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Spielpraxis. In Israel bringt eine Frau durchschnittlich 3,1 Kinder zur Welt, in Deutschland sind es 1,59.

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Kinderreichtum in Israel: Wer keine Kinder hat, gilt als nicht normal

Israels Geburtenrate ist so hoch wie nirgendwo sonst in der westlichen Welt. Der Druck, Kinder zu bekommen, trifft auch Homosexuelle – der Staat hilft nach.

Als Eres Baruchi vor knapp 20 Jahren seiner Familie nach langem Zögern erzählte, dass er schwul ist, habe er auch diesen einen Satz gesagt, der für ihn ganz selbstverständlich war: „Ich will trotzdem Kinder haben.“ Baruchi, heute 45 Jahre alt, ist mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Etwas anderes als ein Leben mit großer Familie habe er sich nicht vorstellen können. Ohne Kinder – wäre das nicht fürchterlich einsam?

„Wie das funktionieren sollte, wusste ich zwar noch nicht. Aber irgendeine Lösung würde sich schon finden lassen, da war ich mir sicher“, erzählt Baruchi heute. Er steht an diesem Abend in der Küche seiner Neubauwohnung im zwölften Stock mit Blick auf die leuchtende Skyline von Tel Aviv und brät in einer winzigen Pfanne eine Kinderportion Omelette mit Käse. Gerade ist sein Partner Ori mit Tochter Roni aus dem Kindergarten zurückgekommen.

Ein demografischer Wettlauf mit den Palästinensern?

Die Zweijährige hat Hunger, legt sich vor dem Essen aber erst noch mit ihrem Bruder Eitan an: Der Sechsjährige will sie partout nicht mit auf das Tablet schauen lassen, auf dem gerade ein Video läuft. Sie kreischt, er brüllt. Hündin Shania, 16 Jahre alt, steht daneben und wedelt mit dem Schwanz. „Sie hört nicht mehr gut und fast blind ist sie auch“, sagt Baruchi, und überhaupt sei hier ja meist doppelt so viel los. An diesem Abend sind die beiden großen Kinder, Gilad, bald zwölf, und Lior, zehn, bei einer Schulveranstaltung und kommen deshalb erst spät. Ab Mai wird es sogar noch lauter: Der allerjüngste Schreihals wird in einigen Wochen zur Welt kommen.

Die Bewohner keines anderen westlichen Landes sind so besessen von dem Wunsch, Nachwuchs zu zeugen, wie die Israelis. Durchschnittlich bringt eine Frau hier 3,1 Kinder zur Welt, in Deutschland sind es 1,59.

Die Gründe dafür sind so vage wie naheliegend, nicht nur streng religiöse jüdisch-orthodoxe und muslimisch-arabische Familien haben viele Kinder, auch säkulare Frauen bringen im Schnitt mehr als zwei zur Welt. Sozialwissenschaftler und Psychologen erklären das Phänomen mit der Geschichte des jüdischen Volkes, der geografischen Lage Israels, dem Holocaust. Und mit einem demografischen Wettlauf mit den Palästinensern.

"In unserem schwulen Freundeskreis haben fast alle Kinder"

Fragt man Ori Lachmi, 36, und Eres Baruchi, woher dieser ausgeprägte Kinderwunsch bei ihnen kommt, nennt Lachmi sofort die Angst vor der Einsamkeit: „In unserem schwulen Freundeskreis haben mittlerweile alle bis auf einen Kinder. Und der fühlt sich, glaube ich, ziemlich ausgeschlossen.“ Baruchi sagt: „Eine Familie zu gründen ist Teil der jüdischen Kultur und damit auch der israelischen.“

Eine Kultur, die so dominant ist wie die des israelischen Kinderreichtums, kann Druck erzeugen. Er muss längst nicht von allen empfunden werden, aber jene, die kinderlos bleiben, sind die Ausnahme und werden als solche behandelt, oder fühlen sich zumindest so. So wie der von Lachmi erwähnte kinderlose Freund vielleicht. Seit die Medizin es zulässt, dass weibliche Singles, lesbische Paare und homosexuelle Männer Kinder haben können, ist diese Kultur auch bei ihnen angekommen.

„Tos tos“, sagt Roni, wenn man sie nach ihrem ungeborenen Bruder fragt. Sie meint Matos – Flugzeug. Im April fliegt die Familie nach Portland an die Westküste der USA und holt das Baby ab, das derzeit noch im Bauch einer Leihmutter wächst. Eres Baruchi und Ori Lachmi werden ab Mai fünf Kinder großziehen.

"Ein Kind reicht nicht"

Fast 2000 Jahre lebte das jüdische Volk entwurzelt und verstreut in der Diaspora. Um als Volk überleben zu können, brauchte es nicht nur Nachwuchs, sondern auch einen starken Zusammenhalt der Gemeinschaft – und damit auch der Familie. Dann kamen die Nazis und mit ihnen der Massenmord. Bis heute prägt diese Erfahrung die israelische Gesellschaft: „Die Angst vor der Vernichtung geht einher mit dem Wunsch nach Kontinuität“, erklärt die Soziologin Orna Donath, „es muss weitergehen. Ein Kind reicht da nicht, das ist dann noch keine richtige Familie.“ Sie spricht auch vom gesellschaftlichen Druck, der auf jungen Israelis laste: „Es gibt kein alternatives Drehbuch für ein Leben ohne Kinder.“

Familienbande. Roni, 2, Ori Lachmi, Eres Baruchi und Eitan, 6.
Familienbande. Roni, 2, Ori Lachmi, Eres Baruchi und Eitan, 6.

