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Der Berliner Autor Jayrôme C. Robinet.

© Ali Ghandtschi

Jayrôme C. Robinets Autobiografie: Wie sich ein trans Mann bei seiner ahnungslosen Familie outet

Jayrôme C. Robinet veröffentlicht nächste Woche sein Buch "Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund". Hier ein Auszug aus dem Kapitel "Willkommen bei den Sch'tis".

Mein Handy klingelt. Ich starre auf das Display. Ich kann unmöglich rangehen. Der Name, kein Name: Maman. Ist was passiert? Meine Mutter ruft mich so gut wie nie an. Geschweige denn auf dem Handy. Auslandsverbindung. Zu teuer. Das Ding klingelt weiter in meiner Hand. Soll ich drangehen und im schrillen Sopran sprechen, um meine tiefe Stimme zu verbergen? Humor ist nicht immer lustig.

Auf der Mailbox klingt die Stimme meiner Mutter rau und heiser: „Kannst du mich zurückrufen?“ Nein. Das kann ich nicht. Am besten schicke ich ihr eine SMS. Bin beschäftigt. Sie soll mir schreiben, was los ist. Das ist auf jeden Fall glaubwürdiger, beschließe ich, als wenn eine männliche Stimme am Telefon behauptet, sie sei ihre Tochter. Mein Handy vibriert, die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. "Enzo ist tot. Samstag ist die Beerdigung." Nein … Enzo … Mein Onkel … Ich muss mich setzen.

Während ich im Internet nach einem billigen Flug suche, überlege ich fieberhaft. Meiner Familie die Nachricht meiner Transition langsam zu verkünden, kann ich nun vergessen. Bleibt nur noch der Ruck, wie bei einem Pflaster. Nachdem ich Flug- und Bahnticket gebucht habe, schreibe ich eine kurze E-Mail. Es ist etwas geschehen, das mich sehr glücklich macht. Ich habe beschlossen, als der Mann zu leben, der ich wirklich bin. Ich nehme seit einiger Zeit Testosteron, habe mich optisch verändert, bleibe aber dieselbe Person, vor allem bleibt meine Liebe für Euch gleich. Ich will bei Enzos Beerdigung da sein und komme morgen um 17:13 am Bahnhof an. Ich freue mich auf Euch. Senden.

Ergänzungsausweis mit selbstgewähltem Namen

„Und das sollen Sie sein?“ Ein Mitarbeiter der Fluggesellschaft hat meinen Pass aufgeklappt und vergleicht mein Gesicht mit dem Passbild. Zugegeben sehe ich mit Brille etwas anders aus. Ich grinse. (….) Mein Pass wird mit der Bordkarte verglichen. Wortlos halte ich dem Mann meinen Ergänzungsausweis hin. „Was heißt das?“ „Lesen Sie selbst.“ Er braucht einige Sekunden, um die Information zu verarbeiten. Der Ausweis enthält meine selbstgewählten personenbezogenen Daten – Vornamen, Geschlecht –, sowie ein aktuelles Passfoto. Er wird von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität ausgestellt und vom Bundesministerium des Inneren bestätigt. Hinter mir wird die Schlange länger. „Oh, sorry …“ Er steckt den Ausweis in meinen Pass und klappt diesen wieder zu. „Guten Flug.“

Am Flughafen Paris-Orly patrouillieren Soldaten mit Sturmgewehr. Anti-Terror-Maßnahme seit den Anschlägen auf Charlie Hebdo. Am Gare du Nord wieder Männer in Uniform. Im Zug entspannt mich das sanfte Geruckel. Es ist warm. Ich gähne und will schnell ankommen. Aber ich habe einen Knoten im Magen. Bei dem Gedanken, dass ich gleich meine Familie wiedersehen werde, steigt jedes Mal Panik in mir auf. Mein Handy vibriert. Meine Mutter schreibt, dass sie mich vom Bahnhof abholt. Wie gern würde ich es ihr ersparen, innerhalb einer Sekunde das begreifen zu müssen, wofür ich so viele Jahre gebraucht habe.

