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Alice Hasters: "Weiße Menschen haben wenig Übung darin, mit ihrem eigenen Rassismus konfrontiert zu werden."

© Kai-Uwe Heinrich

Nach dem Tod von George Floyd: Stellt euch endlich eurem Problem, liebe Weiße!

Rassismus ist kein amerikanisches Problem - auch in Deutschland gehört er für viele Menschen zum Alltag. Wir empfehlen zum Thema noch einmal diesen Gastbeitrag.

Alice Hasters ist Journalistin, Podcasterin und Autorin. Am 23. September 2019 erschien ihr Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen. Aber wissen sollten“ (hanserblau im Carl Hanser Verlag), auf dem dieser Text basiert, der erstmals im September 2019 im Tagesspiegel erschien. Aufgrund der aktuellen Lage in den USA spielen wir ihn noch einmal aus.

Hautfarbe ist nicht egal. Leider nicht. Das zu ignorieren, bringt uns nicht weiter. Deshalb bezeichne ich mich selbst als Schwarz. Es ist ein wichtiger Teil meiner Identität und spiegelt mein Verhältnis zur Weltgeschichte wider. Ich schreibe „Schwarz“ groß, denn es bezieht sich nicht auf die tatsächliche Farbe meiner Haut, schon gar nicht auf eine biologische „Rasse“. Es ist meine Selbstbezeichnung, Teil meiner Identität.

Selten fühlen sich weiße Menschen so angegriffen, allein und missverstanden wie dann, wenn man sie oder ihre Handlungen rassistisch nennt. Das Wort „Rassismus“ wirkt wie eine Gießkanne voller Scham, ausgekippt über die Benannten. Weil die Scham so groß ist, geht es im Anschluss selten um den Rassismus an sich, sondern darum, dass ich jemandem Rassismus unterstelle.

Weiße Menschen haben so wenig Übung darin, mit ihrem eigenen Rassismus konfrontiert zu werden, dass sie meist wütend darauf reagieren, anfangen zu weinen oder einfach gehen. Für viele Menschen wirkt das R-Wort so, als ob man eine Fliege mit einem Baseballschläger erschlagen würde. Wenn ich jemanden rassistisch nenne, dann hört dieser Mensch meist nicht, was ich ihm oder ihr sage. Was er oder sie hört, ist: „Du bist ein schlechter Mensch. Du bist böse. Du bist ein Nazi.“ Das liegt auch daran, dass Menschen eine einseitige Vorstellung davon haben, was Rassismus ist.

Rassismus soll eine Weltordnung herstellen

Rassismus, so die geläufige Annahme, sei nur offener Hass, Verachtung, und trete seit 1945 nur noch vereinzelt auf. Kaum ein Land habe sich so viel Mühe gegeben wie Deutschland, die eigene rassistische Vergangenheit aufzuarbeiten, heißt es dann. Deshalb sei es jetzt auch mal gut. Und überhaupt: Rassismus gegenüber Schwarzen sei doch ohnehin ein Problem der USA – oder Großbritanniens oder Frankreichs.

Für Rassismus gibt es unterschiedliche Definitionen. Der Historiker Ibram X. Kendi definiert es in seinem Buch „Gebrandmarkt“ zum Beispiel so: „Jegliche Vorstellung, die eine bestimmte ethnische Gruppe als einer anderen ethnischen Gruppe unterlegen oder überlegen betrachtet.“ Doch in einer Welt, in der Ungleichheit besteht, ist auch Rassismus ungleich gewichtet. Viele Menschen gehen davon aus, dass grundsätzlich jede Person von Rassismus betroffen sein könnte. Diese Menschen sehen Rassismus als rein individuelle Haltung. Wie ein einzelner Mensch die Welt für sich ordnet, hat erst einmal wenig Konsequenzen. Doch Rassismus ist ein System, das mit der Absicht entstanden ist, eine bestimmte Weltordnung herzustellen. Es wurde über Jahrhunderte aufgebaut und ist mächtig. Darin wurde die Hierarchie rassifizierter Gruppen festgeschrieben, und die lautet, ganz grob, so: Weiße ganz oben, Schwarze ganz unten.

Die Echokammer heißt: White Supremacy

Wenn also jemand glaubt, Schwarze seien von Natur aus Weißen überlegen, dann ist das zwar theoretisch ein rassistischer Gedanke – aber praktisch ein recht wirkungsloser. Dafür gibt es keine Echokammer, dieser Gedanke wird sich nicht in der Welt widerspiegeln. Anders ist es, wenn jemand glaubt, weiße Menschen seien Schwarzen überlegen. Diese Vorstellung füttert das ohnehin bestehende System. Die Echokammer dafür ist riesig. Dieses System nennt sich White Supremacy – Weiße Vorherrschaft.

