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Ulrich Heissig als Irmgard Knef.

© Robert Recker

Irmgard Knef live: Ich hab mir den Arm ausgegoogelt

Prima: Irmgard Knef feiert in der Bar jeder Vernunft mit dem Programm "Ein Lied kann eine Krücke sein" ihren Eintritt ins biblische Alter.

Neunzig Jahre wäre Hildegard Knef kurz vor Silvester geworden. Kenner wissen, was das bedeutet: dass auch Schwester Irmgard, die – wie es bei der Bahn heißt – „aufgrund von Verzögerungen im Betriebsablauf“ zehn Minuten nach der berühmten Schwester zur Welt kam, ihren Eintritt ins biblische Alter feiern darf. Oder muss, je nachdem.

Seit zwei Jahrzehnten, seit er die fiktive Schwester im Glitzer-Anarchomilieu des Kreuzberger Cafés Anal geschaffen hat, führt Ulrich Michael Heissig als Irmgard Knef ein Bühnenleben parallel zu dem von Hildegard, nahm nach ihrem Tod 2002 in „Schwesternseelenallein“ Abschied und behauptet nun in der Bar jeder Vernunft „Ein Lied kann eine Krücke sein“.

Von Joy Fleming ist nicht viel zu hören an diesem Abend, dafür genug von den Fährnissen des Altwerdens, pardon: des Altseins. Wie sich diese Irmgard, tattrig zwar, doch mit Feuer in den Augen, aus dem Sofa stemmt, wie die Stimme knarzt und schleppt, als würde sie einen Sack aus Wörtern hinter sich herziehen und dabei die Vokale übers Pflaster holpern lassen: große Kunst! Knöpft sie sich Helene Fischer vor („Es gibt Karrieren, die ich nicht gönne“), brechen die Sätze ab, und trotzdem ist alles gesagt. Nach „Da gibt man sich jahrzehntelang Mühe ...“ hängen Schwaden von Verständnis im Saal.

Wirklich dankbar ist man Irmgard Knef aber dafür, dass sie sich nichts aufs Alterslamentieren versteift. Sondern vergnügt die Welt betrachtet, wie sie 2016 ist. Eine 90-Jährige muss nicht mehr mitspielen, Irmgard Knef tut’s. Und das heißt vor allem: Internet. Auch wenn der Fingerknöchel vom Swipen entzündet und der Arm ausgegoogelt ist: Es gilt, sich flugs bei Feierabend.de und Facebook anzumelden. Die Greisin geht zum „Geriatric Ballroom“ ins SO36, tanzt zur Musik von Buena Riester Social Club, preist ihre street credibility.

Gütige Lakonie statt Verbitterung

Auch wenn sich das anhört, als würde ihr ein Muffin im Mund zerbröseln. Anders als Georgette Dee, die im gleichen Revier „Verbitterte Diva“ wildert, kommt Irmgard Knef weitgehend ohne Bösartigkeiten aus, blickt mit gütiger Lakonie auf alles und schafft es trotzdem, dass der Saal zwei Stunden an ihren Lippen hängt.

Heissig ist Jahrgang 1965 und nicht 1925, das merkt man vor allem beim Singen. Dann durchfahren Vitalitätsschübe diesen Körper, und aus dem „Koffer in Berlin“ wird der „Trolley in Shanghai“. Überhaupt, Hildegard: Die Show atmet natürlich die Aura der älteren Schwester. Aber auch wenn die Signifikanten stimmen, die Brille, die Haare, die als geteilter Wasserfall über die Stirn fließen: Irmgard Knef ist längst eine Figur eigenen Rechts. Und hält die Erinnerung an Hildegard, die mit den Jahren im Nebel verschwindet, am Leben. Wir freuen uns auf den Hundertsten. Mindestens.

Bis 31. Januar, Di–Sa 20 Uhr, So 19 Uhr

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