"Ich hab dich nicht erkannt", sagt die Mutter

Der Bahnhof ist kleiner als in meiner Erinnerung, ein Gebäude aus der Jahrhundertwende, mit Stuck und Marmorboden. Dieselbe Melodie wie in Paris weist mich darauf hin, mein Gepäck nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Dann sehe ich meine Mutter. Sie sucht die Menge der Reisenden nach mir ab, und ich merke, wie konzentriert sie ist. Sie runzelt die Stirn, vielleicht fürchtet sie, mich nicht zu erkennen. Ich gehe auf sie zu. Ich stehe vor ihr. Sie hält den Riemen ihrer Handtasche fest umklammert, als könne die Tasche sie vor dem Umfallen retten. Nun verändert sich ihr Gesicht. Sie lässt den Riemen los und öffnet die Arme. „Ich hab dich nicht erkannt!“ Ich kann ihre raue Stimme im Lärm des Bahnhofs kaum hören. Meine Mutter packt mich an beiden Armen, tritt einen Schritt zurück, und für ein paar Sekunden mustert sie mich, still, so wie man ein Gemälde betrachtet. Sie scheint sich zu freuen über das, was sie sieht. „Je t’aime., sagt sie schließlich.“

Ich schlucke. Auch Liebesbekundungen waren nichts, was ihr leicht über die Lippen kam. „Moi aussi.“ "Ich liebe dich" bringe ich nicht raus. Wegen la pudeur, einer Mischung aus Scham und Keuschheit, Vorsicht und Zurückhaltung.

„Nathalie ist auch da. Sie wartet im Auto.“ Wir verlassen die Bahnhofshalle, begleitet vom Krach des Rollkoffers. Der schwarze Peugeot 205 steht in der Kurzparkzone. Meine Schwester lehnt an der vorderen Tür. Kaum stehen wir uns gegenüber, ist la pudeur wieder da. Küsschen links, Küsschen rechts. In Frankreich vermisse ich die deutsche Umarmung, Leute richtig ans Herz drücken.

Die jüngere Schwester drückt ihn lange

„Wie geht’s?“, fragt Nathalie und lächelt. Sie hat Tränen in den Augen. Ich beobachte ein minimales Muskelspiel in ihrem Gesicht, ihre Augenbrauen schieben sich etwas zusammen, wie bei einer interessanten Lektüre. Als Kind stand ich meiner älteren Schwester sehr nah. Wir teilten uns sogar ein Zimmer. Dann hatte ich meine pubertäre Krise und ich redete mit niemandem mehr.

Mit einem knirschenden Geräusch parkt der Peugeot 205 direkt vor dem Haus meiner Kindheit. „Salut!“ Meine jüngere Schwester stürzt auf mich zu. Viola ist ein Energiebündel mit goldenen Augen. Sie drückt mich lange. Eine Umarmung, an die wir vielleicht nicht gewöhnt wären, wenn ich als Junge aufgewachsen wäre – jedenfalls hat sie sich nie so in die Arme meines Bruders geworfen und ich auch nicht.

„Alles klar?“ Mein Bruder küsst mich etwas verlegen auf die Wangen. Didier ist groß hat einen hervorstechenden Adamsapfel und kaum Barthaare. Zum ersten Mal frage ich mich, ob er schon mal deswegen Komplexe hatte. Er sucht eingeschüchtert meinen Blick.

Wieder Küsschen links, Küsschen rechts, Coralie, seine Freundin, begrüßt mich und hält sich dabei den Bauch. Sie ist im fünften Monat schwanger. Wir sitzen auf der Terrasse, die eigentlich nur eine Fläche Beton ist, trinken einen Apéro, Kronenbourg und Pineau, und lassen Erdnüsse im Mund knacken. Mein Vater soll morgen kommen. Vor mir die verrostete Wäschespinne, der Apfelbaum, dessen Äpfel klein und sauer sind. Neben unserem Grundstück ragt ein Hochspannungsmast in den Himmel, der ab und zu leise knistert.

