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"Blisterung" heißt die Art der Verpackung, die die günstige PrEP ermöglicht.

© dpa/Britta Pedersen

PrEP bei schwulen Männern: Eine Pille, die bei HIV alles ändert

Die Präexpositionsprophylaxe (PrEP) schützt mit einer Tablette vor HIV. Doch seit sie bezahlbar geworden ist, lehnen immer mehr schwule Männer das Kondom ab.

Mario Vogt (Name geändert) versteht die Welt nicht mehr. Der 42-Jährige, der in Berlin lebt, ist als Schwuler mit zwei Safer-Sex-Regeln aufgewachsen, die die Deutsche Aids-Hilfe viele Jahre lang propagiert hat: „Raus bevor’s kommt“ und „Sex nur mit Kondom“. Daran hat er sich gehalten, jahrelang. Und ist ziemlich gut gefahren damit, hatte keine größeren Infektionen, weder bakteriell noch viral. Also auch: kein HIV.

Gummi war nie ein Problem für ihn, auch wenn ihm natürlich klar war, dass es ohne schöner, intensiver ist. „Deshalb gab es ja immer schon Leute, die es lieber bare, also ohne Kondom machten. Viele davon hatten das Virus bereits“, erzählt er. Seit rund einem Jahr macht er aber die Erfahrung, dass die Zahl der Kondom-Verzichter exponentiell zunimmt. Mario trifft online oder in Bars fast nur noch auf Männer, die sofort das Diskutieren anfangen, wenn er einen Gummi auspackt. Etwas hat sich grundlegend verändert. Was ist da los?

Eine Tablette täglich schützt vor HIV-Infektion

Die Erklärung hat vier Buchstaben: PrEP, für Präexpositionsprophylaxe. Diejenigen, die sie nehmen, heißen Prepper und haben nichts mit den rechtsextremen Reichsbürgern und anderen Paranoiden gleichen Namens zu tun, die Lebensmittel und Waffen einlagern, um auf Katastrophen oder Kriege vorbereitet zu sein. Gleichwohl geht es auch bei der PrEP darum, vorbereitet, eben „präpariert“ zu sein: Prepper nehmen täglich eine Tablette, die sie vor einer eventuellen HIV-Infektion schützt.

„Diese Möglichkeit gibt es in der HIV- Therapie schon länger“, sagt Internist Ulrich Bohr, Leitender Arzt des Praxiszentrums Kaiserdamm, einer HIV-Schwerpunktpraxis. Neu ist, dass die PrEP jetzt für breite Bevölkerungskreise erschwinglich ist. Bohr erklärt, wie sie in der HIV- Therapie funktioniert. „HIV-Infizierte können durch eine Kombination aus meist drei Medikamenten so behandelt werden, dass das Virus im Körper zwar noch vorhanden, aber nicht mehr nachweisbar ist, und sie damit niemanden mehr anstecken können.“

Kreative Aktionen der Apotheker

Ein seit vielen Jahren eingesetztes Kombinationsmedikament ist eine Verbindung der Wirkstoffe Tenovovir und Emtricitabin mit dem Markennamen Truvada. Dessen virusbekämpfende Wirkung funktioniert auch bei HIV-Negativen. Die Einnahme von Tenovovir und Emtricitabin vor dem Sex tötet frisch in den Körper eindringende Viren ab – das ist PrEP. Wenn man einen ständigen Schutz gegen HIV haben will, muss man das Medikament täglich schlucken. Die Kosten lagen allerdings mit über 800 Euro monatlich weit über dem, was für die Meisten als Selbstzahler realistisch ist. Deshalb war die PrEP kein großes Thema unter schwulen Männern.

Dann gab es zwei parallele Entwicklungen: „2017 ist nach 20 Jahren der Patentschutz für Truvada ausgelaufen“, sagt HIV-Spezialist Bohr. Nun gab es günstigere Nachahmerpräparate, sogenannte Generika, die allerdings immer noch rund 560 Euro im Monat kosten. Weil aber immer mehr Hersteller das Kombipräparat produzierten und Apotheker aus der Szene mit kreativen Aktionen Druck machten, fiel der Preis immer weiter. Inzwischen liegt er bei 40 Euro monatlich. Der Deutsche Bundestag hat im März beschlossen, dass die PrEp für Menschen mit erhöhtem Ansteckungsrisiko Kassenleistung wird und dann gar nichts mehr kostet, in Frankreich ist das schon der Fall.

HIV-Schwerpunktarzt Ulrich Bohr
HIV-Schwerpunktarzt Ulrich Bohr

© Frieder Piazena

Aber bereits jetzt ist die PrEP auf dem Vormarsch. Ulrich Bohr stellt am Kaiserdamm inzwischen deutlich mehr PrEP- Privatrezepte, also für Selbstzahler, aus als noch vor zwei Jahren. Die Verschreibung ist verknüpft mit einem Gesundheitscheck, der neben regelmäßigen HIV-Tests auch die Möglichkeit eines Screenings auf andere sexuell übertragbaren Krankheiten (Sexually Transmitted Diseases, STD), wie Syphilis oder Tripper enthält.

