zum Hauptinhalt
In London nimmt die Polizei 1923 einen Mann fest, der sich als Ret Marut ausgibt. Im Verhör gesteht er, Otto Feige zu sein.

© Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf/Slg. Wyatt

Rätselhafte Biografie: Wer war B. Traven?

Vor 50 Jahren starb einer der erfolgreichsten Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts. Zeitlebens hielt er seine Identität geheim.

Von Andreas Austilat

Der emotionalste Nachruf stand im Tagesspiegel: „Ein Che Guevara der Feder“ wurde der gerade verstorbene B. Traven dort genannt. Das war 1969, und mehr Verehrung ging nicht. Doch Guevaras Bild hing seit dessen Revoluzzertod in einem bolivianischen Gebirgstal zwei Jahre zuvor in unzähligen Studentenzimmern. Der Mann war eine Ikone, jeder kannte sein Gesicht. B. Traven hingegen war so rätselhaft wie sein stets abgekürzter Vorname.

Er hatte den Elenden und Entrechteten eine Stimme verliehen, seine Bücher waren in 24 Sprachen übersetzt worden, mit 30 Millionen verkauften Exemplaren weltweit war er einer der erfolgreichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Nun war er also tot, am 26. März 1969 gestorben in Mexiko-Stadt. Wenigstens das war gewiss, viel mehr allerdings nicht. Denn als B. Traven war er ganz bestimmt nicht geboren worden – wo auch immer das gewesen sein mochte.

Über den Tod hinaus bewahrte der geheimnisvolle Autor seinen Mythos. Auf den testamentarisch verfügten Wunsch hin verstreute man seine Asche aus einem Flugzeug über dem Urwald der mexikanischen Provinz Chiapas. Das war der Schlussakkord, aber nicht das Ende. Auch wenn es immer wieder Journalisten gab, die vollmundig verkündeten, das Rätsel B. Traven sei gelöst: Die Suche nach seiner Identität ging unvermittelt weiter, für manche geht sie das bis heute – obwohl die Wissenschaft mittlerweile sichere Erkenntnisse zu Travens Biografie vorweisen kann.

Entschleierung eines rätselhaften Lebens

Wer war der Mann, der die Nöte der Proletarier im Kapitalismus der Hochindustrialisierung zum Thema machte? Etwa ein vom Glauben abgefallener Hohenzollernprinz, wie gemutmaßt wurde? Oder Jack London, der demnach nicht 1916 gestorben, sondern in Wahrheit untergetaucht war, um weiterzuschreiben?

Für solche Theorien hat Jan-Christoph Hauschild nur Spott übrig. Nach Jahren der Recherche ist sich der Mann mit der Nickelbrille, der als städtischer Angestellter in einer Dachkammer des Düsseldorfer Heinrich-Heine-Instituts einer Halbtagsarbeit nachgeht, absolut sicher. Hauschild hatte bereits Biografien über Heine, Heiner Müller und Georg Büchner vorgelegt, bevor er jüngst sein zweites Buch über B. Traven veröffentlichte. „Das Phantom“ ist der Band aus der Edition Tiamat überschrieben und so etwas wie die endgültige Entschleierung eines rätselhaften Lebens.

1924 lässt er sich in Mexiko als B. Traven Torsvan registrieren. Das Foto stammt wohl von 1926.
1924 lässt er sich in Mexiko als B. Traven Torsvan registrieren. Das Foto stammt wohl von 1926.

© Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf/Slg. Wyatt

Hauschild, Jahrgang 1955, wuchs gewissermaßen mit B. Traven auf. Sein Vater, ein gelernter Konditor, schätzte den Autor, vor allem dessen aufmüpfige Haltung – und zwar besonders dann, wenn er sich über seine Chefs geärgert hatte. Bei Hauschild senior stand das beinahe komplette Werk im Bücherschrank, und als 1967 der Fünfteiler „Im Busch von Mexiko“ im deutschen Fernsehen lief, lud er seinen Sohn ein, mitzugucken. Die vermeintliche Dokumentation, die ziemlich viel Fiktion enthält, ist heute Fernsehgeschichte. Es war die allererste Produktion von „Stern TV“ und schildert die als Abenteuer inszenierte Suche des „Stern“-Reporters Gerd Heidemann nach der Legende B. Traven.

Handelte es sich um einen Spross Kaiser Wilhelms?

