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Eine Kirche für Lesben und Schwule in Brasilien.

© imago/epd

Gott hat keine Vorurteile: Eine Kirche für Lesben und Schwule in Brasilien

Brasiliens Präsident beleidigt Homosexuelle und erntet den Jubel evangelikaler Christen. Doch es gibt auch andere. Besuch in einer Kirche für Schwule und Lesben.

Fast scheint es, als ob man in einen Acid-Rave geraten sei: Rund 150 Menschen stoßen vor einer Bühne entzückte Schreie aus und recken ihre Arme ekstatisch in die Höhe. An den Wänden prangen große knallgelbe Smileys. „Lächle!“, steht darunter. „Jesus akzeptiert dich.“ Ach ja, hier geht es nicht um Rave, hier geht es um Religion!

Und darum, dass sich niemand verstecken muss, weil er anders ist als die Mehrheit. Willkommen in einer der ersten evangelikalen schwul-lesbischen Kirchen Brasiliens – die auch offen ist für alle anderen. Programmatisch nennt sie sich Zeitgenössische Christliche Kirche, die Igreja Cristã Contemporânea.

Marcos Gladstone tritt auf. Er trägt eine dunkle Hose, ein weißes Hemd, darüber einen Pullunder. Er ist frisch rasiert und adrett frisiert. Hinter ihm spielt noch eine Band aus vier Frauen und zwei Backgroundsängern die letzten Takte eines Gospel-Songs.

Dann ergreift der 39-Jährige das Mikrofon und ruft in den Saal: „Wenn einer dich nicht mag, wie du bist, dann hat er ein Problem mit deinem Schöpfer. Denn Gott hat dich so geschaffen, wie du bist.“

Die schwul-lesbische Kirche hat Dependancen in fünf Städten Brasiliens

Gladstone hat die Zeitgenössische Kirche 2006 mit einer Handvoll Gläubiger im dritten Stock eines Hauses in Rio de Janeiros Vergnügungsviertel Lapa gegründet. Sein Traum war es „das Evangelium als Botschaft der Liebe und Akzeptanz zu predigen“, wie er nach dem Gottesdienst erzählt.

Heute hat seine Kirche ein Dutzend Dependancen in fünf brasilianischen Städten. Eine davon ist hier in der armen Nordzone von Rio de Janeiro in einem alten Kino eingerichtet. Es ist ein verregneter Sonntagmorgen, aber die Gläubigen sind aufgekratzt. Viele schwule und lesbische Paare sind gekommen, einige Transsexuelle, aber auch Freunde, Familie, Sympathisanten. Vorne auf der Bühne verbreitet Gladstone die frohe Botschaft: „Wer zu Jesus spricht, dem antwortet er.

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Von seinem Auftreten her könnte Gladstone ein weiterer der Hunderttausenden evangelikalen Prediger sein, die es heute in Brasilien gibt und die in der Mehrheit erzkonservative Positionen vertreten. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Gladstone hat einen Ehemann. Der kommt jetzt auf die Bühne und bringt ein Mädchen mit, es ist eins der beiden Adoptivkinder des Paares. Auch Fabio Inacio ist Prediger. Er schnappt sich ein Mikrofon und stimmt den nächsten Gospelsong an.

Die LGBT-Gemeinde in Brasilien ist gefährdet

Eigentlich sollte man ja meinen, dass eine Kirche für Schwule und Lesben im Jahr 2020 nichts Besonderes mehr ist. In Brasilien ist sie das. Sexuelle Andersartigkeit ist im größten Land Lateinamerikas immer noch ein Stigma und Mitglieder der LGBT-Gemeinde leben gefährlich. 2018 wurden laut der Gruppe Gay da Bahia 320 LGBT-Menschen in Brasilien ermordet. In diesem Jahr dürfte die Zahl noch höher liegen, worauf die Daten aus dem ersten Halbjahr hindeuten. Sie zeigten einen Anstieg der Morde um 14 Prozent im Vergleich zu 2018.

Pfarrer Marcos Gladstone Canuto (li.) mit seinem Ehemann Fabio Inacio, der ebenfalls Pastor ist - hier sind sie beide nei einem Gottesdienst in der Igreja Crista Contemporanea in Rio de Janeiro.
Pfarrer Marcos Gladstone Canuto (li.) mit seinem Ehemann Fabio Inacio, der ebenfalls Pastor ist - hier sind sie beide nei einem Gottesdienst in der Igreja Crista Contemporanea in Rio de Janeiro.

© imago/epd

Das mag damit zu tun haben, dass Brasilien einen Rechtsruck erlebt hat, der mit der Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten seinen Höhepunkt erreichte. Bolsonaro ist ein autoritärer Typ, der fast täglich andere Menschen beleidigt, darunter häufig Schwule. Kurz vor Weihnachten sagte er zu einem Reporter, er habe „ein schrecklich schwules Gesicht“.

