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Auch im Junin 1990 in Bonn zeigten sich Lesben solidarisch, wenn gegen das Abtreibungsverbot demonstriert wird.

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Streiten, verstehen und zusammenstehen: Die queere Bewegung in Deutschland - eine vielstimmige Geschichte

Jeder kämpft für sich? Von wegen! Die deutsche LGBT-Bewegung hat eine vielstimmige und mehrdimensionale Geschichte.

Geht es aktuell um Identitätspolitik, sind überall Schlagzeilen zu finden, die Panik auslösen. Es herrsche hemmungsloser Egoismus, heißt es da. Statt des großen Ganzen gehe es nur um Partikularinteressen. Aktivist:innen würden so die Gesellschaft spalten - und, schlimmstenfalls, die Demokratie gefährden. Der Begriff Identität scheint so in die Mitte eines neuen „Kulturkampfes“ zu führen, der dieses Mal von Liberalen ausgefochten wird.

Doch stimmt das alles so? Eigentlich reicht ein Blick auf die Geschichte der LGBTIQ-Bewegung in Deutschland aus, um die Diagnose zu widerlegen. Das Projekt der queeren Befreiung war nämlich eben nicht durch Egoismen und einen Tunnelblick auf die Interessen der eigenen kleinen Gruppe geprägt.

Vielmehr war es per Definition eine intersektionale Politik, die komplexe dominante Kategorien ablehnte. Das Argument, feministische, queere oder Critical-Race-Theorien würden die Macht gemeinsamen Handelns untergraben, ist daher nicht nur ein Ausdruck extremer Ignoranz. Es ist eine gewollte Fehlinterpretation der mehrdimensionalen Geschichte der queeren Bewegung der 1970er und 80er Jahren, die uns bis heute prägt.

Heutzutage sind Rechte für Schwule und Lesben weithin anerkannt und gefeiert. Diese Entwicklung, die oberflächlich gesehen eine Erfolgsgeschichte ist, verdeckt allerdings die komplexere Geschichte einer produktiven Vielstimmigkeit und Uneinigkeit.

Transnationale Aktionsgruppen

Obwohl die Schwulenbewegung (wie sie seinerzeit bezeichnet wurde) oft nur als eine Suche nach sexueller Freiheit verstanden wurde, entstand sie aus zahlreichen progressiven Auseinandersetzungen mit Rassismus, Gleichstellung der Geschlechter, Klasse, Kolonialismus und Sexualität. Schließlich war die frühe Geschichte der homosexuellen Aktionsgruppen in Westdeutschland und der „Homosexuellen Interessengemeinschaft“ im Osten nicht nur mehrdimensional, sondern auch transnational. Sie nahmen Ideen von Aktivist:innen aus anderen Ländern auf, mit denen sie sich in ihrem Kampf verbunden fühlten.

[Die Autorin Jennifer Evans ist Professorin für Deutsche, Osteuropäische und Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts an der Carleton University in Ottawa (Kanada).]

Ein Beispiel: Der amerikanische Studentenaktivist James Steakley überwand sogar den „Eisernen Vorhang“. Er wohnte ein Jahr in West-Berlin, und hatte auch eine Bleibe in Ost-Berlin, in der Nähe der Friedrichstraße. Steakley schrieb für die kanadische Zeitschrift „The Body Politic“ und war beeinflusst von Theorien der Klassenkritik, der sozialistischen feministischen Organisation und des BDSM.

Vor allem in den frühen 70er Jahren suchte und fand er Verbündete auf beiden Seiten der Mauer. Solche Gruppen kamen gerade durch die Analyse miteinander verschränkter Unterdrückungen zueinander. Hier fanden schwule, lesbische und trans Aktivist:innen –in nicht immer einfachen Allianzen –zusammen und entwickelten Strategien, um Gesellschaften zu verändern.

Auch dem jungen Australier Peter Tatchell, Mitglied der Gay Liberation Front in London, gelang es, Flugblätter auf dem Weltjugendtag in Ost-Berlin in 1973 zu verteilen. Darauf war nicht nur „gay means homosexual - gay is good –gay is proud –gay is angry –gay liberation“ geschrieben. Sondern auch ein Plädoyer gegen die Hetero-Familie: Denn „weibliche Homosexuelle sind die Frauen, die völlig selbstständig sind“. Durch seine Kontakte –darunter Charlotte von Mahlsdorf –brachte Tatchell Ideen aus dem Ausland in die DDR. Ein Exemplar seines Flugblatts tauchte Mitte der 70er Jahre sogar in Erfurt auf.

Mobilisierung für eine intersektionale Agenda

Ein weiteres Beispiel: das Zusammengehen von lesbischen und feministischen Gruppen und ihren Anliegen. Viele mögen unterschiedliche Ideen verfolgt haben. Dennoch haben sie alle gemeinsam kräftig gegen den Paragrafen 218 demonstriert. Auch 1974 kamen Lesben und Feminist:innen während Protestaktionen gegen den sogenannten „Hexenprozess von Itzehoe“ zusammen. Judy Andersen und Marion Ihns standen wegen des Mordes an Ihns’ gewalttätigem Ehemann vor Gericht, was von der Boulevardpresse wegen des Liebesverhältnisses der Angeklagten zum Spektakel gemacht wurde.

Das Zusammengehen von lesbischen und feministischen Gruppen und ihren Anliegen zeigt sich beim Kampf gegen den Paragraf 219 a.
Das Zusammengehen von lesbischen und feministischen Gruppen und ihren Anliegen zeigt sich beim Kampf gegen den Paragraf 219 a.

