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Fünf Tage, fünf Berater. Die Stars der Selbstoptimierungsserie: Tan France (Mode), Jonathan van Ness (Styling und Kosmetik), Bobby Berk (Design), Antoni Porowski (Essen und Trinken) und Karamo Brown (Sozial- und Lebensberatung).

© Ryan Collerd/Netflix

Makeover-Show auf Netflix: Warum „Queer Eye“ ein Problem hat

„Queer Eye“ baut auf den Aschenputtel-Effekt. Aber ernste Probleme lassen sich nicht in fünf Tagen lösen. Warum ist die US-Serie trotzdem so beliebt?

Das Konzept ist genial einfach. Fünf schwule Männer geben in der nunmehr fünften Staffel von „Queer Eye“ auf Netflix Tipps zu Mode, Einrichtung, Essen und Getränken, Frisur und Bartpflege – und fördern das Selbstbewusstsein der Teilnehmer an der Sendung. Die fünf Experten sind längst Stars in den sozialen Medien geworden.

Die US-amerikanische Serie ist leicht zu lieben, aber auch leicht zu hassen. Geliebt wird sie in aller Welt wegen der Illusion, die sie weckt. Seit 2018 fahren die fünf „Queens“ in jeder Folge zu einem Makeover-Kandidaten, krempeln sein (meist sind es Männer) oder ihr Leben in fünf Tagen um und lassen die Person überwältigt zurück, in einem renovierten Haus mit neuer Kleidung, frischen Kochrezepten, einer Menge Pflegeprodukte und vermeintlich neuem Selbstbewusstsein. Zwischendurch gibt es Gejohle und Tränen. „Gorgeous, wunderbar“: Das Wort fällt inflationär oft.

Die Hilfe ist nicht nachhaltig

Für dieses überraschend süchtig machende Rezept kann man die Serie aber auch hassen. „Queer Eye“ ist nachhaltigkeitstechnisch an dem Punkt, den Entwicklungs- und Wohltätigkeitsorganisationen spätestens in den Neunzigerjahren hinter sich gelassen haben.

Vor dieser Zeit ging es in die Länder des globalen Südens, um den „den armen Schwarzen/Eingeborenen“ zu zeigen, wie man ein besseres Leben führt. Verließen sie einen Ort wieder, blieben die Menschen oft mit einer Ausstattung Infrastruktur zurück, für die es keine Ersatzteile gab oder die weit von den Bedürfnissen der Einheimischen entfernt waren. Heute will Entwicklungsarbeit Männern und Frauen lieber das Fischen beibringen, als ihnen einen Fisch zu schenken, der sie nur einen Tag ernährt und sie in Abhängigkeit hält.

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So weit ist „Queer Eye“noch nicht: Die fünf Experten bieten Lösungen an, die oft nicht zu den Lebenssituationen der Teilnehmer passen. Ein Familienvater mit mehreren Kindern in den USA kann es sich wahrscheinlich nicht erlauben, alle paar Monate teure Kleidung shoppen zu gehen. Grapefruit und Avocado im Salat nach dem Rezept von Essensberater Antoni Porowski sind zwar lecker und reich an Nährstoffen, machen aber keine Familie satt und sind zudem sehr teuer.

Eine Trainingseinheit im Fitnessstudio ist nett und kameratauglich, in den Alltag integriert braucht Fitness aber Trainingspartner und feste Termine. Für die beiden Damen im Grill ist es schön, ihre berühmte Barbecuesauce in Flaschen abgefüllt zu bekommen. Um ein Geschäft daraus zu machen, wäre ein Vertriebsangestellter nötig, der Marketing, Bestellungen, Rechnungen und Retouren verwaltet.