Alle drei Monate sollte sich ein Prepper auf STD testen lassen, denn dagegen schützt die PrEP – im Gegensatz zum Kondom – nicht. „Die Tests sind freiwillig, aber ich kenne keinen, der nicht mitmachen würde“, sagt Bohr. Denn Prepper würden ein gewisses Gesundheitsbewusstsein mitbringen. Dass sich die PrEP so rasant verbreitet, ist nicht überraschend, angesichts des jahrzehntelangen Kondomzwangs, der das Sexleben nicht nur, aber gerade auch von schwulen Männern überschattete.

Beliebte Ausrede: "Ich habe eine Gummiallergie"

Mario Vogt hingegen ist über die Entwicklungen nicht wirklich glücklich. Er gehört zu denjenigen, denen es schwerer fällt, Sexualpartner zu finden. Weil die Toleranzrate gegenüber Kondomen nun immer schneller abnimmt, wie er beobachtet. „Viele signalisieren Interesse, aber gehen wortlos weg, wenn Kondome gezückt werden.“

Oder sie würden zu Ausreden greifen, besonders beliebt: „Ich habe eine Gummiallergie.“ Ein subtiles, aber unerbittliches Spiel aus Locken und Ablehnung. Jetzt kann man natürlich sagen: Wo ist das Problem, geh’ doch zu einem anderen? Aber wenn es bei einem anderen genauso ist, schrumpfen die Möglichkeiten zum Sex. Marios Freunde stehen vor ähnlichen Problemen. Die Entwicklung überrollt sie, vor allem in Berlin. „Die Prävention wird ausgebaut“, sagt er, „aber die, die sich schon seit Jahren präventiv verhalten, haben plötzlich das Nachsehen.“

Heute sind es die Kondomgebraucher, die ausgegrenzt werden

"Blisterung" heißt die Art der Verpackung, die die günstige PrEP ermöglicht.
"Blisterung" heißt die Art der Verpackung, die die günstige PrEP ermöglicht.

© dpa/Britta Pedersen

Wurden noch vor einigen Jahren Männer, die es bare machen, kritisch gesehen, sind es jetzt – so empfindet es Mario – Kondomgebraucher, die ausgegrenzt werden. Was er nicht versteht, ist der Absolutismus vieler Prepper: Wieso sie nicht trotzdem ein Kondom akzeptieren, wenn sie spüren, dass der Sexualpartner es wünscht. „Dann heißt es immer, wir seien Moralapostel und hätten keinen Respekt. Was völlig am Kern der Sache vorbeigeht. Jeder kann doch so leben, wie er will. Aber auch ein Prepper sollte Respekt haben. Was verliert er denn, wenn er den Wunsch des Anderen respektiert? Zum Sex gehören zwei. Beim nächsten Kontakt kann er doch wieder ohne.“

Für Mario ist der Subtext, der bei dieser Art der Ablehnung mitschwingt: Es geht nicht um dich als Mensch, als Person bist du egal, nur ein Objekt, das funktioniert oder nicht. Was gerade für Sex eine ziemlich ernüchternde Erkenntnis ist.

Der Druck mit Preppen anzufangen steigt

So steigt der Druck auf alle in der schwulen Szene, mit dem Preppen anzufangen – denn nur dann kann man sicher sein, wirklich geschützt zu sein. „Wenn jemand sagt, er würde preppen oder sei unter der Nachweisgrenze, kann er doch lügen“, meint Mario, der jetzt tatsächlich überlegt, auch mit dem Preppen anzufangen, obwohl er gar nicht will. „Es ist absurd.“

Warum will er nicht? Weil er nicht einsieht, Tabletten, also Chemie, zu schlucken, obwohl er gar nicht krank ist. Weil er nicht weiß, wie gut die Nebenwirkungen erforscht sind. Und weil er keine Lust hat auf andere sexuell übertragbaren Krankheiten. Denn die PrEP schützt nur vor HIV, nicht vor Syphilis, Gonorrhö oder Hepatitis C. Prepper verlassen sich häufig auf Antibiotika, aber deren unreflektierter Einsatz führt zu gefährlichen Resistenzbildungen. In England wurde jüngst eine Trippervariante gemeldet, die nicht mehr mit Antibiotika behandelbar ist. Mario weiß, dass auch Kondome keinen völligen Schutz bieten, glaubt aber, dass es auf alle Fälle besser ist, sie zu verwenden.

Die Infektionszahlen bei Syphilis steigen

Im November 2018 hat das Berliner Robert Koch Institut gemeldet, dass die Infektionszahlen bei Syphilis weiter steigen, vor allem in Berlin. Allerdings begann diese Entwicklung schon vor Einführung der günstigen PrEP. Welchen Einfluss sie wirklich auf die Infektionsraten bei STD hat, kann das Institut nicht sagen, da bei der Datenerhebung nicht nach PrEP-Einnahme gefragt wird. HIV-Schwerpunktarzt Bohr denkt, der Anstieg habe andere Gründe, etwa die Zunahme von (Sex-)Tourismus nach Berlin, der durch billige Flüge begünstigt wird.