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Diese frühen Gruppen schafften es, für eine intersektionale Agenda zu mobilisieren, die zumindest theoretisch die Frage der sexuellen Befreiung mit antirassistischer, antikapitalistischer und antiimperialistischer Rebellion verband. Und dies gelang, obwohl diese Gruppen notwendigerweise nicht bei allen Aspekten der Analyse einer Meinung waren.

So hat die US-amerikanische Historikerin Tiffany Florvil unlängst gezeigt, wie queere Afro-Deutsche trotz ihrer gemeinsamen Ziele in einem eher unbehaglichen Bündnis mit ihren lesbischen und feministischen Schwestern standen. Die Gastprofessorin und Schriftstellerin Audre Lorde gründete das Bündnis ADEFRA (Afro-Deutsche Frauen), ein Netzwerk Schwarzer Frauen, die –verbunden durch das Schreiben und die Poesie –zum ersten Mal ihre eigene Geschichte und Erfahrungen aufarbeiteten.

In ihrem Magazin „Afrokete“ berichteten Schwarzer Frauen darüber, wie sehr es sie frustrierte, dass weiße Feministinnen nicht erkennen, wie sehr ihr Leben immer noch von Rassismus geprägt ist. Und zwar nicht nur außerhalb der Bewegung, sondern auch in vielen Beziehungen.

„Gender presentation“ war politisch

Innerhalb der Schwulenbewegung gab es seit jeher Streit darum, wie man seine Anliegen am besten artikulieren und präsentieren könne. Ein einschneidendes Ereignis ist der „Tuntenstreit“ nach dem Pfingstreffen von 1973 in West-Berlin. Der Streit entzündete sich daran, dass aus Frankreich und Italien angereiste schwule Aktivisten in Frauenkleidern demonstrieren gingen. Sie ernteten heftigen Widerspruch: Solidarität erreiche man nicht mit Provokationen, argumentierten die Kritiker. Insbesondere der Arbeiterklasse sei das nicht zu vermitteln.

Angepasstes Demonstrieren sei Anbiedern an das Bürgertum, entgegneten die Schwulen, die in Frauenkleidern auftraten („Tunte“ ist ein ursprünglich despektierliches Wort für sie, das sie sich aber aneigneten und positiv besetzten). Der Kampf gelte nicht nur dem Kapitalismus, sondern auch dem Patriarchat. Ziel sei eine Gesellschaft, in der man Unangepasstheit ausleben könne.

„Gender presentation“ war also politisch. Letztlich führte das zur Spaltung in eine reformistische Gruppe, die Veränderungen innerhalb des bestehenden Systems und mit Hilfe von Parteien oder zivilgesellschaftlichen Organisationen erreichen wollten, und in eine radikalere Gruppe, die an einer „revolutionären“ Tradition festhielt.

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Mit der Zeit setzten sich die eher „bürgerlichen“ Gruppierungen durch, die eine enger angelegte Politik verfolgten, die auf individuelle Rechte zielte. Das beste Beispiel hierfür ist die Ehe für Alle. Gesellschaft, Familie und intime Beziehungen komplett neu zu konzipieren, wurde als Ziel dagegen aus den Augen verloren. Für Roderick Ferguson, Queer-of-Color-Soziologe und Professor in Yale, wurde die Queer-Politik so zu einer „eindimensionalen Angelegenheit“, die von parallelen Projekten wie etwa Antirassismus, Geschlechter- oder sozialer Gerechtigkeit abgekoppelt wurde. Sexualität wurde zur Privatsache erklärt, sie war nicht länger ein Katalysator für umfassenden sozialen Wandel.

Queere Geschichte mehrdimensional betrachten

Doch dies war nicht nur eine Art strategischer Realpolitik, sondern eine Gegenreaktion auf die Vielfalt des radikalen queeren Projekts. Gerade deswegen werden heute diejenigen, die die langjährigen Spannungen um ethnische Zugehörigkeit, Rassismus, Geschlecht, Transgender-Gleichheit oder Klassenunterschiede betonen und einst die Triebkräfte der Bewegung waren, als spaltend angesehen. Sie werden beschuldigt, die so hart erkämpften Erfolge zu gefährden. Sie würden dazu beitragen, dass diese Erfolge den Rückhalt in der Mitte der Gesellschaft verlieren.

Derzeit werden viel Zeit und Energie damit verschwendet, Linke und Feminist:innen sowie Trans- und Queer-of-Color-Aktivist:innen mit dem Argument auszugrenzen, sie würden Debatten verhindern oder Sprech- und Denkverbote erteilen. Zielführender wäre es, queere Geschichte als eine mehrdimensionale Geschichte des Aktivismus in Allianzen und Koalitionen zu betrachten. Die Beziehungen zwischen LGBTIQ ist eben eine Geschichte der Chancen und Grenzen, wie Stefan Etgeton und Sabine Hark schon 1997 schrieben.

Viel wurde bereits erreicht: Queer-Sein hat sich seinen Weg in den politischen und wirtschaftlichen Alltag gebahnt –mit Möglichkeiten, die vor Jahrzehnten undenkbar waren. Von vielen Erfolgen profitieren heute einige Gruppen dennoch mehr als andere. Es ist an der Zeit, auch diejenigen zu unterstützen, deren Anliegen sich bisher weniger durchsetzen konnten. Auch das sollte eine Lehre aus der vielstimmigen Geschichte der queeren Bewegung in Deutschland sein.

Jennifer Evans

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