Heidemann, der später seine Karriere als Entdecker der in Wirklichkeit gefälschten Hitler-Tagebücher ruinierte, kam B. Traven ziemlich nahe, konnte sogar ein paar Sekunden Filmbilder vorweisen – darauf ein gebrechlich wirkender älterer Herr in seinen 80ern. Die Biografie, die er dabei enthüllte, war einschließlich des Gerüchts, es könnte sich um einen illegitimen Spross Kaiser Wilhelms handeln, ein Sammelsurium aus anderswo abgeschriebenen Versatzstücken und hatte mit Travens echtem Leben nur am Rande zu tun.

1926 schließt sich Traven einer Expedition in die mexikanische Provinz Chiapas an. Er ist auf Stoffsuche.
1926 schließt sich Traven einer Expedition in die mexikanische Provinz Chiapas an. Er ist auf Stoffsuche.

© Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf/Slg. Wyatt

Hauschilds kindliches Interesse konnte die Doku nicht wecken. So stieß er erst wieder auf B. Traven, als er sich 2009 für die regelmäßigen Bahnfahrten zwischen Wohn- und Arbeitsstätte eines von dessen Büchern aus dem väterlichen Nachlass zog: „Die Baumwollpflücker“, die Geschichte jener Verzweifelten, die auf den Plantagen und in den Slums Mittelamerikas ihr Leben fristeten, im Kampf gegen hartherzige Ausbeuter. Hauschild wohnte im Ruhrgebiet und las nun mit Verwunderung, wie B. Traven mitten im mexikanischen Busch fabulierte, ein Ölfeld könne so romantisch sein wie eine Kohlenzeche in Herne. Was mochte B. Traven für eine Verbindung in die Region haben? Seine detektivische Neugier war geweckt.

Die literarische Karriere des B. Traven beginnt nach allem, was man sicher weiß, 1925 im fernen Mexiko. Das Land ist zu jener Zeit neben der jungen Sowjetunion das einzige der Welt, in dem Revolutionäre die alte Ordnung bezwungen haben. Von hier schickt B. Traven ein erstes Romanmanuskript nach Deutschland.

Ein Starautor, der den Ton der Proletarier trifft

„Das Totenschiff“ kommt 1959 auf die Leinwand, mit Horst Buchholz und Mario Adorf in den Hauptrollen.
„Das Totenschiff“ kommt 1959 auf die Leinwand, mit Horst Buchholz und Mario Adorf in den Hauptrollen.

© Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf/Slg. Wyatt

Es sind „Die Baumwollpflücker“. Der „Vorwärts“, die Parteizeitung der Sozialdemokraten, bringt sie als Serie. Schon das nächste Manuskript, „Das Totenschiff“, wird ein Hit. Das Totenschiff ist ein überversicherter Seelenverkäufer, dessen Reeder nur eines im Sinn hat: Der rostige Kahn möge dem Untergang entgegendampfen. Angeheuert haben Matrosen ohne Pass, damit ohne Heimat und ohne Zukunft. Fehlende Papiere sind ein Motiv, das B. Traven umtreibt. Ebenso der Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung.

Das Buch erscheint in der Büchergilde Gutenberg, einem noch jungen Verlag im sozialdemokratischen Gewerkschaftsmilieu. B. Traven wird ihr Starautor, ein Schriftsteller, der den Ton der Proletarier trifft, einer der ihren ist, nur eben in der abenteuerlichen Version.

Seine Texte sind keine pädagogischen Traktate, da wird geflucht, ziemlich derbe sogar – Hurensohn ist eine von Travens Lieblingsvokabeln. Es wird gelitten und ab und an wird auch mal triumphiert. Das Beste aber: Der Autor, so legt er es seinen Verhandlungspartnern nahe, hat all das selbst erlebt, fuhr als Kohlentrimmer zur See, schuftete auf Plantagen und Ölfeldern, plagte sich im Dschungel mit Moskitos, Schlangen und Desperados.

Nur eines mag B. Traven ganz und gar nicht: seine Identität preisgeben. Ihm, dem Aussteiger, der die These von der Befreiung durch Konsumverzicht vertritt, sei die Jagd nach persönlichem Ruhm fremd. Also möge man ihm seine Anonymität lassen. Den Genossen in Deutschland bleibt gar nichts anderes übrig, als mit ihrem Autor brieflich zu kommunizieren, und zwar zunächst postlagernd über Tampico, später über Mexiko-Stadt und Acapulco. Mehr ist nicht drin, nicht einmal eine Hausanschrift mag B. Traven offenbaren.