Wer mit Preppern spricht, hört allerdings oft, dass sie keine Probleme mit sexuell übertragbaren Krankheiten hätten. Auch Jörg Wilkens (Name geändert). Der 53-Jährigen begrüßt die günstige PrEP. Er praktiziert schon seit Jahren unsafen Sex: „Ich hatte mit mir eine Vereinbarung geschlossen: Wenn ich HIV kriege, dann ist es so.“ Es war aber nicht so – eine Infektion blieb aus, auch Syphilis hatte er zuletzt vor zehn Jahren. Als ihm Ulrich Bohr die neuen Präventionsmöglichkeiten der PrEP erklärte, entschloss er sich zu dem Schritt. Er verzichtet nicht vollständig aufs Kondom. „In 30 Prozent aller Sexualkontakte verwende ich es trotzdem“, sagt er.

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Christoph Weber blickt mit professionellen Augen auf die PrEP, für ihn ist sie ein wichtiger Baustein in der HIV-Prävention. Der Internist ist Medizinischer Leiter des Checkpoint BLN, einem neuen Gesundheits- und Beratungszentrum, das seit Herbst 2018 am Hermannplatz die PrEP kostenfrei an Menschen abgibt, die mittellos sind oder nicht zum Arzt gehen wollen oder können – etwa, weil sie keine Krankenversicherung haben. Das Projekt wird getragen von der Schwulenberatung, der Berliner Aids-Hilfe, dem kommunalen Klinikkonzern Vivantes und niedergelassenen HIV-Schwerpunktärzten.

Drei Instrumente der Prävention

Die PrEP, sagt Weber, sei eines von drei bedeutenden Instrumenten der Prävention, die anderen seien PEP (Postexpositionsprophylaxe, man nimmt sie unmittelbar nach einer möglichen HIV-Infektion) und TasP, Abkürzung für „Treatment as Prevention“. Was bedeutet, dass die Viruslast eines HIV-Positiven unter Nachweis liegt, die erfolgreiche Therapie selbst also die Prävention einer Weiterverbreitung des Virus darstellt. Die Neuinfektionsrate bei HIV, die in Deutschland immer noch bei rund 2700 im Jahr liegt, müsse „endlich signifikant gedrückt werden“, sagt er. Berlin gehöre zu den Fast Track Cities, ein 2014 gegründeter Verbund aus Städten, in denen viele homosexuelle Männer leben und die Vorreiter sein wollen beim Bemühen, Aids bis 2030 zu beenden.

Einwände wie die von Mario, die Nebenwirkungen der PrEP seien noch nicht gut erforscht, möchte Christoph Weber entkräften: „Sie sind seit 20 Jahren sehr gut bekannt.“ Bei den meisten Preppern seien keine Nebenwirkungen zu beobachten, in seltenen Fällen könne es zu Schlafstörungen, Magen- und Muskelschmerzen oder einer Schädigung der Mineralität der Knochen kommen, wobei allerdings keine Bruchgefahr bestünde. Auch die Nieren müssten kontrolliert werden. Einige wenige Prepper können hier Probleme bekommen. „Dann müssen sie die PrEP wieder absetzen“, sagt Weber. Generell glaubt er, dass gerade die engmaschige Beobachtung – Prepper sollen sich, wie gesagt, alle drei Monate auf STD testen lassen – zu einer fallenden Rate sexuell übertragbarer Krankheiten führt. Antibiotikaresistenzen seien tatsächlich ein Problem. „Aber reden wir über den Elefanten im Raum: Die weitaus meisten Resistenzen entstehen in der Tiermast. Da müssen wir ran.“

Eine Gemeinschaft muss dass aushandeln

Rät die Schwulenberatung also offensiv zur PrEP? „Unser primäres Ziel ist es, die Transmission des Virus zu verhindern“, sagt Christoph Weber. „Wir beraten unsere Klienten entsprechend ihrer Lebensphase und Lebenssituation, welche Möglichkeit die beste für sie ist. Das kann die PrEP sein oder das Kondom. Mit diesen Möglichkeiten kann man auch spielen.“ Tatsächlich sei, so Weber, die Entscheidung für die PrEP keine lebenslange, viele Männer würden sie nur befristet nehmen und wieder absetzen, wenn sie nicht mehr zu ihrem Leben passt.

Und was ist mit dem allgemein gestiegenen Druck in der schwulen Szene, zu preppen? Den hat Weber auch beobachtet. Aber er glaubt, dass sich das zurechtruckeln wird. „Das sind normale Prozesse in Umbruchzeiten. Viele Prepper sind jetzt noch begeistert über ihre neuen Freiheiten. Ich denke, nach einer ersten Euphorie werden viele den Wunsch nach dem Kondom entspannter sehen. Eine Gemeinschaft muss das aushandeln.“ Für Männer wie Mario Vogt bestünde dann ja noch Hoffnung, dass sie nicht etwas tun müssen, was sie gar nicht wollen. Das Kondom könnte also ein Comeback erleben und friedlich mit der PrEP koexistieren.

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