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Langer Kampf um Anerkennung: Das verspätete Gedenken an lesbische NS-Opfer

An wen wird erinnert und wer gehört zur Geschichte? Marginalisierte Gruppen wie Lesben übersieht die historische Forschung oft. Eine Spurensuche.

Die erste Suche nach den lesbischen Frauen im ehemaligen KZ Ravensbrück liegt beinahe 40 Jahre zurück. 1984 reisten 20 Frauen der „Lesben in der Kirche“ aus Ost-Berlin in die Gedenkstätte, um der „lesbischen Schwestern“ zu gedenken.

Wie sie einige Tage später feststellten, blieben von dem Besuch keine Spuren zurück. Ihren Blumenkranz mit Binde sowie den Eintrag in das Besucherbuch hatte man entfernt. Ein Jahr darauf, 1985, wurden die lesbischen Besucherinnen gleich am Fürstenberger Bahnhof von der Stasi abgefangen.

Es sollte bis heute dauern, bis tatsächlich auch offiziell an die lesbischen Frauen in der Gedenkstätte Ravensbrück erinnert werden kann. An diesem Sonntag ist es soweit: Mit einer Feierstunde wird ein Gedenkzeichen eingeweiht. Seit jenem ersten Besuch kämpften Aktivist*innen, Historiker*innen und zuletzt auch eine breite Öffentlichkeit dafür, dass lesbische Ravensbrückhäftlinge einen Platz in der Geschichte haben.

Was wissen wir über die Verfolgung, warum dauerte es Jahrzehnte, bis der Anerkennungskampf Erfolg hatte?

Lesbische Frauen wurden während der Nazidiktatur verfolgt

Bekannterweise wurden in Deutschland nur gleichgeschlechtliche Handlungen unter Männern durch den Paragrafen 175 kriminalisiert. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen und diesen Paragrafen verschärften, überlegten sie zwar, auch gleichgeschlechtlichen Sex zwischen Frauen unter Strafe zu stellen. Sie verwarfen die Idee schließlich. Und so argumentierten sehr oft die Gegner*innen des Gedenkens an die lesbischen Opfer von Ravensbrück: kein Paragraph, keine Verfolgung – folglich auch kein Gedenken.

So einfach liegt die Sache aber nicht. Frauenliebende Frauen wurden während der Nazidiktatur durchaus verfolgt. Dies geschah fast immer intersektional, das heißt, im Kontext von anderen Achsen, die die Nazis als unwürdig erachteten. Sei es Widerstand, unangepasstes Leben, wie zum Beispiel Sexarbeit, oder nicht-Weiß Sein. Weil diese Frauen dann nicht wegen eines einheitlichen Paragraphen verfolgt wurden, ist die Überlieferung in den Archiven extrem fragmentiert.

Die Forscher*innen sind auf mühselige Detailsuche, Hilfe der Archivar*innen und Zufall angewiesen. Nun wissen wir aus der Forschung von Geoffrey Giles oder des Zentrums für queere Geschichte Wiens, dass auch die Verfolgung der queeren Männer intersektional war. Klasse spielte eine wichtige Rolle. Unter den Wiener Opfern waren überproportional viele Arbeiter, viele kamen aus dem Lumpenproletariat.

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Claudia Schoppmann war die erste Historikerin, die sich der verfolgten lesbischen Frauen Ende der 1980ern annahm. Gefördert durch ein Stipendium des Hamburger Institut für Sozialforschung, schrieb sie eine bis heute als Klassiker gültige Dissertation bei Reinhard Rürup. Tragischerweise blieb Schoppmanns Buch bis heute die letzte Monographie zum Thema. Das ist erstaunlich, erscheinen doch zur Nazidiktatur jedes Jahr Hunderte neue Studien.

Der Grund? Fehlende Legitimität. Die sonst fantastische deutsche Geschichtswissenschaft neigt zu Konservativismus und patriarchalen Strukturen. Queere oder lesbische Geschichte wird nicht als gültig angesehen. Wenn sich also junge Historiker*innen überlegen, zu welchem Thema sie eine Qualifikationsarbeit schreiben, nehmen sie zumeist ein sicheres Sachgebiet. Man kann es ihnen nicht verübeln.