Er lehnt jegliche Ordnung ab

Der liefert Buch auf Buch, alle Geschichten spielen in Mexiko, alle verheißen immer neue Abenteuer, und alle verkaufen sich bestens. Dafür nehmen die Leute von der Büchergilde in Kauf, was ihnen ihr Autor zumutet. Auch wenn sie immer wieder versuchen, ihn zu bremsen, insbesondere wenn Travens anarchistische Überzeugungen durchschimmern. Er lehnt jegliche Ordnung ab – und nimmt selbst Gewerkschaftsfunktionäre ins Visier. Traven beliefert seinen Verlag aber nicht nur mit Literatur, er sendet auch kleine Geschenke, die die Authentizität seiner Geschichten untermauern. Von einer Expedition in den Süden Mexikos bringt er landestypisches Kunsthandwerk mit, indigenes Spielzeug, Gebrauchsgegenstände, schickt sie nach Deutschland, geeignet für Mexikoabende als Werbeveranstaltungen, die Traven seinen Lesern näherbringen sollen: „Dieser Mann, dessen Heimat die ganze Erde ist.“

Der Roman „Die weiße Rose“ spielt wie die meisten seiner Bücher in Mexiko. Dort wird nach dem Autor gesucht.
Der Roman „Die weiße Rose“ spielt wie die meisten seiner Bücher in Mexiko. Dort wird nach dem Autor gesucht.

© Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf/Slg. Wyatt

Schon damals gibt es Leute, die glauben, B. Traven sei in Wirklichkeit ein gewisser Ret Marut. Hauschild verfolgte Maruts Spur bis ins Jahr 1907 zurück. In jenem Jahr steht dessen Name erstmals in den Programmen verschiedener deutscher Theater, auch als Autor macht er sich einen Namen. Marut gibt vor, US-Amerikaner zu sein, geboren in San Francisco. Die kalifornische Hafenstadt hat 1907 eine besondere Anziehungskraft auf Leute ohne Papiere. Denn das Erdbeben und der Stadtbrand im Jahr zuvor legten auch San Franciscos Archive in Schutt und Asche.

Die angeblich amerikanische Herkunft macht Ret Marut nicht nur interessant, sie erspart ihm die Teilnahme am Ersten Weltkrieg, jedenfalls solange die USA neutral bleiben. Nach deren Kriegseintritt taucht er in der Münchner Boheme unter. Marut ist zu jener Zeit Autor und Herausgeber des „Ziegelbrenner“, einer Zeitschrift, die sich mit anarchistischem Witz im Untertitel zur „Kritik an Zuständen und an widerwärtigen Zeitgenossen“ bekennt.

Die Nazis deklarieren ihn zur Schande für Deutschland

Am Ende des Ersten Weltkriegs mischt Marut plötzlich während der Münchner Revolutionstage 1918 in der frisch ausgerufenen Räterepublik mit und gerät in Lebensgefahr, als die brutal niedergeschlagen wird. Ihm droht das Standgericht, vielleicht die Erschießung. Marut flieht und bleibt verschwunden. Sollte er sich nach Mexiko abgesetzt haben? Kampfgefährten aus Münchner Rätetagen appellieren an B. Traven in Mexiko, sich zu bekennen. Der streitet ab.

Mit dem Machtantritt der Nazis wird Traven, der Adolf Hitler als österreichischen Clown bezeichnet, zur Schande für Deutschland deklariert. Seine Romane zählen zu denen, die öffentlich verbrannt werden, die Büchergilde übernehmen die Nazis. Traven können sie damit nicht viel anhaben, seine Bücher werden längst international gelesen, schließlich wird auch Hollywood auf ihn aufmerksam. John Huston verfilmt 1948 „Der Schatz der Sierra Madre“ mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle.

Am Set taucht ein schmächtiger älterer Herr auf, der sich als Hal Croves und Bevollmächtigter des Autors B. Traven ausgibt. Auch Croves behauptet, Amerikaner zu sein, es gibt allerdings Leute am Drehort, die halten seinen Akzent für irgendwie skandinavisch und wundern sich über Hal Croves auffällige Kamerascheu.

Für den echten B. Traven interessieren sich mittlerweile nicht mehr nur die Deutschen, sondern auch Amerikaner und Mexikaner. Seine Identität ist in den 50er und 60er Jahren ein Dauerbrenner in den Zeitungen, von 5000 Dollar Belohnung wird da berichtet.

Otto Feige, geboren 1882 in Schwiebus

1905 in Magdeburg, wo Feige in Debattierzirkeln und Arbeiterbühnen aktiv ist – spätere Grundlagen für B. Traven.
1905 in Magdeburg, wo Feige in Debattierzirkeln und Arbeiterbühnen aktiv ist – spätere Grundlagen für B. Traven.

© Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf/Slg. Wyatt

Warum verteidigt Traven seine Anonymität so hartnäckig? Die Gründe sind vielfältig, glaubt Jan-Christoph Hauschild. Traven erschlich sich die Einreise nach Mexiko unter falschem Namen. Und er hat seinen Lesern eine Authentizität vorgegaukelt, die nie der Wahrheit entsprach. Weil er kein Heizer auf See war, kein Plantagenarbeiter, sich vieles von dem, was er behauptete zu sein, wohl nur angelesen hat. Die Enttarnung hätte ihn in die Nähe Karl Mays gerückt, B. Traven musste fürchten, wie jener als Hochstapler zu gelten, glaubt Hauschild, dessen Biografie deutliche Distanz wahrt, alles andere als empathisch ist.

Nun, anders als der Winnetou-Erfinder, der nie im Wilden Westen war, lebt Traven sein halbes Leben in Mexiko, dem Schauplatz seiner Romane. Dort heiratet er als Traven Torsvan, geboren 1890 in Chicago, dort stirbt er unter diesem Namen. Wie viel seine Frau über seine Herkunft wusste, ist nicht sicher.

Ein BBC-Journalist kommt auf die richtige Spur

Die Forschung hat heute ein ziemlich klares Bild davon, wer der Schriftsteller war. Unstrittig ist, dass Traven Torsvan identisch ist mit B. Traven, Hal Croves und Ret Marut. Als Letzterer muss er wenigstens einmal zur See gefahren sein, vielleicht sogar als Heizer – nach Mexiko nämlich. Denn 1925 haben die Briten Ret Marut in London verhaftet und als unerwünschten Ausländer loszuwerden versucht. Also besteigt er ein norwegisches Schiff, doch wann und wo er es verlässt, ist schon Teil der Legende. Denn irgendjemand strich irgendwann seinen Namen auf der Mannschaftsliste wieder durch.

Aber dieses eine Mal, in britischer Abschiebehaft, bleibt dem großen Unbekannten mit den vielen Namen nichts anderes übrig, als seine wahre Identität zu offenbaren: Otto Feige, geboren 1882 in Schwiebus, damals Brandenburg, heute Polen. Dem britischen BBC-Journalisten Will Wyatt gelang es in den 1970er Jahren, die Polizeiakte ausfindig zu machen und so auf die richtige Spur zu kommen. Eine Spur, die er quer durch alte Schiffsregister hin bis nach Mexiko verfolgt.

Das Geburtshaus von Otto Feige im damals brandenburgischen Schwiebus, dem heute polnischen Swiebodzin.
Das Geburtshaus von Otto Feige im damals brandenburgischen Schwiebus, dem heute polnischen Swiebodzin.

© Hauschild

Otto Feige, das aber klang der eingeschworenen Fangemeinde des mysteriösen Schriftstellers doch zu banal. Und konnte der Prolet aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet, wie manche Experten nun fragen, tatsächlich all diese Bücher schreiben, englisch sprechen, spanisch und französisch? So wurde bis in die jüngste Vergangenheit weiter spekuliert, wurden noch mehr Doppelgänger ausfindig gemacht, darunter etliche, die B. Traven selbst in Umlauf gebracht hatte.

Über B. Travens Leben ist alles gesagt

Jan-Christoph Hauschild nahm die Spur auf. Erst überließ ihm BBC-Mann Will Wyatt sein mustergültiges Recherchearchiv, das er später dem Heine-Institut schenkte. Dann durchforstete Hauschild die Meldeakten des Ruhrgebiets, spulte sich die Finger wund beim Durchsuchen der auf Mikrofilm erhaltenen Zeitungen, entdeckte Polizeiakten über Otto Feige, fuhr schließlich nach Schwiebus. Er stieß auf die Fährte eines Mannes, der sich mit bemerkenswerter Energie selbst bildete, Gewerkschaftsfunktionär wurde, Arbeiterbühnen gründete und sich darüber neu erfand. Am Ende konnte Hauschild so das gesamte Leben schlüssig rekonstruieren, von der Geburt in Schwiebus bis zum Tod in Mexiko. Ja, B. Traven war Otto Feige, Ret Marut, Traven Torsvan und Hal Croves.

Deshalb wird Jan-Christoph Hauschild sich fortan jemand anderem widmen. Über B. Travens Leben ist alles gesagt. Reut es ihn nicht, den alten Mythos seiner Geheimnisse beraubt zu haben? Da schaut er ein wenig erstaunt durch seine Nickelbrille und sagt diesen Satz, der fast so groß daherkommt wie jener über den Che Guevara mit der Feder: „Natürlich nicht, die Legende ist der Feind der Wahrheit.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false