 Dem Bruder wäre es lieber, Jayrôme hätte gelitten

Alle haben mich bereits ein paar Mal Céline genannt und sich mit dem Pronomen „sie“ auf mich bezogen. Ich bringe es nicht übers Herz, sie zu korrigieren. Ich bin unheimlich müde von der Reise. Wir unterhalten uns über Enzo, dessen Tod für alle ein Schock ist. Und als würde das nicht reichen, haben sich seine drei Kinder bei der Organisation der Bestattung furchtbar gestritten.

Coralie leckt sich genüsslich das Salz der Erdnüsse von den Fingern und fragt, was ich noch für zusätzliche Schritte unternehmen möchte und ob überhaupt. Coralie hat in meiner Familie oft diese Funktion des Brückenbauens. Sie kann persönliche Dinge ansprechen, bei denen wir uns innerhalb der Familie nicht trauen, und ich freue mich für meinen Bruder, dass er sie hat. Ich antworte, dass ich meinen Körper okay finde und dass ich nicht wirklich darunter leide, auch dass ich früher nicht wirklich gelitten habe beziehungsweise dass ich es vielleicht auch einfach verdrängt habe. Mein Bruder schaut auf den Hochspannungsmast und sagt – vielleicht macht ihn der Schnaps mutig –, dass es ihm lieber wäre, wenn ich gelitten hätte. „Sonst hab ich den Eindruck, dass alles nur ein Spiel für dich ist.“

Die Erdnüsse liegen mir plötzlich wie ein Sack Steine im Magen. Ich nippe an meinem Pineau, der kalt und süß schmeckt. Der Eiswürfel hat an Glanz verloren. Im Hintergrund zwitschern Vögel, deren Namen ich nicht kenne, gleichzeitig hört man die Autos auf der vierspurigen Schnellstraße rasen. Mit sechzehn wollte ich sterben, ja. Ob diese Info meinen Bruder freuen würde?

Das erste Treffen mit dem Vater seit drei Jahren

Der Berliner Autor Jayrôme C. Robinet.
Der Berliner Autor Jayrôme C. Robinet.

© Ali Ghandtschi

Wie ist es so mit der Transition im Alltag? Was sagt das Gesetz? Womit hast du persönlich zu kämpfen, oder transgeschlechtliche Personen generell? Wie können wir dich unterstützen? Wie kannst du uns unterstützen? Ja, was müssen wir eigentlich tun und wissen, um mit der Situation gut umgehen zu können? Um auf die Reaktionen aus unserem Umfeld vorbereitet zu sein? Das sind Fragen, die ich mir von ihnen wünsche. Aber auch ich bin nicht in der Lage, sie zu formulieren.

In meinem früheren Schlafzimmer steht noch mein altes Bett am Fenster. Nervosität macht sich in mir breit. Seit drei Jahren habe ich meinen Vater nicht mehr gesehen, und morgen ist es so weit.

Als ich aufwache, ist es schwül, das Fenster steht weit offen. Ich lausche dem Rauschen der Autos. Wie konnte ich mir als Kind nur vorstellen, das sei das Meer? Ich rieche den Dunst von Spiritus und weiß, dass mein Vater da ist. Früher war jeden Samstag putzen angesagt. „Sauberkeit!“, rief er. „Sauberkeit!“, riefen alle vier Wände.

Ich ziehe mir die Daunendecke über den Kopf. Die Decke und ich wollen nicht erwachsen werden. Ich schlendere ins Wohnzimmer. Ich komme mir vor wie jemand, der aus Versehen für den Papst gehalten wird und nun vom Balkon des Petersdoms die Osterrede halten muss. Alle TV-Kameras sind bereit, Kardinäle und Erzbischöfe, Pilger und Journalisten erwarten mich, Millionen Menschen jubeln mir zu. Und weil ich diese Leute nicht enttäuschen will, werde ich die scheiß Rede halten, obwohl ich weder weiß, was ich sagen soll, noch den Knigge für den Papstbalkon kenne.

