zum Hauptinhalt
Misheel Enkh-Amgalan: "Meine Schwestern müssen sich in Hannover fast täglich antiasiatischen Rassismus auf der Straße anhören."

© Jana Demnitz/Tsp

Lyrikerin Misheel Enkh-Amgalan: "Ausgrenzungserfahrungen erhöhen die Sehnsucht nach Identität"

Misheel Enkh-Amgalan ist bekannt durch den Gedichtband „Es brüllt durch die Atomsphäre“. Wir haben mit ihr über Queersein, Repräsentation und ihre mongolischen Wurzeln gesprochen.

Misheel Enkh-Amgalan ist Politikwissenschaftlerin und Lyrikerin. Sie ist 1997 in der Mongolei geboren und lebt seit 2000 in Deutschland. 2019 ist ihr Gedichtband „Es brüllt durch die Atomsphäre“ im re:sonar Verlag erschienen.

In Ihren Gedichten geht es um Identität, Gewalt und auch um Heimat. Aus welchem Gefühl heraus haben Sie den Band geschrieben?
Zwei Jahre klingt nicht viel, aber mir kommt es so vor, als liege ein ganzes Leben dazwischen. Ich habe das Gefühl, ich bin heute ein ganz anderer Mensch. Damals hatte ich gerade eine Trennung hinter mir und hatte hinsichtlich meiner queeren Identität nur sehr wenig Erfahrung. Ich glaube, zum einen war der Gedichtband die Verarbeitung dieser Trennung.

Zum anderen: Als ich diese Gedichte geschrieben habe, war ich zwischen 20 und 21 Jahre alt. Ich habe darin auch viele Gedanken und Sorgen meiner Jugend verarbeitet. Mich hat damals sehr die Frage beschäftigt, ob es in dieser Welt, unter diesen Bedingungen überhaupt möglich ist, eine Zukunft zu haben. Ich habe damals viele solcher Gespräche mit Menschen geführt, die queer und nicht weiß sind.

Es war sehr schwer für uns, sich ein Leben jenseits der 30 vorzustellen. Dieses vorherrschende Modell einer monogamen Beziehung, von Haus, Kind und Hund schien mir so entfernt und kaum vereinbar. Hinzu kamen auch existenzielle Fragen.

Sie widmen dem 15-jährigen Nigel Shelby ein Gedicht. Er war schwul und hat sich 2019 das Leben genommen, weil er in der Schule offenbar deshalb gemobbt wurde. In den ersten zwei Strophen schreiben Sie:

Ich weiß nicht
Was Nigel Shelby sich gedacht hat
Als er sich das Leben nahm
Ich weiß nicht
Was sich die Millionen anderen Kinder denken
Die sich das Leben nehmen
Noch bevor es angefangen hat

Ich weiß nicht
Was in einem queeren Schwarzen Jungen
In Alabama vorgeht
Und ich weiß nicht
Ob ich anders gehandelt hätte

Mich hat Nigels Geschichte damals sehr mitgenommen. Ich habe lange selbst mit Kindern im Jugendbereich gearbeitet. Im Frühjahr 2019, als Nigel Selbstmord beginn, habe ich in Neukölln für etwa die gleiche Altersgruppe die Hausaufgaben mitbetreut. In diesem Alter, das kennt man vielleicht noch von sich selbst, ist man auch niedergeschlagen, depressiv und traurig, man hat Krisen und ist mit diesem Hormonwirrwarr beschäftigt. Aber ich war bis dahin noch keinem Kind oder Jugendlichen begegnet, der oder die so unglücklich war und nur noch den eigenen Tod als Ausweg sah.

Diese Hoffnungslosigkeit, die ich beschrieben habe, diese Frage, ob man eine Zukunft haben kann, oder nicht, diese Frage habe ich mir persönlich erst mit etwa 18 Jahren gestellt. Diese Angst vor der Zukunft, die er sich nicht als etwas Positives vorstellen konnte, das ist für mich bis heute unbegreiflich.

Zu sehen, wie man jemanden so in den Abgrund treiben kann, das hat mich sehr stark berührt und erschüttert. Mit seinem Selbstmord hat Nigel Shelby auch die Frage nach der Verantwortung gestellt. Er lebte in einem kleinen Vorort. Und ich denke, die Menschen dort müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, welche Schuld sie mit am Tod dieses Jungen tragen.