Im Jahr 1941 wurde Hock verhaftet

Wie sah die Verfolgung aus? Die Geschichte von Waltraud Hock zeigt einiges an Heterogenität, Intersektionalität und Ambivalenz der queeren Frauen auf, die in Ravensbrück inhaftiert worden waren. Waltraud Hock wurde 1922 in Wiesbaden geboren. Sie kam aus einer armen Familie, wiederholte eine Klasse, heiratete mit 16 und bekam eine Tochter. Die Ehe währte nicht lange. Die Nazi-Behörden wurden auf Hock mehrfach aufmerksam. Sie erhielt eine Gefängnisstrafe wegen eines Gelddiebstahls.

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1941 wurde sie verhaftet, weil sie ihrer Arbeit auf einem Bauernhof, wohin sie das Arbeitsamt geschickt hatte, fernblieb. Während ihrer Haft ermittelten die Funktionäre. Wie der US-Historiker Samuel Huneke, der das Leben Hocks rekonstruiert hat, überzeugend darstellte, war das Bild der Ermittler vernichtend. Hock sei eine schlechte und faule Schülerin, hieß es da. Sie vernachlässige ihre kleine Tochter und hatte mit 18 ihre erste Vorstrafe.

Zudem kamen die Familienumstände: Hock und ihre Mutter sollen wechselnde männliche und weibliche Sexpartnerinnen gehabt haben. Die Jugendhilfe behauptete, ihre Mutter soll wegen ihrer „Libidinität“ sterilisiert worden sein.

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Die Parteifunktionäre berichteten für die Ermittlung zudem, Hocks Vater sei ein Schwarzer Besatzungssoldat gewesen. Da sich der Mann, der in Hocks Papieren als Vater stand, 1933 nach einer Schutzhaft das Leben nahm, konnte er sich nicht mehr für sie einsetzen. Die Wiesbadener Kripo überwies Hock, nachdem sie ihre Strafe abgesessen hat, als „Asoziale“ nach Ravensbrück. Von hier kam sie nach Auschwitz, wo sie im März 1943 ermordet wurde. Hock wurde zwanzig Jahre alt.

Der Historiker Samuel Huneke engagiert sich dafür, dass Hock in ihrer Heimatstadt einen Stolperstein bekommt.
Der Historiker Samuel Huneke engagiert sich dafür, dass Hock in ihrer Heimatstadt einen Stolperstein bekommt.

© PNN / Ottmar Winter

Sam Hunekes und Laurie Marhoefers Forschung verdanken wir ein viel dichteres Bild der vielen Faktoren, die für die Schwere der Verfolgung Ausschlag gaben. Hock wurde nicht wegen eines Grundes alleine verfolgt. Nicht nur weil sie Arbeit schwänzte, sondern auch weil sie arm war, weil ihr (Zieh-)Vater politischer Gegner der Nazis war, weil sie in der Schule auffiel, weil sie vermutlich „mixed race“ war, weil ihre Mutter bereits als „Asoziale“ abgestempelt wurde und: weil sie wechselnde Sexpartner*innen hatte – darunter auch Frauen.

Die historische Forschung lebt von zufälligen Funden

Ob Hock tatsächlich eine Schwarze Frau war, wissen wir nicht. Es gibt kein Bild von ihr. Bisher war es weder Huneke noch den Wiesbadener Archivar*innen möglich, ihre Tochter zu finden. Der Historiker engagiert sich dafür, dass Hock in ihrer Heimatstadt einen Stolperstein bekommt.

Die Geschichte von Waltraud Hock ist mehrfach bedeutsam. Ihre Verfolgungsmuster bestätigen die frühen Forschungsergebnisse von Claudia Schoppmann, die postulierte, lesbische Frauen wären als „Asoziale“ verfolgt. Julia Hörath wies 2017 hingegen darauf hin, dass es in ihrer umfangreichen Studie bei den ca. 60 Frauen, die als „Asoziale“ verfolgt worden waren, keinerlei Hinweise auf deren Queerness gab.

Die historische Forschung lebt also von neuen, oft zufälligen Funden. Geschichte ist eben immer auch Konversation: Das macht Fallstudien so wichtig für die Erforschung lesbischer Verfolgung in der NS-Zeit.

