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Tatort U-Bahnhof Hermannplatz. Hier schlug ein junger Mann einem Schwulen ins Gesicht.

© Thilo Rückeis

Hasskriminalität in Berlin: Die Wut von Neukölln

Attacken gegen Homosexuelle und Transsexuelle haben in Neukölln zugenommen. Jetzt wehren sich immer mehr Menschen und Organisationen gegen den Hass und die Gewalt.

Was ist nur los in Neukölln? Nicht so viel, jedenfalls nicht in dieser Nacht in der Sonnenallee. Verkäufer räumen ihre Gemüsestände in den Laden, Männerrunden sitzen in Shishabars, rauchen und trinken Tee, Jugendliche gehen mit Handymusik spazieren. Die Straße, erhellt von den Leuchtreklamen der Läden. Diese Ecke Neuköllns ist nachts vielleicht nicht so freundlich, aber ist sie auch gefährlich?

Mainzer Straße, Hermannplatz, Sonnenallee: Das sind die Orte, an denen zuletzt Homosexuelle und Transsexuelle aus Hass angegriffen und verletzt wurden. Im Februar stört sich im U-Bahnhof Hermannplatz eine Gruppe junger Männer an einem tanzenden und singenden homosexuellen Mann. Ein Gruppenmitglied schlägt dem Mann mehrfach mit der Faust ins Gesicht.

Anfang März wird ein 24-Jähriger, der mit seinem Lebensgefährten in der Mainzer Straße spazieren geht, geschlagen und mit einem Messer in den Oberschenkel gestochen. Das Paar hatte die Frage der zwei Angreifer nach Zigaretten ignoriert. Mitte April wird ein 23 Jahre alter Homosexueller von 15 Männern auf der Sonnenallee auf Höhe der Weichselstraße homophob beleidigt. Drei aus der Gruppe umringen ihn, schlagen ihn, attackieren ihn mit Messer und Reizgas und klauen ihm Geld und Handy als er am Boden liegt. Am 4. Mai schlägt ein Mann ansatzlos einer Transfrau an der Bushaltestelle Sonnenallee mit der Faust gegen den Kopf. Bevor der Täter flieht, tritt er der Frau mit dem Fuß gegen den Kehlkopf.

Täterprofil: Junge Männer mit Migrationshintergrund oder Rechtsradikale

Kein Anlass, kein Streit, allein das Aussehen provoziert genug, um zuzuschlagen – ohne zu zögern. Das nennt man Hasskriminalität. „Der hohe Grad an Gewalt und Brutalität überrascht auch uns“, sagt Sebastian Stipp, Ansprechperson der Polizei Berlin für Lesben, Schwule, Bisexuelle sowie trans- und intergeschlechtliche Menschen (LSBTI), über die jüngsten Vorfälle in Neukölln.

Allein von 2015 auf 2016 stiegt die Anzahl an Hasskriminalität wegen sexueller Ausrichtung in Berlin um zwölf Prozent, auf 291 Übergriffe – auch weil Hasskriminalität mittlerweile häufiger als solche erkannt und angezeigt wird. Die Täter sind meist junge Männer mit Migrationshintergrund oder deutsche Rechtsradikale.

„Im Täterkreis vermuten wir ein hohes Maß an Unkenntnis und Tabuisierung, in manchen Kulturkreisen wird Trans- oder Homosexualität auch als Krankheit gesehen“, sagt Stipp. Die Übergriffe fänden meist an Orten statt, an denen Platz für Provokation sei, also Orte, an denen man sich zwangsläufig begegnet. An Bahnhöfen, der U-Bahn oder Bushaltestellen.

Neben allerhand queerem Leben, das sich seit Jahren um die Sonnenallee tummelt, sind auch sonst eine Menge Leute zugezogen. Und wo es enger wird, komme es automatisch zu mehr Konflikten, meint Anja Kofbinger, die queerpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion in Berlin.