Sie fragen sich, ob Sie anders gehandelt hätten?
Ja, ich sehe auch Parallelen zu meinem eigenen Leben. Alle meine Freunde sind auch in Vororten oder kleinen Städten aufgewachsen und sind irgendwann nach Berlin gezogen. Ich auch. Ich bin mit 18 Jahren 2015 von Hannover nach Berlin gekommen. Hannover ist zwar keine Kleinstadt, aber nach meiner Erfahrung ist auch dort der Mindset oft provinziell und exkludierend. Meine jüngeren Schwestern leben dort noch und so bekomme ich die rassistischen Anfeindungen mit, mit denen sie dort tagtäglich konfrontiert sind.

[Wer mehr über queere Themen erfahren will: Der Tagesspiegel-Newsletter Queerspiegel erscheint monatlich, immer am dritten Donnerstag. Hier kostenlos anmelden]

In dieser Intensität erlebe ich das in einer Großstadt wie Berlin nicht. Im Gegenteil: Auch ich merke, welche positiven Auswirkungen es auf eine Stadtgesellschaft haben kann, wenn viele aufgeklärte Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen aktivistische tätig sind.

Auf der anderen Seite ist es aber auch ein großes Problem, wenn marginalisierte Menschen in die Zentren fliehen, weil sie es in der Provinz einfach nicht mehr aushalten. Was bleibt denn dort noch? Sehr viele Kinder wachsen in Dörfern und Kleinstädten auf und dort gibt es kaum diverse Vorbilder für sie, weil diese Menschen einfach nicht mehr da sind.

Wie haben Sie Homophobie in Ihrer Jugend erlebt?
Vieles hat sich auch bei mir sehr durch subtile Verhaltensweisen festgesetzt. Blöde Kommentare, Reproduktion von heteronormativen Geschlechterrollen, mangelnde oder klischeehafte mediale Repräsentation. Mich hat auch sehr lange beeinflusst, wie in meinem Freundkreis über vermeintliche Frauen- und Männerrollen gesprochen wurde. Wie habe ein Mädchen, wie habe ein Junge „zu sein“. Die Option eines anderen individuellen Seins konnte in meinem damaligen Umfeld überhaupt nicht artikuliert werden. Und auch als ich mich schon selbst als queer identifiziert hatte, wurde mir das Gefühl vermittelt, in einer Beziehung mit einer Frau müsste eine von beiden die „männliche“ Rolle einnehmen.

Diese ganzen Klischees, mit denen man in seiner Kindheit und Jugend konfrontiert ist, das alles wieder loszuwerden, sich davon zu befreien und zu emanzipieren, dauert mitunter sehr lange. Es braucht vor allem auch positive Erfahrungen, dem etwas entgegenzusetzen! Ich musste selbst auch erst Menschen treffen, die mir gezeigt haben, andere Lebensmodelle sind möglich, und das war extrem wichtig für mich. Allerdings stelle ich bei meinen Schwestern fest, die in Hannover noch zur Schule gehen, dass auch ein Generationswechsel stattfindet. Durch Social Media werden viele Jugendliche offener gegenüber alternativen Lebensentwürfen.

Weil Sie die mediale Repräsentation ansprechen. Wie nehmen Sie diese von marginalisierten Gruppen in Serien und Filmen war?
Wenn queere Geschichten überhaupt erzählt werden, werden sie, gerade in Deutschland, hauptsächlich von weißgelesenen Menschen erzählt. Es geht oft um ein notwendiges Coming-out, um überhaupt ein glückliches Leben zu führen. Das sind allerdings Vorstellungen von einem queeren „glücklichen“ Leben, die queere und marginalisierte Menschen in meinem Freundeskreis abgelegt haben. Sie haben – auch aus familiären und/oder religiösen Gründen – andere Modelle oder eine andere Art und Weise des Lebens für sich gefunden, wie man das Queersein für sich vereinbart. Ein Outing wird nicht mehr als unbedingt notwendig angesehen.