Spätestens mit Black Lives Matter fragen wir Holocaustforscher*innen uns: Wo sind die Nichtweißen Personen in unserer Forschung? Filtern wir sie mit unseren Vorurteilen aus? Hock ist auch in dieser Richtung wichtig, neben beispielsweise der französisch-chinesischen Widerstandskämpferin und Ravensbrück-Überlebenden Nadine Hwang, deren Leben Suzette Robichon und Magnus Gertten dokumentierten. Hwang verliebte sich in Ravensbrück in die belgische Opernsängerin Nelly Mousset-Vos, ihre Geschichte erzählt auch ein auf der diesjährigen Berlinale aufgeführter Film.

Spätestens mit Black Lives Matter fragen die Holocaustforscher*innen sich: Wo sind die Nichtweißen Personen in unserer Forschung?
Spätestens mit Black Lives Matter fragen die Holocaustforscher*innen sich: Wo sind die Nichtweißen Personen in unserer Forschung?

© AFP

Der Anerkennungskampf wurde nach der Wende 1989 übrigens nicht viel einfacher. Auf Ermutigung der Gedenkstätte hin 1994 befragten zwei junge lesbische Praktikantinnen, Lola Adams und Stephanie Bart, die Überlebenden nach queeren Erlebnissen. Es sei Privatsache, gab man ihnen zu verstehen. Adams hatte den Eindruck, dass das Thema den Überlebenden sehr unbehaglich war.

Nach dem Denkmal spitzte sich die Debatte zu

Bei dem 40. Jahrestag der Befreiung 1995 gab es schon eine Gruppe von feministischen Forscherinnen, oft selber lesbisch, die sich mit spezifischer Frauengeschichte in den Konzentrationslagern beschäftigten. Aufbauend auf Schoppmanns Arbeit, konnte zum Beispiel Christa Schikorra Irene Miller interviewen, eine der wenigen lesbischen Überlebenden von Ravensbrück, die darüber Zeugnis trug.

Weitere Texte zur queeren Geschichte in der NS-Zeit:

Als 2008 in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen errichtet wurde, spitzte sich die Debatte zu. Ob die Lesben verfolgt wurden, was als historischer Beleg galt und wer es überhaupt verdient, gedacht zu werden - das alles wurde vehement diskutiert. 2012 wurde ein neuer Film in das Denkmal integriert, der verschiedene Personen zeigte, um inklusiver zu sein.

Ein Jahr darauf beantragte eine Gruppe autonomer Frauen und Lesben ein Gedenkzeichen für die lesbischen Opfer in Ravensbrück. Die Stiftung Brandenburgischer Gedenkstätten wies das Anliegen zunächst ab: Es hieß, eine Verfolgung lesbischer Frauen sei historisch nicht nachweisbar. Erst im Lauf der Jahre fand das Gedenken eine breite Unterstützung.

So wurde darauf hingewiesen, dass in Ravensbrück sehr wohl diverser Gruppen gedacht wird, die nicht wegen ihrer Charakteristika verfolgt wurden, wie zum Beispiel der Kinderhäftlinge. Im Frühjahr 2021 kam es zum Durchbruch. Der neuen Leiterin der Gedenkstätte, Andrea Genest, gelang es in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld mit viel Diplomatie, ein entscheidendes Gutachten zu vergeben.

Ein wichtiges Signal

Als Autor wurde Martin Lücke ausgewählt, Professor an der Freien Universität Berlin und ausgewiesener Experte für schwule Geschichte – aber eben nicht lesbische. Warum brauchte es einen männlichen Professor, der nicht Spezialist auf dem Gebiet war, wo doch Dutzende von Forscherinnen zu lesbischen Häftlingen in KZs geforscht haben?, fragte sich nicht nur die Initiative, sondern auch Martin Lücke. Vielleicht gilt hier auch für Denkmäler das Bismarcksche Diktum zu Gesetzen und Würsten, dass man besser nicht wisse, wie sie entstehen. Lückes Gutachten empfahl die Gedenkkugel, die an die lesbischen NS-Opfer erinnert.

Zwar ist die Gedenkkugel beim Brennen zerbrochen, so dass am Sonntag zunächst ein Interims-Gedenkzeichen eingeweiht wird. Das Signal, das von der Feierstunde ausgeht, ist dennoch ein wichtiges. Lesbische Frauen sind von nun an nicht mehr Stieftöchter der Geschichte, sondern deren vollwürdiges Mitglied.

- Die Autorin ist Associate Professor of Modern Continental European History an der University of Warwick.

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