen haben. In seinem Vortrag „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ warnte Theodor W. Adorno 1967 vor der „Möglichkeit der permanenten Deklassierung von Schichten, die ihrem subjektiven Klassenbewusstsein nach durchaus bürgerlich waren“. Rechte Bewegungen könne man als „Wundmale, als die Narben einer Demokratie bezeichnen, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute nicht voll gerecht wird“.

Früher bestimmten Lehnsherren, heute die Wirtschaft

Einst waren Leibeigene ihren Lehnsherren ausgeliefert, heute hinterlassen intransparente, sich anonym vollziehende Prozesse der Wirtschaft ein diffuses Bedrohungs- und Machtlosigkeitsgefühl. Es gibt keine Willkürherrscher mehr, die für das eigene Gerechtigkeitsempfinden auf die Guillotine geschickt werden können, Verantwortliche sind schwer auszumachen.

Das Bedürfnis nach Personalisierung und einem Ventil schlägt verstärkt in reaktionäre Muster um. Der Hass auf alles Unübersichtliche und Schwierige spiegelt sich auch im wieder erstarkenden Antisemitismus und Rassismus wider. Das Ressentiment gegenüber „denen da oben“ wird wieder in einem rechten Kulturkampf instrumentalisiert.+

Der Liberalismus war in Deutschland angetreten, um Voraussetzungen zu schaffen, durch die jeder Einzelne seines Glückes Schmied sein könnte. Heute werden in einer in Summe immens reichen Gesellschaft noch immer größere Teile der Bevölkerung von der Teilhabe ausgeschlossen. „Hochwohlgeborene“ stehen nach wie vor jenen „von geringer Geburt“ gegenüber. Solche offensichtlichen Antagonismen zeigen auf, dass das „Morsche“, das Scheidemann einst überwunden glaubte, gesellschaftlich wirksam bleibt.

Soziale Marktwirtschaft sollte laut ihrem Mitbegründer Alfred Müller-Armack „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs verbinden“. Die Tendenz zu gesellschaftlichen Verwerfungen ist im Kapitalismus angelegt.

Doch die Politik hat Steuerungsmöglichkeiten. Gerade erst sprachen sich drei Viertel der Deutschen für die Vermögensteuer aus. Das Prinzip der adeligen Geburt war einst die Herrschaft des Zufalls, dem die demokratische Gesellschaft heute auf dem Papier nicht mehr ausgeliefert ist.

Kaiser, König, Edelmann sind Geschichte. Wenn feudale Verhältnisse jedoch durch die vermeintliche Alternativlosigkeit der ökonomischen Verhältnisse ersetzt werden, ist das ein Rückfall in vormoderne Schicksalsgläubigkeit. Denn zwischen Bürger, Bauer und Bettelmann besteht in einer der reichsten Industrienationen ein Ungleichgewicht mit neofeudalen Zügen fort.

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