Doch die gegenwärtige Situation geht über bloße Reibereien weit hinaus. „Ich nehme wahr, dass der Hass größer wird“, sagt Kofbinger. Als vor fünf Jahren der queere Club Schwuz in der Rollbergstraße öffnete, habe es trotz Befürchtung keine Probleme gegeben. „Und jetzt kommt das an einer Ecke in Neukölln hoch, an der wir bislang gar keine Probleme damit hatten.“

„Das ist hier verdammt nochmal meine Heimat, das muss aufhören!“

Barbara Jaeschke arbeitet in der Stuttgarter Straße und bewegt sich täglich in dem Kiez. Kurz vor dem Angriff auf die transsexuelle Frau, hat sie an der Haltestelle gestanden. „Eigentlich bin ich kein ängstlicher Typ, aber nachts ist in dem Kiez eine aggressive Energie“, sagt Jaeschke, die sich selbst als queer bezeichnet und sich seit den vermehrten Übergriffen – mehr als an anderen Orten in Berlin – wachsam bewegt.

Mit ihrer Lebensgefährtin würde sie hier nicht unbedingt öffentlich Zärtlichkeiten zeigen. Dieses Gefühl teilt auch Maurus Knowles, Besitzer von „Ludwig“, Bar und Kunstgalerie in der Anzengruberstraße, auch wenn er selbst noch nicht Opfer von homophober Gewalt geworden ist: „Ich finde es grauenhaft, dass so viele Gäste und Performer, die hier herkommen, das teils nur mit derben Pöbeleien können.“ Angeschrien, verfolgt, beleidigt: „Du ekelhafte Schwuppe“, brüllte ein Autofahrer einer transsexuellen Freundin auf dem Fahrrad zu.

Bar-Besitzer Maurus Knowles will diese Stimmung nicht länger hinnehmen: „Das ist hier verdammt nochmal mein Dorf, meine Heimat, das muss aufhören“, sagt Knowles und hat kurzerhand einen Tuntenspaziergang – also ein „lustiges Spaziergengehen unter Freunden“ in kleinen Gruppen – am 26. Mai durch Neukölln organisiert.

Es ist eine von mehreren Aktionen der queeren Community, die auf die Vorfälle reagieren und die mindestens gefühlte Bedrohung nicht länger hinnehmen möchte. Kurz vorm Wochenende demonstrierte ein Bündnis „solidarischer Nachbarinnen“ unter dem Motto „Berlin gehört allen“ vom S-Bahnhof Sonnenallee zum Hermannplatz.

1500 Menschen sollen teilgenommen haben, wie Elisa Aseva vom „K-Fetisch“ in der Wildenbruchstraße sagte. „Es ging uns darum, die Sonnenallee als queeren Raum zu markieren, weil die Situation gerade zu kippen droht. Wir lassen uns nicht verjagen, wir sind hier.“ In Kürze lädt das Bezirksamt Neukölln außerdem zu einem ersten Netzwerktreffen mit Polizei, Gewerbetreibenden und Vereinen ein. Dass es so nicht weitergehen kann, ist allen Parteien bewusst, Aufklärung und Prävention aktuell die Mittel der Wahl.

"Jetzt müssen alle mithelfen!"

Anja Kofbinger möchte gemeinsam mit dem Verein Al-Huleh und dem schwulen Anti-Gewalt-Projekt Maneo, vor allem junge Araber aufklären und in die Pflicht nehmen. „Die Neuköllner Nachbarschaft war immer friedlich. Und jetzt kippt das, jetzt müssen alle mithelfen. Nicht nur der Bezirk oder die Polizei“, sagt Kofbinger, die selbst in der Nähe der Sonnenallee lebt.

Die Polizei setzt auf Aufklärung bei Betroffenen und den Beamten: „Wir sensibilisieren die Dienstkräfte dafür, Hasskriminalität zu erkennen, es kommt auf die Intention der Tat an. Das ist keine „einfache Beleidigung“ oder „einfache Körperverletzung“, das ist Hasskriminalität“, sagt Stipp. Außerdem werbe die Polizei in der Community, Straftaten auch anzuzeigen und hat damit Erfolg: „Heute werden viel mehr Übergriffe angezeigt. Dies ermöglicht uns Schwerpunkte zu erkennen. Nur so kann die Polizei angemessen reagieren.“

Beim Landeskriminalamt Berlin gibt es für Opfer homo- und transfeindlicher Verbrechen eine eigene Ansprechpartnerin. Lesen Sie hier einen Bericht dazu. Auch bei der Berliner Staatsanwaltschaft gibt es eine Abteilung, die Hasskriminalität gegen Homo- und Transsexuelle verfolgt und Ansprechstelle für Opfer ist. Lesen Sie hier ein Interview mit den zuständigen Staatsanwält*innen

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