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Jean Wyllys beim Gespräch in Berlin. Er war für die linke Partei PSOL seit 2011 Mitglied im brasilianischen Nationalkongress.

© Maximiliano Monti

Jean Wyllys, schwuler Abgeordneter aus Brasilien: "Ich musste ins Exil, weil ich überleben wollte"

Jean Wyllys musste nach Morddrohungen aus Brasilien fliehen. Hier spricht er über Gefahren für sein Land, den Homo-Hass Bolsonaros - und sein Exil in Berlin.

Herr Wyllys, kurz nach Amtsantritt des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro haben Sie Ende Januar angekündigt, Brasilien zu verlassen. Als erster offen schwuler Abgeordneter des Landes hatten sie schon seit Jahren Morddrohungen erhalten. Was gab schließlich den Ausschlag für den Gang ins Exil?

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, fiel schon im März vergangenen Jahres. Damals wurde die linke, lesbische Stadträtin Marielle Franco in Rio de Janeiro erschossen, auf offener Straße. Mit dieser Exekution wurde klar, dass es nicht nur darum geht, Leute einzuschüchtern und ruhig zu stellen - sondern dass es eine reale Gefahr für mein Leben gibt. Wir erleben in Brasilien seit Jahren einen Anstieg der Gewalt und des Hassdiskurses gegen Personen, die für Menschenrechte und insbesondere für LGBTI-Rechte eintreten. Seit dem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff 2016 nahm das unerträgliche Maße an.

Wie erklären Sie sich diesen immer stärker werdenden Hass?

Wir haben als LGBTI-Community natürlich auch viele Erfolge erzielt, kulturell und im legislativen Bereich, vor allem in der Zeit von Präsident Lula zwischen 2003 und 2010. Das hat eine Gegenattacke der Rechten ausgelöst. Der Diskurs ist bis in die Wurzeln der Gesellschaft vorgedrungen. Ein Beispiel: Es gab den Fall von Alex, eines achtjährigen Jungen. Nur weil er Bauchtanz mochte, wurde er von seinem eigenen Vater ermordet. Das zeigt, wie LGBTI in Brasilien grundsätzlich gefährdet sind. Bolsonaro hat im Fernsehen gesagt, Schwule und Lesben sind nur zu Schwulen und Lesben geworden, weil sie in ihrer Kindheit zu wenig Prügel von ihren Eltern bekommen haben.

Bolsonaro hat persönlich jahrelang massiv gegen sie persönlich gehetzt. Wie lebte es sich mit der permanenten Bedrohung?

Diese verbale Gewalt von Bolsonaro wurde von der Gesellschaft oft lachend aufgenommen. Er wollte mich zum öffentlichen Feind machen, hat etwa meine Homosexualität mit Pädophilie in Verbindung gebracht. Die Drohungen haben sich übrigens auch gegen meine Familie gerichtet. Nach der Exekution von Marielle Franco habe ich unter Polizeischutz gelebt. Eine Polizeieskorte hat mich auf den Weg zur Arbeit begleitet, mich dort bewacht, hat mich auf dem Weg zurückbegleitet und ist dann bei mir zuhause geblieben. Mit diesem Sicherheitsschutz fühlte ich mich, als ob ich in einem Privatgefängnis eingesperrt bin. Dieser Zustand hat dann letztlich auch meine Gesundheit stark beeinträchtigt.

Sie haben selber Bolsonaro einmal ins Gesicht gespuckt, seine Anhänger „Hirnlose“ genannt. Würden Sie im Nachhinein sagen, dass das Fehler waren, weil es zur Polarisierung Brasiliens beigetragen hat?

Es ist schon bemerkenswert, wie dieser Vorfall in der Öffentlichkeit instrumentalisiert wird. In der Berichterstattung gab es eine Umkehrung der Verhältnismäßigkeit. Kurz bevor ich Bolsonaro angespuckt habe, huldigte er dem Chef eines Folterzentrums aus der Zeit der Militärdiktatur - und das ausgerechnet, als über das Amtsenthebungsverfahren von Dilma Rousseff abgestimmt wurde. Dieser Mann war einer der schlimmsten Folterer der brasilianischen Militärs.

Man muss dazu wissen, dass Dilma Rousseff während der Militärdiktatur selber drei Jahre lang gefoltert wurde.

Dieser Mann hat lebende Ratten in die Vaginas von Frauen eingeführt, um sie zu foltern. Bolsonaro hat ihn nun während der Abstimmung zu Rousseffs Amtsenthebungsverfahren gelobt. Es ist schon kurios, dass die brasilianischen Medien es zum Skandal machten, wie ich Bolsonaro ins Gesicht gespuckt habe - und nicht, dass der einen solchen Mann gelobt hat. Ich bedauere nichts.

Würden Sie es also wieder machen?

Ja. Das Lob Bolsonaros für diesen Mann war anti-ethisch und gewalttätig – und nicht das, was ich getan habe.

Wie hat sich ihrer Einschätzung nach die Lage in Brasilien seit dem Amtsantritt Bolsonaros verändert? Ist das Land tatsächlich auf dem Weg in ein autoritäres Regime, wie die Kritiker des Präsidenten befürchten?