Alternative Lebensentwürfe können zum Beispiel auch eine Wahlfamilie aus Freunden sein, mit denen man ein Commitment eingeht. Aber es müssen nicht einmal so begrifflich verpackte neue "Modelle" sein. Ich glaube, es beginnt schon bei einer persönlichen Re-Evaluation der Werte, nach denen man lebt. Mir fiel auf, dass ich glücklicher bin, wenn ich nach Werten lebe statt nach Modellen. Dass ich zum Beispiel versuche, ein Mensch zu sein, der der Welt etwas zurückgibt, verständnisvoll ist und an sich arbeitet.

Heute schauen Sie optimistischer in die Zukunft. Wie haben Ihnen Serien und Filme dabei geholfen?
Für mich war die mediale Repräsentation von queeren und nichtweißen Menschen und der Zugang dazu in den letzten Jahren sehr entscheidend. Diesbezüglich hat sich vor allem im Ausland unglaublich viel getan. Wie jetzt auch von der Initiative ActOut kritisiert wird, hatte auch ich als Kind und Jugendliche das Gefühl, dass es im TV kaum Menschen gab, die so aussehen wie ich, die eine ähnliche Identität haben und denen vielleicht auch noch ein Happy End zugestanden wird. Serien wie „Orange Is The New Black“, „Pose“ oder „Druck“ von Funk haben mir neue Perspektiven aufgezeigt und alleine diese Perspektiven haben mir geholfen, mich so zu akzeptieren, wie ich bin.

Inwiefern?
In diesen Serien wird das Queersein als selbstverständlicher Bestandteil der Geschichte miterzählt und nicht permanent problematisiert. Es gibt eine Verschiedenheit in den Storys. In meiner Wahrnehmung werden in diesen Geschichten marginalisierte Identitäten mit Mehrfachdiskriminierungen vielfältiger repräsentiert. Es werden in den Geschichten auch Fragen gestellt, die sich weiße Freunde von mir nie stellen müssten.

Ich bin zum Beispiel als Jugendliche vom Buddhismus zum Islam konvertiert und das Ausleben meiner Religion ist einer der wichtigsten Aspekte meiner Identität. Ich sehe, dass es diesbezüglich auch Paradoxien gibt. Ich möchte mich der muslimischen Community aber nicht verschließen, weil sie mir in anderen Bereichen sehr viel Halt gibt. In dieser Gemeinschaft habe ich auch meine muslimischen, queeren Freunde gefunden.

Wie würden sie Ihr Verhältnis zur Mongolei heute beschreiben?
Ich weiß sehr wenig über die Mongolei. Ich bin dort zwar geboren, aber ich bin 2000 als Kleinkind nach Deutschland gekommen und habe keine Erinnerungen an die Zeit dort. Ich glaube, deshalb habe ich keine so große Sehnsucht nach diesem Ort. Ich war seitdem auch nie wieder dort. Inspirierend finde ich diesbezüglich aber die Arbeiten der Regisseurin Uisenma Borchu. Sie ist ursprünglich auch aus der Mongolei. Letztes Jahr lief auf der Berlinale ihr Film „Schwarze Milch“, der in der Mongolei spielt. Und vor sechs Jahren hat sie den recht erfolgreichen queeren Film „Schau mich nicht so an“ gedreht.

Wie erklären Sie sich, dass bei Ihnen diese Sehnsucht nach dem Land der Eltern und Großeltern nicht so ausgeprägt ist, wie vielleicht bei anderen Menschen?
Zum einen haben wir nur noch wenig Kontakt zu dort lebenden Verwandten. Zum anderen: Das Land existiert, es ist ungefährlich, dorthin zu reisen, und deshalb wiegt man sich in einer gewissen Sicherheit, jederzeit dort hinfahren zu können. Bei Freunden von mir, die aus bedrohten oder zerstörten Ländern kommen, ist die Sehnsucht, dorthin zu gehen oder die Angst davor, dass es das Land ihrer Vorfahren irgendwann nicht mehr geben wird, viel größer. Interessant ist, dass meine Schwestern, die in Deutschland geboren sind und im Gegensatz zu mir kein Mongolisch sprechen, eine ganz andere Wahrnehmung diesbezüglich haben. Für sie ist die Mongolei ein größerer Sehnsuchtsort als für mich.

