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Prösterchen! Die Musikkabarettistin Sigrid Grajek wurde 1963 in Lünen geboren und lebt seit 1983 in Berlin. Hier trägt sie ihre Claire-Waldoff-Montur.

© Guido Woller/Promo

Sigrid Grajek singt Claire Waldoff: Das doppelte Damengedeck

Claire Waldoff sprengte einst Frauenbilder. Heute singt Sigrid Grajek ihre Lieder. Unterwegs in Schöneberg, dem Kiez der Berliner Kodderschnauze.

Schon verrückt, dass das Sichtbarmachen gleich doppelt funktioniert. Da nimmt sich eine Sängerin und Schauspielerin einer von ihr als „Urmutter aller Kabarettistinnen“ identifizierten Vorläuferin an. Schreibt ein spaßiges, aber auch nachdenkliches Programm, das deren Lieder in eine Nacherzählung ihres Lebens einbettet. Entreißt sie dem Dunst Alt-Berliner Piefigkeit, dem Klischee der Hinterhof-Kodderschnauze, dem Gähnen der Kenn-wa-doch-allet-Langeweile – und wird darüber erst selber so richtig sichtbar. Als Bühnenfigur Claire Waldoff, aber auch als Sigrid Grajek, die von sich sagt: „Wenn ich Sigrid bin, hört mir keiner zu.“ Aber wenn sie Claire Waldoff ist, dann schon – und wie! Die Waldoff ist es nämlich, der Grajek seit 2007 einen guten Teil ihres Bühnenlebens widmet. Seitdem ist sie mit ihrem Programm „Claire Waldoff. Ich will aber gerade vom Leben singen“ regelmäßig im BKA-Theater, im Ballhaus Berlin und auf Bühnen von Delmenhorst bis Düsseldorf unterwegs.

20 Gassenhauer und Couplets der berühmtesten Vertreterin des Berliner Liedes singt sie in dieser Zeitreise in die 20er und 30er Jahre. Und besonders plastisch kann sie davon im heimatlichen Revier der Volkssängerin erzählen. Das liegt nicht in Moabit, wie der Straßenname Claire-Waldoff-Promenade suggeriert. Und auch nicht in Mitte, wo ihre merkwürdig halslose Bronzebüste am Friedrichstadt-Palast rechts vor dem Eingang zum Quatsch Comedy Club steht. Nein, das eigentliche Claire-Waldoff-Land, das liegt in Schöneberg, wo die Kabarettistin von 1907 bis 1939 gelebt hat. Und dort, vor dem U-Bahnhof Bayerischer Platz, steht an diesem Donnerstagmittag Sigrid Grajek und blinzelt in die prachtvoll strahlende Aprilsonne.

Sigrid Grajek führt durch das Schöneberg von Waldoff, der "Lady Gaga ihrer Zeit"

Auf dem Rücken trägt die 1963 geborene Kabarettistin einen Rucksack, der sich auf dem Weg durch das Bayerische Viertel zum Nollendorfplatz als reinste Claire-Waldoff-Bibliothek entpuppt. Den mit zahllosen stadtgeschichtlichen Informationen gespickten Spaziergang hat sie mal für Theatergänger von auswärts präpariert, die ihre Show gesehen haben und danach auch auf Waldoffs Spuren wandeln wollten.

Die Schauspielerin und Kabarettistin Claire Waldoff (1884 - 1957), ein undatiertes Archivfoto.
Die Schauspielerin und Kabarettistin Claire Waldoff (1884 - 1957), ein undatiertes Archivfoto.

© dpa

Erste Station ist die Bamberger Straße, wo der spätere Superstar, die „Lady Gaga ihrer Zeit“, wie Grajek die von ihr stets nur freundschaftlich „Claire“ genannte Unterhaltungskünstlerin tituliert, als Neuberlinerin ihre erste Wohnung bezog. Parterre, Hinterhof. Möbel hatte die aufstrebende Jungschauspielerin keine, dafür aber Freunde. Ein einziger, kraftvoll geschmetterter Satz in der Posse „Hopfenraths Erben“ im Neuen Schauspielhaus, dem heutigen Metropol am Nollendorfplatz, macht die 1884 in Gelsenkirchen geborene und 1957 in Bad Reichenhall gestorbene Waldoff zum Berliner Stadtgespräch: „Wat jeht mir Jelbsiegel an!“ Ihre künstlerische Sachwalterin Sigrid Grajek wiederum, wird als Ensemblemitglied im Kabarett „Brett’l“ in der Friedrichstraße mit dem Waldoff-Virus infiziert. Oder womöglich schon viel früher, in ihrem Geburtsort Lünen, wo sie mit dem ebenfalls der Musik der Waldoff-Zeit verfallenen Max Raabe den Sandkasten teilt.

Waldoff und Olga Roeder lebten offen lesbisch in der Haberlandstraße

Sie schätzt den Witz und die Modernität von Waldoffs Liedern, die der Charismatikerin von Walter und Willi Kollo, Friedrich Hollaender, Ralph Benatzky oder ihrem Busenfreund Kurt Tucholsky auf den Leib geschrieben wurden. „Die sind völlig frei von Laubenpiepergemütlichkeit, und beschreiben heute noch gültig die Welt und das Menschenleben.“ So wie „Wegen Emil seine unanständ’ge Lust“, eine Lied gewordene Satire auf Schönheitsoperationen. Oder „Wer schmeißt denn da mit Lehm?“, ein humorvoller Kommentar auf die notorische Nervosität der Zeitgenossen.