© Lissy Kaufmann

Orna Donath ist die Autorin der im Jahr 2015 veröffentlichten Studie „Regretting Motherhood“, in der deutschen Übersetzung versehen mit dem Untertitel „Wenn Mütter bereuen“. In Deutschland hat das Werk eine gesellschaftliche Debatte ausgelöst. In Israel auch, aber sie war nach wenigen Tagen vorbei. Donath trifft in ihren Kursen auf Studentinnen, die sich erstmals mit Mitte 20 damit befassen, dass man sich auch gegen Kinder entscheiden kann. „Für viele bin ich die Erste, die sie treffen, die nicht Mutter sein will“, erzählt die 42-Jährige.

Israel bietet allen die Möglichkeit, auf alternativem Weg Kinder zu bekommen

Schwule und Lesben betreffend sagt Donath: „Familie und Elternschaft sind in Israel so wichtig, dass viele es als Zutritt zum Konsens betrachten. Viele Eltern sagen: ‚Macht nichts, dass du schwul bist, solange du Vater wirst.’“ Kinder zu haben sei „Voraussetzung, um in die kuschelnde Umarmung der Gesellschaft aufgenommen zu werden“.

Israel bietet fast jedem die Möglichkeit, auch auf alternativen Wegen Kinder zu bekommen: Frauen, die auf althergebrachte Weise keine Kinder kriegen können, haben das Anrecht, sich künstlich befruchten zu lassen. Die Krankenkassen – anders als in Deutschland – bezahlen Frauen die In-vitro-Fertilisation, also die Befruchtung im Reagenzglas, nahezu komplett, bis zum Alter von 45 Jahren und für bis zu zwei Kinder. Das gilt auch für alleinstehende und lesbische Frauen.

Für Orna Donath steht fest, dass dies auch Druck auf die Frauen ausübt: „Wenn du die Möglichkeit hast, musst du es auch tun. Sonst bist du eine Frau, die sich nicht genug für ein Kind aufopfert.“ Bei der Befruchtung im Reagenzglas ist Israel Vorreiter: Rund vier Prozent aller Babys, die in den vergangenen Jahren in Israel zur Welt kamen, wurden per In-vitro-Fertilisation gezeugt. Homosexuelle Männer können auf Leihmütter im Ausland zurückgreifen – oder auf Bekannte, die das Kind austragen und mit denen sie sich die Elternschaft teilen: Auch Eres Baruchi entschied sich für diesen Schritt, bevor er Ori kennenlernte.

Sein Telefon klingelt. Es ist Vered, die Mutter der drei ältesten Kinder. Sie will mit Eitan sprechen, der noch immer auf das Tablet starrt. Als er hört, dass seine Mama anruft, flitzt er los, nimmt das Handy und verschwindet in sein Zimmer.

Queere Eltern in der Kita - völlig normal

An drei Tagen unter der Woche und an jedem zweiten Wochenende leben die Kinder bei der Mutter in Givat Schmuel, einer Kleinstadt nahe Tel Aviv. Dort gehen sie auf eine religiöse staatliche Schule – das ist Eres Baruchi und Vered wichtig. Er geht in die Synagoge und hält die Schabbatruhe ein, das heißt: Er fährt samstags nicht Auto, lässt das Handy aus und nutzt auch keine anderen elektrischen Geräte. Dass Partner Ori, der auch aus einer religiösen Familie stammt, das alles nicht mitmacht und auch Roni säkular aufwächst, stört ihn nicht, sagt er.

Die Mutter der drei ältesten Kinder lernte Eres Baruchi, der als Innenarchitekt arbeitet, mit Anfang 30 kennen. Ein Wissenschaftler der Universität Tel Aviv, der ihn zu einer Studie über religiöse Homosexuelle befragte, stellte ihm Vered vor: heterosexuell, allein und mit 30 Jahren in religiösen Kreisen schon raus aus dem üblichen Alter für die Partnersuche. Vered wollte aber Kinder, wenn es sein musste auch ohne Ehemann, so erzählt es Baruchi. Sie ließen sich auf eine geteilte Elternschaft ein.

Nach Gilad folgten noch Lior und Eitan. Jedes Mal ließ sich Vered künstlich in der Klinik befruchten. Zwei Wochen vor der Geburt von Lior, dem zweiten Kind, lernte Eres Ori kennen.