Meiner Erfahrung nach werden diese Sehnsucht und das Bedürfnis nach Identität auch durch Ausgrenzungserfahrungen extrem erhöht. Meine Schwestern müssen sich in Hannover fast täglich antiasiatischen Rassismus auf der Straße anhören. Sie haben sehr stark das Verlangen danach, einmal an einem Ort zu sein, wo sie nicht permanent geothert werden.

Diesbezüglich fällt mir auch ein Zitat von einer Freundin, der Autorin Anja Saleh, ein. Sie schreibt in ihrem Gedichtband „Soon, The Future Of Memory“: "Im richtigen Kontext, würde die Frage ´Woher kommst du?` mehr Verbindung als Ausgrenzung schaffen.“ Besser hätte ich es nicht sagen können. Ich glaube sehr daran, dass irgendwann dieser „richtige Kontext“ zur Norm wird, und wir akzeptiert und willkommen genug sind, um unsere Identität nicht mehr als Last, nicht mehr als Mittel zur Ausgrenzung zu empfinden. Dass wir aktuell eine andere Situation haben, ist vielleicht die eigentliche Tragik.

Wie nehmen Sie denn die derzeitigen Rassismus- und Identitätsdiskurse wahr?
Für mich persönlich kommt das alles zur richtigen Zeit. Ich bin nicht müde davon. Aber natürlich werden ältere Generationen sagen, das hätte alles schon viel früher kommen können. Diese Debatten sind notwendig, aber ich habe das Gefühl, dass sie in Deutschland zum Teil auch paradox geführt werden. Auch in den migrantischen und postmigrantischen Communities zum Teil selbst.

In meiner Wahrnehmung dominieren auch Sichtweisen und Erfahrungen von den migrantischen und postmigrantischen Communities, die am größten sind und die auch schon längere Zeit zu Deutschland gehören. Aktuelle Fluchterfahrungen kommen mir persönlich auch viel zu wenig in diesen Identitätsdebatten vor.

Die Themen der jeweiligen Einwanderergenerationen unterscheiden sich mitunter auch. Ich persönlich betrachte mich immer noch als ein Teil der ersten Einwandergeneration in meiner Familie. Auf die Frage, woher ich komme, reagiere ich deshalb weniger sensibel, weil diese Frage für mich persönlich noch immer relevant ist. Ich setze mich selbst damit gerne auseinander und ich spreche gerne über die Mongolei.

Aber ich kann auch verstehen, dass solche Fragen für Menschen, die schon über mehrere Generationen hier leben, verletzend sind, wenn ihnen andere das Gefühl vermitteln, angeblich Fremde zu sein. Aber grundsätzlich fehlt mir innerhalb dieser, ich nenne es jetzt mal migrantischen Repräsentation, dann doch auch die Diversität. Natürlich sind auch die jeweiligen Migrationsgeschichten alle unterschiedlich.

Wie kann sich denn weiter etwas zum Positiven verändern?
Ich bin überzeugt davon, dass positive Veränderungen, die allen Menschen zugutekommen, auch staatlich und gesellschaftlich begünstigt werden müssten. Deshalb wird zurecht gerade das „Grundgesetz für alle“ und eine mediale Repräsentation von Unterschiedlichkeiten in der Gesellschaft gefordert. Am Anfang braucht es immer Menschen, die den Mut haben, auch zunächst unpopuläre oder unbekannte Dinge anzustoßen.

Was ich mir wünsche, ist, dass sich jede Person sicher fühlt in einer Gesellschaft mit einer größeren sozialen Mobilität. Auch wenn Du selbst nicht prekär lebst, glaube ich aber, macht es Menschen Angst, wenn sie prekäre Lebensverhältnisse vor ihrer Haustür sehen. Ich denke, wir Menschen habe alle recht ähnliche Bedürfnisse, die werden von den politischen Akteur*innen aber zu wenig gesehen oder auch bedacht, und das sind mit Gründe für die Frontenbildung.

Hätten Sie auch noch eine ganz konkrete Idee?
Eine inkludierende Idee wäre ja vielleicht ein frei zugänglicher digitaler amtlicher Kalender, in den jede anerkannte religiöse Minderheit und Identität ihre jeweiligen Feiertage eintragen kann. Sodass man sich ganz niedrigschwellig darüber informieren kann. Über die Jahre könnte so etwas doch auch zum kollektiven Gedächtnis werden.

Zur Startseite