Da drüben, in dem beigen Eckhaus in der Haberlandstraße, da haben Waldoff und ihre Freundin Olga von Roeder bis 1939, bis zum Umzug von Berlin in ein Häuschen nach Bayerisch Gmain, gewohnt. Ganz selbstverständlich und offen lesbisch. Und davor lebte Waldoff im Haus schräg gegenüber, da wo jetzt der Spielplatz ist. Sigrid Grajek zeigt eine Straßenkarte der Bombenschäden, erklärt geänderte Straßenverläufe und -namen. Der Krieg fraß das Haus genauso wie Claire Waldoffs Ruhm, an den die im Nationalsozialismus schleichend kaltgestellte Künstlerin hinterher nicht mehr anknüpfen konnte. Da wollten die Leute neue Schlager hören oder amerikanische Musik, aber nicht mehr die Heldin der Proleten und Bohémiens aus dem Zwischenkriegs-Berlin, deren Chanson „Hermann heeßt er“ die Nazis verboten, weil das Volk daraus ein Spottlied auf Hermann Göring dichtete.

Bei Festen schenkte Claire Waldoff gern Bowle "Rio de la Plata" aus

Ein prächtiger Gründerzeitbau in der Ansbacher Straße, Claires Wohnsitz der üppigen Jahre, pflegt ihr Andenken in Gestalt einer Bronzeplakette. Hier schenkte die sonst eine Kombination aus Zigarre und Nordhäuser Korn namens „Damengedeck“ favorisierende Chanteuse bei Festen gern Bowle „Rio de la Plata“ aus und ließ die Zutaten aus dem KaDeWe kommen, wie Sigrid Grajek zu berichten weiß.

Die tritt übrigens wie Waldoff in Anzug und Krawatte auf. Damals war das ein Skandal und rief den Zensor auf den Plan, der eine Dame im Herrenanzug nach 23 Uhr auf der Bühne als „unsittlich“ einstufte. Heute birgt das die Gefahr, als Imitat, als Klon einer angestaubten Ikone missverstanden zu werden. Doch genau das ist die Interpretin in ihrem zwei Stunden währenden Programm nicht. Dafür geht sie bei aller Anlehnung ans Original viel zu reflektiert zu Werke. Mal abgesehen davon, dass sie in der Comedyfigur Coco Lorés auch noch andere Bühnenleben hat. „Ich werde als Bewahrerin betrachtet“, sagt Sigrid Grajek. Und das ist wörtlich gemeint. Nach den Auftritten ereignen sich oft erstaunliche Dinge, erzählt sie. Menschen wollen sie umarmen, schenken ihr historische Fotos, oder kündigen an, dass sie ihr ein Buch von Heinrich Zille mit Autogramm des Künstlers zu vererben gedenken. „Das soll zu Ihnen, weil Sie es in Ehren halten.“ Grajek freut’s. „Das macht doch unmittelbaren Sinn. Unsere Erinnerung geht viel weiter als die Facebook-Timeline“. Und Waldoffs Lieder rührten eben etwas tiefer Gehendes, weiter Zurückliegendes an.

Grajek: "Claire hat die Gasse freigehauen, durch die Marlene gegangen ist"

Spricht’s und zeigt auf das „Eldorado“ in der Motzstraße. Heute ein Bioladen, früher ein Nachtclub, den Claire Waldoff und Marlene Dietrich gern zusammen besuchten. Ob die beiden wirklich mal eine Affäre hatten, weiß selbst die Rechercheurin Grajek nicht, aber dass Waldoff Dietrich stark beeinflusst habe, das sei unstrittig. Als erste Frau im Anzug, die sich auf der Bühne frei aufgeführt hat, habe sie das gängige Bild der lieblichen Soubrette gesprengt. „Claire hat die Gasse freigehauen, durch die Marlene gegangen ist.“

Das Metropol am Nollendorfplatz, der Schauplatz früher Triumphe, ist erreicht. Im Eingang halten sich jetzt Obdachlose statt Theatergängern auf. Weiter geht’s in die Schweriner Straße. Grajek liest eine Passage aus Waldoffs 1953 erschienenen Erinnerungen über den hier einst ansässigen Damenclub Pyramide – samt feurigen Gästen wie Tänzerin Anita Berber und Schauspielerin Tilla Durieux. Verschlafen liegt die Straße da, ganz Kalenderblatt des Gründerzeit-Berlins.

Dass die Menschen Claire Waldoff so liebten, das hatte mit ihrer Herzenswärme zu tun, glaubt Grajek. Ihre Auftritte seien ein Ereignis, ein Akt der Kraftübertragung gewesen, wie ihr Zeitgenossen geschildert haben. „Sie hatte Narrenfreiheit und die muss man sich erst mal verdienen.“ Wen wundert’s, dass Sigrid Grajek dieses Erbe bewahren will.

BKA-Theater, 1. Mai und 29. Juni bis 2. Juli, jeweils 20 Uhr

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