Eine Leihmutterschaft in den USA

Auch der war in einer Großfamilie mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Die beiden waren längst ein Paar, als 2012 Eitan geboren wurde. Doch Ori wollte auch leibliche Kinder haben. So kamen sie auf die Leihmutterschaft in den USA. „Und uns war auch gleich klar, dass es mehr als ein Kind sein sollte“, sagt Ori. „Ich wollte, dass Roni noch ein Geschwisterchen hat, mit dem sie die gleiche Geschichte teilt.“ Das heißt: im Reagenzglas gezeugt mit den Eizellen einer Fremden, ausgetragen von einer anderen Frau im Ausland, großgezogen von zwei Vätern in Tel Aviv.

Ein Dienstagmorgen kurz vor acht in Ronis Kita im Zentrum Tel Avis. Die letzten Kinder trudeln ein. Vier der knapp über 20 Kinder hier haben homosexuelle Eltern, sagt die Kita-Leiterin Ifat Apter. Apter setzt sich auf einen der Kinderstühle, Kinder von queeren Eltern seien in ihrem Kindergarten eine Selbstverständlichkeit, sagt sie. „Ich verstehe gar nicht, was an dem Thema so besonders sein soll.“ Man habe sich darauf eingestellt: „Wir achten darauf, nicht nur aus Büchern zu lesen oder Lieder zu singen, in denen es um Vater und Mutter geht. Und wenn die Kinder fragen, wie das mit Mama und Papa ist, erklären wir eben: Dieses Kind hat einen Papa, und auch eine Oma. Dieses Kind hat zwei Mamas und das andere hat zwei Mamas und einen Papa.“

Die Erzieherin ist selbst Mutter von drei Kindern. Den Wunsch nach Nachwuchs kann sie verstehen. Auch sie nennt als Grund die Angst vor der Einsamkeit. „Wenn du keine Familie hast, bist du allein.“ Dieses Gefühl hänge auch mit der politischen Lage im Land zusammen: „Israel ist ein gefährliches Land. Der Tod scheint immer nah zu sein. Jeder hat Kinder in der Armee.“ Frauen müssen zwei, Männer fast drei Jahre dienen. Das Land ist von feindlich gesinnten Staaten umgeben und auch, wenn die Zeiten des täglichen Terrors vorbei sind: Die Angst vor Anschlägen, die es noch immer gibt, bleibt: „Ständig könnte irgendwo etwas in die Luft gehen. Das Land ist klein, alles ist nah an dir dran. Kinder aber bedeuten Liebe.“ Man schaffe mit einer Familie einen kleinen, heilen Raum.

Ein demografisches Rennen

Ori Lachmi und Eres Baruchi haben für den Traum von der großen Familie ihre Eigentumswohnung verlassen und sind in eine größere Mietwohnung gezogen. Für ein Bürozimmer für Lachmi, der als Drehbuchautor arbeitet, reichte es darin aber nicht mehr. „Ich arbeite vom Café aus“, sagt er. Der Preis für die Leihmutterschaft in den USA kam hinzu: Umgerechnet 130.000 Euro zahlten sie pro Kind. „Ich habe dafür das Erbe meines Großvaters genutzt“, sagt Lachmi.

Knapp neun Millionen Menschen leben in Israel, zur Zeit der Staatsgründung waren es 800.000. Statistiker rechnen mit einem Anstieg auf 15 Millionen bis zum Jahr 2059. Jedes Jahr am Unabhängigkeitstag werden in den Medien die neuen Bevölkerungszahlen verkündet. Berichtet wurde auch, als im Jahr 2013 die jüdische Bevölkerung auf mehr als sechs Millionen anstieg – ein für Juden hochsymbolischer Moment, im Holocaust wurden sechs Millionen Juden ermordet.

"Eine patriotische Pflicht, große Familien zu haben"

Oft wird in Berichten zu den Bevölkerungszahlen der Zuwachs bei Palästinensern mit dem der Israelis verglichen: Leben zwischen Mittelmeer und Jordan bald mehr Araber als Juden? Es ist ein demografisches Rennen, die Größe der Bevölkerung bedeutet im Nahostkonflikt auch Macht. „Araber und Juden haben es als eine patriotische Pflicht gesehen, große Familien zu haben“, schreibt Alon Tal, Leiter des Instituts für Gesellschaftspolitik an der Universität Tel Aviv. In seinem Buch „Das Land ist voll“ warnt er vor sozialen und ökologischen Krisen, wenn die Bevölkerung weiter wächst. Für ihn steht fest: Der Wettlauf im Kernland ist zu Ende, die Geburtenrate jüdischer Israelis steigt, die arabischer Israelis sinkt.

Mit Blick auf das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan – inklusive Westjordanland und Gaza – prognostiziert der Demograf Sergio Della Pergola von der Hebräischen Universität in Jerusalem einen Angleich der Bevölkerungszahlen: In den kommenden Jahren könnten die Palästinenser, derzeit 6,5 Millionen, die jüdischen Israelis, derzeit 6,9 Millionen, eingeholt haben.

Es wird also eng – auch bei Ori Lachmi und Eres Baruchi, wenn im Mai das jüngste Familienmitglied einzieht. Der sechsjährige Eitan wird sich dann das Zimmer mit seinem kleinen Bruder teilen müssen. Der aber freut sich, sagt Lachmi. Eitan wolle unbedingt, dass der Kleine dann bei ihm einzieht.

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