Makeover-Sendungen setzen auf Aschenputtel-Effekt

Das Konzept der Selbstoptimierung durch Makeover ist nicht neu. „Vorher – nachher“: Vor allem in Mädchen- und Frauenzeitschriften werden Freiwillige seit Jahrzehnten neu eingekleidet und geschminkt. Während das Vorher immer irgendwie traurig, blass und unsicher aussieht, strahlt die Betreffende danach, als könne sie ihr Glück nicht fassen. Die Verwandlungen setzen auf den Cinderella-Effekt: Das Vorher mit all den Unebenheiten und Unsicherheiten bietet Identifikationsfläche. Die Verwandlung sendet dann die Botschaft: „Du kannst das auch! Melde dich hier an!“

Diese Transformation liefert starke Bilder, sie schaffte es ins Fernsehen. Heute laufen Sendungen wie „Mission Makeover“ und „Dein Neuer Style“ auf Privat- und Bezahlsendern. Einen Boom erfuhren seit den späten Nullerjahren aber vor allem Renovierungssendungen wie „Einsatz in 4 Wänden“, „Wohnen nach Wunsch“ und „Zuhause im Glück“. Die Sendungen leben von einer Mischung aus tatsächlicher Expertise und dem Überraschungseffekt, wenn die Hausbesitzer ihre aufgemöbelte Wohnung sehen.

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„Queer Eye“ ist nicht nur die queere Variante dieses bewährten Medienformats, die Serie hat auch den Anspruch, zu empowern. Oft gehen die Experten auf die Protagonisten ein, geben Ratschläge. Aber um Gewohnheiten zu ändern, ein Unternehmen aufzubauen oder soziale Ängste abzubauen, braucht es mehr als einen fünftägigen Besuch. Die Gefahr ist groß, dass auf Modenschau und Abschlussevent die Ernüchterung folgt.

Protagonisten brauchen psychologische Hilfe

Dabei ist ein Rückfall in alte Verhaltensmuster noch die harmlosere Konsequenz. Mehrere der Protagonisten leiden an ernsten psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Anpassungsstörungen, andere haben einen problematischen Konsum von Alkohol. Psychologische Hilfe ist im amerikanischen Gesundheitssystem oft teuer, und Sozialarbeiter Karamo Brown versucht in der Serie alles, um die Leute aufzubauen.

Trotzdem wäre professionelle Hilfe angebrachter. Und ebenso ein Hinweis an die Zuschauer, dass eine Depression nicht mit einem neuen Haarschnitt von Friseur Jonathan van Ness und schicken Vorhängen geheilt werden kann.

Der größte Trugschluss der Sendung: Konsum löst alles. Ein Hemd mit feschem „french tuck“ von Stylist Tan France, ein Rock zu hohen Schuhen, neue Bilderrahmen, Decken, Kerzen überall, mindestens drei Haarprodukte und diverse Cremesorten sind die Minimalausstattung für ein glückliches Leben.

All das muss regelmäßig nachgekauft und gepflegt werden. Die meisten „Queer Eye“-Fans dürften sich darüber im Klaren sein, dennoch frappiert das erstaunliche Klassenblinde des Märchens vom langfristig erfolgreichen Makeover.

Das Außen wirkt nach innen

Sicher, ein gemütliches Heim nach den eigenen Vorstellungen ist wichtig fürs Wohlbefinden, ein neuer Haarschnitt steigert das Selbstbewusstsein und alters- und jobgerechte Kleidung sorgt für den seriösen Auftritt am Arbeitsplatz. Das Außen wirkt auch nach innen. An der Inneneinrichtung zu arbeiten, an jahrelang aufgebauten Glaubenssätzen zu rütteln, braucht aber mehr als ein schnelles Makeover.

Vor allem Traumata lassen sich nicht wegcremen oder -shoppen. Erst recht nicht in einem Land, in dem ein Knochenbruch fünfstellige Rechnungen nach sich zieht und die Einkommensschere immer weiter auseinanderklafft.

Die USA sind nicht mehr das Land der Freiheit, sondern der sozialen Zwänge. Ein Land der Übergewichtigen, Verschuldeten, prekär Beschäftigten, der Rassendiskriminierung und der politischen Hetze. Das Gute an „Queer Eye“: All diese Aspekte kommen zur Sprache. Da spricht der Schwarze, der bei einer Polizeikontrolle Panik bekommt, mit dem patriotischen Cop; der aus seiner religiösen Familie Verstoßene redet mit einer stark Gläubigen und Mutter eines schwulen Sohns. Obdachlosigkeit, Unzulänglichkeitsgefühle, schwere Krankheit finden Platz.

Solche Probleme lassen sich auch mit weniger Budget und mehr Zuwendung lösen. Aber dann gäbe es die Serie nicht – und mit ihr die süchtig machende Illusion, dass ein besseres Leben per Makeover zu erreichen ist. Das wäre dann doch schade.

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