Meine Hand liegt auf der Klinke der Küchentür. Manchmal ist eine Klinke die schwerste Hantel der Welt. Wie wird mein Vater reagieren? Ich betrachte die Risse an der Wand. Die staubigen Fenster. Den wackeligen Couchtisch. Viola taucht auf, frisch geduscht, die Haare noch nass. Sie riecht nach Aprikosen-Shampoo und trägt ein rotes T-Shirt, was ich nicht so richtig passend für eine Beerdigung finde. Vielleicht bin ich einfach zu altmodisch.

Plötzlich weiß er nicht mehr, wer er ist

„Alles klar?“ Ich kenne diesen Ton, der bei uns in der Familie bedeutet: „Bitte sag mir, dass alles in Ordnung ist, weil ich nicht damit umgehen kann, wenn es dir schlecht geht. „Alles klar.

„Hast du Papa schon gesehen?“ „Nein.“ „Sollen wir zusammen rein?“ „Ja.“ Ballast fällt ab. „Komm!“ Prompt öffnet Viola die Tür und betritt die Küche mit einem übertrieben fröhlichen „Bonjour!.. Ich bin überrascht, dass das so schnell ging, und bleibe hinter ihr zurück. Nun brauche ich nur noch reinzugehen. Alle sitzen an dem sonnenblumengelben Tisch aus Resopal, wie bei einer Beschäftigungstherapie. Ich bin der Einzige, der schwarze Kleidung tr.gt. Mein Vater rollt Teig mit dem Nudelholz aus, meine Mutter fettet das Backblech, meine Schwester schneidet Mozzarella in Stücke, und mein Bruder rührt mit einer Kelle in der Tomatensoße. Diese Bilderbuchfamilie existiert nicht. Seit ich denken kann, habe ich sie nicht so harmonisch funktionieren sehen.

Mein Vater wischt sich die Hände an seiner Schürze ab. Er öffnet die Arme, und ich werfe mich hinein, schon allein, damit er mich nicht so aufmerksam anschauen kann. Ich spüre seinen Bierbauch, und das ist mir unangenehm. „Willst du einen Kaffee?“, fragt er. Er hat ein bisschen Mehl an der Wange. Ich nicke.

Als ich den Schrank mit den Tassen öffne, spüre ich alle Blicke auf mir. Auf dem unteren Brett stehen Frühstücksschalen aus der Normandie: Jedes Kind bekam damals eine eigene mit seinem Vornamen darauf. Plötzlich weiß ich nicht mehr, wie ich mich natürlich bewege. Ich ahne, dass wir nicht über meine Transition reden werden. Gleich findet eine Beerdigung statt, unsere Sterblichkeit schwebt über uns, und es scheint, als ob alles, was gerade zählt, ist, dass ich da bin und am Leben.

Nach dem Essen kommt Onkel Fausto mit seiner Frau und meinem Cousin vorbei, weil nicht die komplette Familie Robinet in den schwarzen Peugeot passt. Fausto drückt mich. „Mais qu’t’es beau!“ Und ich dachte, Schönheit würde bei Männern keine Rolle spielen.

 Die Nachricht hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet

„Arschloch!“ Fausto haut aufs Lenkrad. „Ist gut!“, sagt meine Tante neben mir auf dem Rücksitz. „Siehst du den Typen im Fiat? Telefoniert am Steuer!“ Ich spüre, wie meine Tante mich immer wieder aus dem Augenwinkel mustert. Fausto umklammert nervös das Lenkrad. Die Beerdigung ist gleich, und wir stehen im Stau. Auch ich will ankommen, andererseits erwartet mich in der Trauerhalle meine Großfamilie. Meine Mutter hat acht Geschwister, die alle zwei oder drei Kinder haben, meine Familie ist eine Kleinstadt in der Stadt. Ich frage mich, ob mein Onkel so wütend ist, weil sein Bruder bei einem Autounfall gestorben ist. Im Rückspiegel sucht er meinen Blick. „Lebst noch in Berlin?“ „Ja.“ „Warum?“ „Ist toll.“ Die Stille danach wird nur noch vom Summen einer Fliege durchbrochen.  