Mit der Wahl Bolsonaros haben sich Abgründe aufgetan, und wir sind jetzt ganz unten angelangt. Es ist eine Regierung an der Macht, die kein Regierungsprogramm hat, das die Leiden des brasilianischen Volkes mildern würde. Die Freiheitsrechte werden beschnitten, die Opposition angegriffen. Der Präsident hat indirekte Beziehungen zu Mafiamilizen, lobt ehemalige Diktatoren wie Pinochet. Ich würde nicht sagen, dass wir derzeit in Brasilien in einer Demokratie leben – aber auch nicht in einer Diktatur. Wir leben vielmehr in einer „Post-Demokratie“, so hat es der Schriftsteller Rubens Casara ausgedrückt.

Was bedeutet das?

Die demokratischen Institutionen bestehen nur noch als Fassade, Gesetze werden gebogen, die politischen Ausdrucksmöglichkeiten mehr und mehr eingeschränkt.

Bolsonaro ist Ex-Militär und verherrlicht die frühere Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 dauerte. Viele Brasilianer scheinen dafür empfänglich, nicht zuletzt weil die Militärdiktatur nie richtig aufgearbeitet wurden. Haben da auch die linken Parteien versagt, die lange regiert haben?

Sie haben Recht, Brasilien hat das nie aufgearbeitet, obwohl das so wichtig wäre. Es gab einen Versuch: Den Bericht der Nationalen Wahrheitskommission, der 2014 veröffentlicht wurde. Der war enttäuschend, sehr zaghaft. Es war ein Kompromiss, schließlich gab es in der Gesellschaft starke Widerstände dagegen. Man darf nicht vergessen: Es war eine von Bürgerlichen getragene Diktatur. Brasilien hat auch nie die 350 Jahre der Sklaverei aufgearbeitet.

Mit seiner Homo- und Transfeindlichkeit zielt Bolsonaro insbesondere auf die Millionen von Evangelikalen, die zu seinen treuesten Wählern gehören. Wie kann man die mit anderen Angebote erreichen?

In einen Dialog zu treten ist sehr schwierig. Trotzdem müssen wir es machen. In der katholischen Kirche in Brasilien gibt es zum Beispiel eine Bewegung, die für Diversität eintritt, und dahingehend eine neue Exegese der Bibel versucht. Ein solches Netzwerk gibt es genauso bei den Evangelikalen, selbst wenn es eine Minderheit ist. Wir müssen aber auch etwas weniger nachsichtig sein mit denen, die intolerant sind. Auch die müssen verstehen: Wir leben in einer Welt der Vielfalt. Warum sollen immer nur wir als Linke die Aufgabe haben, die anderen zu verstehen? Wenn die anderen wollen, dass ihre Religionsfreiheit respektiert wird, sollen sie genauso respektieren, dass jeder so leben kann, wie er will.

Wie erklären Sie sich, dass selbst schwule Gruppen Bolsonaro unterstützt haben?

Es handelt sich um internalisierte Homophobie, eine Art Selbsthass. Sehen Sie: Die Strukturen, die uns unterdrücken, sind in uns. Die Gesellschaft, die einen Heterosexuellen zum Homophoben macht, ist die gleiche, die einen Homosexuellen erzieht. Wir Homosexuellen gehen in die gleichen Schulen, in die gleichen Kirchen, schauen die gleichen Filme. Wenn wir dann bemerken, dass unsere Sexualität eine andere ist, müssen wir uns entscheiden: Lassen wir sie zu, oder unterdrücken wir uns selbst? Was Homosexuelle indes verstehen sollten: Die extreme Rechte ist rassistisch, aber auch homophob. Sie wird immer dazu tendieren, uns ausradieren zu wollen.

Welche Botschaft sendet Ihr Exil an andere Oppositionelle in Brasilien aus – sollten sie ebenfalls in Exil gehen, wie zur Zeit der Militärdiktatur?

Ganz klares Nein. Meine Entscheidung ins Exil zu gehen war eine des Überlebens, das sollte keine Botschaft an andere aussenden. Nur wenn ich überlebe, kann ich weiterhin Widerstand leisten. Im Exil kann ich mich dafür einsetzen, dass die Freiheit in Brasilien nicht weiter mit Füßen getreten wird, dass die Menschen, die dort bedroht sind, Schutz erhalten.

Sie wollen jetzt erstmal in Berlin bleiben. Warum haben Sie sich für die Stadt entschieden?

Ich war während der Parlamentsferien in Europa, hatte die Tickets für die Flüge schon viel früher gekauft, weil ich aus der Mittelklasse bin und mir keine teuren Tickets leisten kann. Dann nach Berlin zu kommen und hier zu bleiben – dafür habe ich mich entschieden, weil ich hier eventuell die Möglichkeit habe, meinen Doktor zu machen. Ich werde mich auf Stipendien bewerben. Berlin ist eine kosmopolitische Stadt, eine tolerante Stadt. Hier fühle ich mich sicherer und freier als andernorts.

Haben Sie jemals daran gedacht, Asyl zu beantragen?

Nein, nie. Es gibt sehr viele Menschen, die das machen müssen. Doch meine Lebensgrundlage war immer das intellektuelle Arbeiten. Deswegen habe ich mich dafür entschieden, eine Dissertation in Angriff zu nehmen.

Was muss sich ändern, damit Sie wieder nach Brasilien zurückkehren können?

Schwierig, ich habe gerade wenig Hoffnungen. Diese Regierung muss stürzen, das ist klar. Wenn es eine Art Rettungsschirm für die Demokratie geben würde, wenn die Grundrechte wieder gelten – dann wäre es möglich.

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