Noah Sow merkt in ihrem wichtigen Buch „Deutschland SchwarzWeiß“ an, dass Rassismus nicht erst bei dem Unterlegenheitsgedanken anfängt. Sow schreibt: „Heutzutage ist Rassismus der Glaube, dass Menschen bestimmte Prädispositionen (Veranlagungen) jedweder Art haben.“ Würde man also annehmen: „Weiße Menschen sprechen hoch, Schwarze Menschen haben ein tiefe Stimme“, dann mag da erst einmal keine Wertung vorliegen. Rassistisch ist die Aussage trotzdem.

Wenn man Rassismus als Denkweise begreift, die ausschließlich bewusst und mit böser Absicht erfolgt, dann sind nur wenige Menschen Rassisten. Aber Rassismus ist mehr als das.

Angst vorm Schwarzen Mann

Er ist schon so lang und so massiv in unserer Geschichte, unserer Kultur und unserer Sprache verankert, hat unsere Weltsicht so sehr geprägt, dass wir gar nicht anders können, als in unserer heutigen Welt rassistische Denkmuster zu entwickeln. Rassismus ist in unserem System. So sehr, dass er oft unbewusst geschieht – besonders der sogenannte Alltagsrassismus.

Rassismus wird man also nicht los, nur weil man behauptet, nicht rassistisch zu sein. Es kann zum Beispiel sein, dass man am Tag gegen Rassismus demonstriert – und trotzdem Angst bekommt, wenn ein Schwarzer Mann einem nachts über den Weg läuft. Oder dass man kurz überrascht ist, wenn eine Frau mit Hijab perfekt Deutsch spricht. Auch wenn diejenigen, die auf die andere Straßenseite wechseln oder kurz verdutzt sind, nicht weiter darüber nachdenken und glauben, diese eine Sekunde, diese eine harmlose Handlung bliebe unbemerkt und würde keinen großen Unterschied machen, tut sie es doch. Und zwar für die Betroffenen. Eine deutsche Hijabi bekommt täglich verdutzte Blicke, wenn sie den Mund aufmacht. Ein Schwarzer Mann sieht in seinem Leben Hunderte verängstigte Gesichter, wenn er durch die Straßen läuft. Sie bemerken es. Ich bemerke es.

Diese kleinen Momente, sie wirken wie Mückenstiche. Kaum sichtbar, im Einzelnen auszuhalten, doch in schierer Summe wird der Schmerz unerträglich. Diese Mückenstiche haben einen Namen: Mikroaggressionen. Auch davon gibt es unterschiedliche Abstufungen.

Mikro-Unterdrückungen und die Erfindung der Menschenrassen

Rassismus ist nicht nur offener Hass, er ist strukturell verankert.
Rassismus ist nicht nur offener Hass, er ist strukturell verankert.

© REUTERS

Das können Angriffe oder Beleidigungen sein, wie die Verwendung des N-Wortes oder Aussagen wie: „Wir sind hier in Deutschland.“ Es können unbewusste Handlungen sein, wie wenn eine Frau ihre Tasche umkrallt, sobald ich mich in der Bahn neben sie setze. Aber auch das Negieren und Absprechen der eigenen Perspektive und Erfahrungen gehört dazu. Viele Menschen glauben mir nicht, wenn ich sage, dass alte Frauen Angst vor mir haben und mich für eine Diebin halten. Auch Ignoranz ist eine Form der Mikroaggression. Wer vermeidet, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, kann sich immer mit unschuldiger Unwissenheit herausreden.

Nur weil man sich nie bewusst Gedanken über Herkunft, Hautfarbe und Identität gemacht hat, läuft man nicht vorurteilsfrei durch die Gegend. Man bemerkt nur nicht, dass man diese Vorurteile hat. All diese Verhaltensmuster tragen dazu bei, das rassistische System aufrechtzuerhalten. Es ist quasi Mikro-Unterdrückung.

Noch einmal: Rassismus steckt überall in unserer Gesellschaft. Es ist das Märchen über angeborene Eigenschaften, die Annahme, dass wir von Natur aus verschieden seien. Es braucht nur einen bestimmten Kontext, die passende Stimmung und Verkettung von Ereignissen – schon trägt Rassismus nicht mehr nur am rechten Rand Früchte, sondern wuchert überall.

Lange Verpöntes ist wieder salonfähig

Ein blöder Witz, ein heimlicher Gedanke, ein unüberlegtes Vorurteil – es stammt alles aus der gleichen Geschichte, aus der gleichen historischen Wurzel, und gerade treibt und keimt sie ordentlich. Längst sind Dinge wieder salonfähig geworden, die vor ein paar Jahren noch verpönt schienen.