Vor der Trauerhalle hat sich eine kleine Gruppe in dunkler Kleidung versammelt. Mein Mund ist trocken. Mein Onkel Antonello klopft gerade den Dreck seiner Stiefel auf der Vortreppe ab, tap-tap. Die Bewegung hat etwas erstaunlich Gewöhnliches. Plötzlich sieht er mich. Er öffnet die Arme. Die Nachricht hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Nun werde ich von allen Seiten umarmt, Leute ziehen mich an sich. Du siehst gut aus! Er sieht gut aus! Jetzt bin ich dran! Ich will ihn auch drücken! Dieses Gefühl, das tief in meiner Kehle saß, der Kloß, der meine Atmung beeinträchtigte, ist plötzlich weg. Ich stehe da, glücklich, auf einer Beerdigung.

„Hast du Enzo schon gesehen?“, fragt mein Onkel Giuseppe. Ich schüttele den Kopf. „Du musst zu ihm. Er hätte dich, so wie du jetzt bist … Er hätte dich so gern gesehen.“ Ich beiße die Zähne zusammen und muss dann doch heulen. Schließlich stehe ich in der Trauerhalle vor Enzo. Er liegt da, in seinen Sarg gebettet, sein Gesicht ist eingefallen, und man sieht ein Hämatom auf der linken Wange, aber seine Haare sind schön gekämmt, die Hände ineinandergelegt. Ich will Widerspruch erheben, nein, das stimmt nicht, mein Onkel ist nicht tot! Er duftet nicht mehr nach Pizza und Mehl, der Geruch von Trauerblumen, Trauerkränzen und Grabgestecken überdeckt sowieso alles. Und dann stelle ich mich einem Verstorbenen vor. „Enzo … voilà … c’est moi … Jayrôme …“

 Die Oma sagt: "Du bist hässlich" und lächelt

„Jayrôme! Viens!“ Beim Leichenschmaus packt mich meine Tante Silvana bei der Hand und führt mich zur Frau meines Cousins. „Tu sais c’est qui?“ Die Frau meines Cousins schluckt ihren Pflaumenkuchen herunter, wischt sich mit einer Serviette über den Mund, beäugt mich und runzelt die Stirn. Den Zeigefinger mit dem Henkel ihrer Kaffeetasse verhakt, beginnt sie die männlichen Familienmitglieder in meinem – von ihr geschätzten – Alter aufzuzählen. Irgendwann kommt sie nicht mehr weiter: „Komm, hilf mir!“ „C’est le fils à Elena.“ „Elenas Sohn?“ Sie nippt an ihrem Kaffee. .Didier? Aber Didier habe ich vorhin doch gesehen…“ „Non, pas Didier.“ „Elena hat zwei Söhne?“ Bevor die Frau meines Cousins es verstehen kann, zieht mich meine Tante weiter.

Plötzlich stehe ich vor meiner Nonna. Sie ist klein und zierlich und ganz in Schwarz gekleidet, halb versunken in einen Ohrensessel, umgeben von Söhnen und Schwiegertöchtern und Enkelkindern. Meine Tante ruft: „Maman! Regarde!“ Meine Nonna hebt die Augen, sie schaut in meine Richtung und sieht durch mich hindurch. Doch plötzlich verändert sich ihr Blick. „Ma … vieni qui!. Ich gehe auf die Knie und glaube, dass sie mir gleich in die Wange kneifen wird. Stattdessen legt sie beide Hände auf meinen Kopf. Dann hebt sie die Hand und holt zu einer Ohrfeige aus, während ihre Augen leuchten und „du Witzbold“ sagen. „Du bist hässlich!“, sagt sie und lächelt. „Deine Zähne … ich erkenne deine Zähne.“ „Nonna … hast du … hast du Fragen?“ Ihre Finger fahren durch die Luft und scheinen dort nach etwas greifen zu wollen. „Ich bin nicht gut im Reden … aber in meinem Herzen … Capito?“ Würde sie mir doch nur doll in die Wange kneifen.