Maßgeglich für Bolsonaros Aufstieg: die Evangelikalen

Maßgeblich verantwortlich für den Aufstieg Bolsonaros sind Brasiliens evangelikale Kirchen. Die Zahl der Brasilianer, die sich als evangelikal bezeichnen, nimmt rasend schnell zu. In 15 Jahren, so das Statistikinstitut IBGE, werden die Evangelikalen die Mehrheit im einst größten katholischen Land der Welt sein.

Die Dynamik scheint kaum aufzuhalten zu sein. Allein zwischen 2010 und 2017 wurden 70 000 neue evangelikale Kirchen gegründet. Meist handelte es sich um Mikrokirchen mit zwei Dutzend Anhängern, die auch „heilige Garagen“ genannt werden, weil einfachste Räume als Gebetsstätten dienen.

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Auf der anderen Seite gibt es eine Handvoll Mega-Kirchen mit Tempeln für bis zu 25.000 Menschen. Sie betreiben Radiostationen, Verlage und TV-Sender. Ihre Gründer gehören zu den reichsten Männern Brasiliens, was auch damit zu tun haben mag, dass die Kirchen von der Steuer befreit sind.

Und: Sie verfolgen eine erzkonservative politische Agenda. So riefen ihre Pastoren zur Wahl von Jair Bolsonaro auf. Der Grund für die Nähe liegt in der gemeinsamen Ablehnung von Kommunismus, Abtreibung und Homosexualität. Letztere wird von den meisten Evangelikalen verteufelt, und viele Kirchen bieten sogar Kurse zur „Homo-Heilung“ an. Nach der Wahl Bolsonaros wurde in ihren Tempeln Gott für den Sieg des Rechtsaußen gedankt.

"Die Auslegung der Bibel durch Erzkonservative ist pervers"

„Bei diesen erzkonservativen Evangelikalen ist kein Platz für uns“, sagt Marcos Gladstone. „Ihre Auslegung der Bibel ist pervers, die Bibel verdammt die Homosexualität nicht.“ Gladstone verspürte schon als 17-Jähriger den Ruf Gottes, das Evangelium zu predigen. „Als ich 1999 auf einem Hügel betete, offenbarte mir der Heilige Geist, dass ich vor meiner Sexualität nicht fliehen dürfe“, sagt Gladstone. Als er sich dann mit Anfang 20 outete, war das ein Riesenskandal in seiner Familie, die einer traditionellen Pfingstkirche angehört.

Ein Gottesdienst in der Zeitgenössischen Christlichen Kirche. Eine eigene Kirche aufzumachen ist in Brasilien prinzipiell kein Problem - sie finanzieren sich durch die Abgabe, um die der Pastor bittet.
Ein Gottesdienst in der Zeitgenössischen Christlichen Kirche. Eine eigene Kirche aufzumachen ist in Brasilien prinzipiell kein Problem - sie finanzieren sich durch die Abgabe, um die der Pastor bittet.

© imago/epd

Gladstone zog seine Schlüsse, ging in die USA, um zu studieren und versuchte anschließend in Brasilien mehrfach, Ableger von progressiven US-Kirchen zu gründen. „Meinen ersten Gottesdienst als Prediger feierte ich mit zwei Leuten am Strand von Ipanema“, erinnert er sich.

Doch alle Versuch schlugen fehl, bis Gladstone einfach seine eigene Kirche aufmachte. Das ist in Brasilien kein Problem. Jeder kann sich hier selbst zum Prediger und sogar zum Bischof ernennen und versuchen, Anhänger um sich zu scharen. Die Kirchen finanzieren sich durch den Zehnten, um den die Pastoren die Gläubigen mehr oder weniger subtil bitten. So ist es auch bei der Zeitgenössischen Kirche. Am Ausgang können die Kirchgänger ihren Obolus entrichten, auch per Kartenzahlung.

Ein lesbisches Paar in der Zeitgenössischen Christlichen Kirche

Zwei, die sich in die Schlange einreihen, sind Agnes Estefania und Luana Chagas. Die beiden 33-Jährigen sind ein Paar und versuchen, so oft wie möglich in die Kirche zu gehen. „Wir sind alles, was Bolsonaro und seine Leute hassen: schwarz, feministisch, lesbisch“, sagt Agnes Estefania. „Aber Gott begleitet uns durch alle Schwierigkeiten.“

Estefania arbeitet als Psychologin in einer Klinik. Dort lernte sie Luana kennen, die Alkoholprobleme hatte. Sie nahm sie mit in einen Gottesdienst. „Es veränderte mein Leben“, sagt Chagas. „Ich bin seitdem trocken und so glücklich wie nie zuvor.“ Beide Frauen strahlen Ruhe und Zufriedenheit aus. „Die schönste Offenbarung, die ein homosexueller Mensch haben kann, ist die Liebe Gottes zu spüren“, sagt Luana Chaga. „Das Gefühl, dass du akzeptiert wirst: Gott hat keine Vorurteile!“

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