Vor allem ist es wichtig, eines zu verstehen: Es gibt keine Menschenrassen. Es gibt allerdings die Erfindung der Menschenrassen – die Rassifizierung. Sie dient dazu, eine Hierarchie zwischen Menschengruppen zu etablieren. Bereits Aristoteles fing damit an. Er schrieb über die „Barbaren“ und meinte damit Völker, die seiner Ansicht nach den Griech*innen kulturell unterlegen waren. Später wurde insbesondere nach Familienzugehörigkeit rassifiziert.

Während der Reconquista, den Kreuzzügen und der damit einhergehenden Christianisierung wurde das Konzept der Blutlinien stärker etabliert. Adelsfamilien sicherten so ihren Status, aber es diente auch dazu, weiterhin zwischen „echten Christen“ und beispielsweise ehemaligen Juden und Jüdinnen oder Muslim*innen unterscheiden zu können. Ende des 15. Jahrhunderts setzte ein neues Zeitalter der Rassifizierung ein. Mit der Erkundung der Welt begannen Europäer* innen, eine globale Ordnung herzustellen, die auf Hautfarbe und Ethnie beruhte.

Carl von Linné und seine Hautfarbenlehre

Dieses Denken wurde bis zum 20. Jahrhundert kaum angezweifelt. Ziemlich lang also stützte sich das Verständnis der Europäer*innen von der Welt auf dieses ausgedachte Konstrukt. Dazu trug besonders die verwissenschaftlichte Rassifizierung ab dem 17. Jahrhundert bei. Sogenannte „Rassentheorien“ gab es über die Jahrhunderte einige. Ein maßgeblicher Konstrukteur der Menschenrassen war der schwedische Zoologe Carl von Linné mit seinem Systema Naturae. Er unterteilte die Weltbevölkerung in vier Hautfarben: Weiß für die Europäer*innen, Rot für Amerikaner*innen, Braun für Asiat*innen und Schwarz für Afrikaner*innen. Später änderte er die Farbe der Asiat*innen von Braun zu Gelb. In der Rassentheorie gab es, grob gesagt, zwei unterschiedliche Ansätze. Manche Forschende gingen tatsächlich von unterschiedlichen Menschenrassen aus, die nicht miteinander verwandt waren. Diese These nennt man die „Polygenese“. Andere Forschende vertraten die Theorie der Monogenese, die besagt, alle Menschen wären zwar derselben Abstammung, jedoch unterschiedlich weit entwickelt - beziehungsweise degeneriert. Viele waren damals der Ansicht, dass der Mensch weiß und vollkommen auf die Welt gekommen wäre und sich immer weiter von seinem Ursprung entfernt hätte. Ob Poly- oder Monogenese, alle Forschende kamen zum gleichen Schluss: Unter den „Menschenrassen“ gab es eine Hierarchie. Ganz oben waren weiße Menschen.

Rassismus legitimierte nachträglich den Sklavenhandel

Forschende legten ihre Rassentheorien nach ihren eigenen Interessen aus. Sie erstellten diese Konstrukte, um eine Rechtfertigung zu finden, andere Menschen auszubeuten und zu vereinnahmen. Tupoka Ogette bringt es in ihrem Buch „Exit Racism“ auf den Punkt: „Die Europäer waren nicht zu Sklavenhändlern geworden, weil sie Rassisten waren. Sie wurden zu Rassisten, um Menschen für ihren eigenen Profit versklaven zu können. Sie brauchten eine ideologische Untermauerung; eine moralische Legitimierung ihrer weltweiten Plünderungsindustrie. Kurz und plakativ: Sie wollten gut schlafen.“

Weiße Menschen haben sich selbst zu einer „überlegenen Rasse“ erklärt. Diese Theorie trugen sie während der Kolonialisierung in fast jeden Winkel der Welt. Es stimmt also, dass weiße Menschen in diesen Momenten die Auswirkungen von Rassismus zu spüren kriegen, jedoch – anders als bei mir – nicht als Benachteiligte, sondern als privilegierte Person. Das, was vielleicht unangenehm sein mag, ist die unverdiente positive Aufmerksamkeit. Das heißt nicht, dass alle Begegnungen positiv sind.

Warum Weiße nie Opfer von Rassismus sind

Nette Geste, die aber nichts ändert. Rassismus geht nicht davon weg, dass man sagt, man sei gegen ihn.
Nette Geste, die aber nichts ändert. Rassismus geht nicht davon weg, dass man sagt, man sei gegen ihn.

© picture alliance / dpa

Doch der gravierende Unterschied ist: Weißen Menschen wird vielleicht unterstellt, dass sie wohlhabend seien, oder sie werden als besonders attraktiv wahrgenommen. Vielleicht in einem Ausmaß, das unangenehm oder sogar bedrohlich sein kann. Doch die Attribute, die ihnen zugeschrieben werden, sind positiv und höhergestellt. Die Attribute, die mir zugeschrieben werden, sind negativ und tiefergestellt. Weiße sind also niemals Opfer von Rassismus.