Am nächsten Tag hat mein Onkel Luigi zum Abendessen eingeladen. Wer am langen Tisch nicht laut genug redet, hat keine Chance. Luigi stellt einen riesigen Topf mit Spaghetti Bolognese in die Mitte des Tisches. „Du hättest wenigstens einen italienischen Vornamen wählen können!“ Er schlägt mir mit der flachen Hand auf den Rücken. „Ist noch nichts Offizielles", sage ich, um Luigi nicht zu enttäuschen.

Homo, hetero oder bi?

Mitten im Spaghetti-Drehen hält seine Frau plötzlich inne und schaut mich an. „Darf ich dich was fragen?“ Es wird ungewöhnlich still am Tisch. „Klar.“ „Früher … also früher warst du lesbisch … oder?“ „Jein.“

„Hat sich das verändert? Also hat sich jetzt deine … bist du … ist es jetzt anders?" „Der kann jetzt nicht mehr lesbisch sein!., brummt Luigi und schmatzt. „Der kann aber immer noch Frauen lieben!“ „Ja, aber dann … dann ist er …“ „Hetero", sage ich und grinse. Ich drehe eine Gabel Spaghetti auf. „Sagen wir mal so.“ erkläre ich mit vollem Mund, "… mag immer noch Frauen. Aber früher, als Frau, war ich dann lesbisch. Und heute, als Mann, gelte ich als hetero." Ich tupfe mir mit der Serviette die Bolognese aus den Mundwinkeln. „Also hat sich meine eigene Orientierung gar nicht verändert, nur die Bezeichnung, und zwar um hundertachtzig Grad: von homo zu hetero.“

„Siehst du., sagt Luigis Frau mit einem vielsagenden Blick zu ihrem Mann. „Aber im Grunde bin ich eh bi. Und das war ich auch schon vorher. Also alles beim Alten.“ „Ach ja.“ „Waouh les muscles., sagt mein Onkel Giovanni. "Zeig mal!" Er spannt seinen Bizeps an und fordert mich auf, das Gleiche zu tun. Ich sehe seine Bewunderung und spüre eine Art Genugtuung, die mich selbst überrascht. „Wettkampf?“, sagt er plötzlich. „Komm!“ Wir legen uns auf den Bauch, Beine ausgestreckt, Blick Richtung Boden. Ich denke an meine queeren Leute in Berlin, die einen Liegestütz-Wettkampf sicher verurteilen würden, und das ist mir in dieser Sekunde egal. Ich weiß, dass dies die Art meiner Onkel ist, mich als Mann in der Familie willkommen zu heißen. In meinem Kopf spielt "Eye of the Tiger". Luigi gibt den Startpfiff. Ich strecke meine Arme. Ich gehe jedes Mal so weit herunter, dass meine Brust fast den Boden berührt. Ob Männer bei Liegestützen den Boden zuerst mit ihrem Penis berühren? Oh Gott, ich sollte nicht über den Penis meines Onkels nachdenken. Luigi zählt, die Tanten und Cousinen feuern uns an. Mein Kopf ist rot, kurz davor, zu explodieren. Egal, ich mache weiter, ein Liegestütz nach dem anderen. Ich strenge mich an, was das Zeug hält. Ich höre Giovanni, wie er Luft holt, regelmäßg und sauber. Ich kann nicht mehr. Kann man von Liegestützen sterben? Ich breche erschöpft auf den Kacheln zusammen. Besiegt, aber glücklich.

aus: Jayrôme Robinet: „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“, Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München, 224 S., 20 €. Das Buch erscheint am 18. Februar.

Buchpremiere am 29. März umd 20.30 Uhr in der Buchhandlung Eisenherz, Motzstr. 23.

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