Man wisse ja gar nicht mehr, was man noch sagen dürfe. Die typische Reaktion auf das R-Wort eben. Diese Haltung ist eine Delegitimierung der Wut von Diskriminierten. Ein mediales: „Komm mal runter!“ Die Kultur der Empörung, heißt es dann, kreiere eine bedrohliche Atmosphäre für alle, die potenziell diskriminieren könnten. Die Meinungsfreiheit sei bedroht, von Sprach- und sogar Gedankenpolizei ist die Rede. Meist wird das von Menschen geäußert, die nicht von Diskriminierung betroffen sind. Täter*innen-Opfer-Umkehr eben. Doch noch kniffliger wird es, wenn Menschen, die selbst von Diskriminierung betroffen sind, den Diskriminierenden zur Seite springen.

Die Aufforderung: Passt euch an

Wenn also beispielsweise eine Frau sagt, dass sie Feminismus doof findet oder Schwarze Personen Rassismus für ein Hirngespinst halten. Diese Menschen behaupten oft, sie hätten Diskriminierung noch nie erlebt, und folgern daraus, man würde die Konflikte selbst erzeugen, weil man Aufmerksamkeit bräuchte oder verweichlicht sei. Diese Menschen meinen, besser zu wissen, wie man struktureller Benachteiligung begegnen soll: Man könne all das vermeiden, wenn man sich nur „richtig“ verhalten würde. Sie geben dann gerne Ratschläge, etwa „Dann mach doch die Bluse zu“, oder sagen: „Also, ich bin nicht beleidigt, wenn mich jemand mit dem N-Wort bezeichnet.“

Dahinter steckt die Annahme, dass die Welt einfach so sei, wie sie ist, und anstatt die Welt zu ändern, sollte man sich lieber selbst ändern. Man solle sich anpassen. Sie machen sich zu Kompliz*innen einer Denkweise, die gegen sie arbeitet.

Medien können Vorurteile immens verstärken. Sie können aber auch helfen, sie aufzubrechen. Letzteres passiert leider selten, und das liegt an mangelnder Präsenz und fehlendem Mitspracherecht von nicht-weißen Menschen dort, wo die Geschichten geschrieben werden. Geschichten über BIPoC (BIPoC steht für Schwarze Menschen/Indigene Menschen/People of Color, Anm. d. Red.) werden sehr einseitig erzählt. BIPoC werden gezeigt, wenn es um Armut, Rassismus oder Verbrechen geht, in lieblosen Beziehungen oder Familienstrukturen.

Über allen Berichten liegt der "White Gaze"

Oder sie sind wahnsinnig weise und erhaben. Oder einfach nur witzig. Auf jeden Fall haben sie nur eine Eigenschaft. Sie wissen entweder alles oder nichts und sind nur im Kontext von weißen Menschen relevant - um ihnen das Leben entweder zu erschweren oder zu erleichtern. Ein eigenes Leben, eigene Interessen, Antriebe oder Wünsche haben sie nicht. Die Geschichten über BIPoC, die wir in Büchern, Nachrichten oder Filmen rezipieren, sind von einem weißen Blick geprägt – dem sogenannten White Gaze.

Damit sich BIPoC solche Fragen künftig nicht mehr stellen, muss Folgendes passieren: Mehr Chancen, mehr Optionen, mehr Bilder müssen angeboten werden. Mehr Geschichten müssen erzählt werden. Und ganz wichtig: Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben, Herkünften, Körpern, Geschlechtern und sexuellen Orientierungen müssen mitentscheiden. Es reicht nicht, BIPoC vor die Kamera zu stellen.

Passiert nur das und nichts anderes, kommt es zum Maskottchen-Effekt. Den Begriff habe ich mir ausgedacht. Ich finde, das klingt ganz gut. Aber es gibt auch einen englischen Begriff dafür: Tokenism.

Wir brauchen BIPoC auch hinter der Kamera. Sie müssen durch die Linse schauen, das Licht einrichten, das Skript schreiben, den Ton abnehmen, Regie führen, den Sendeplan bestimmen und Produktionen und Redaktionen leiten. So macht man sie nicht nur sichtbar, sondern trägt auch zu einer strukturellen Veränderung bei – und die ist nötig. Vielfalt ist wichtig, weil sie real ist. Wenn wir divers besetzten, ob in Redaktionen, im Bundestag oder im Lehrer*innenzimmer, dann nicht, weil man einer Utopie nachkommen möchte – sondern der Realität.

Alice Hasters

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