zum Hauptinhalt
Pronomen wurden erfunden, um die Kommunikation zu vereinfachen. Trotzdem machen sie oft Probleme.

© Imago

Gender und Grammatik: Das Pronomen ist frei vom Körper - aber es ist nicht frei vom Geschlecht

Selbst wenn Menschen ihr Pronomen frei wählen, bleibt das Geschlecht immer dessen Bezugsrahmen. Ist es möglich aus diesem Gefängnis auszubrechen? Ein Essay.

Judith Butler erinnerte uns zu Beginn des Jahres bei ihrer Rede an der TU Berlin daran, dass Pronomen ein Phantasma sind. Wir werden als Mädchen oder Junge imaginiert, ein Geschlecht wird auf uns projiziert. Und wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen: Was will dieses Gender-Phantasma von mir?

Daraus leitet sich eine parallele Frage ab: Was will das Phantasma des Pronomens von mir? Welches Pronomen bevorzuge ich? Butler lachte an dieser Stelle und gab zu, dass auch sie „entscheiden" müssen - als persönliche Wahl, als politische Aussage, als Aufgabe - welches Pronomen sie verwende. „Es ist they“, sagte Butler und stellte diese Wahl eines genderlosen Pronomens zum ersten Mal in der Öffentlichkeit vor.

Wir haben das Jahr 2020 und Butler outet sich als "they" - ein wahrhaft historischer Moment. Dabei hat Butler nicht zuletzt mit dem Buch „Gender Trouble“ die aktuelle Debatte um Pronomen selbst angestoßen.

Pronomen sind Werkzeuge der Identiätspolitik

Pronomen sind wichtig. Ob wir es wünschen oder nicht, wir werden mit Pronomen markiert. Sie sind für viele Sprachsysteme wichtig. Zudem sind sie Werkzeuge der Identitätspolitik; sie können zu Waffen gemacht werden, sie können dazu benutzt werden, Sichtbarkeit, Hörbarkeit und Raum zu schaffen. Damit einher geht gleichzeitig die Verengung, das Definieren, das Einboxen.

Pronomen sind für manche Menschen wichtiger als für andere. Aber sie können für uns alle nicht bedeutungslos sein, solange sie für einige Menschen wichtig sind. Solange einige von uns das eigene Pronomen erklären müssen. Und solange Pronomen als Beleidigung benutzt werden können.

[Wer mehr über queere Themen erfahren will: Der Tagesspiegel-Newsletter Queerspiegel erscheint monatlich, immer am dritten Donnerstag. Hier kostenlos anmelden]

Weil Pronomen in unserem Sprachsystem vorhanden sind, sind wir alle tagtäglich damit konfrontiert, welches Pronomen unserem Körper auferlegt wird. Wenn wir "Glück haben", “passt” unser Pronomen zu uns, so wie sich der Name, den uns unsere Eltern geben, gut anfühlt oder nicht.

Wenn wir "Glück" haben, können wir entscheiden, dass Pronomen für uns nicht wichtig sind, weil sie nie nicht zu passen scheinen. Aber wenn ein bestimmtes Pronomen nicht passt oder manchmal nicht passt oder nicht alles umfasst, was wir sagen oder sein möchten, dann stehen wir vor der Herausforderung, unser bevorzugtes Pronomen zu erklären (oder es nicht zu erklären).

Feministinnen und Queers haben das Pronomen befreit

Vermutlich soll sich das Pronomen ein Leben lang auf unser bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht beziehen. Vermutlich soll das Pronomen "er" bedeuten, dass der Körper, einen Penis hat und das Pronomen „sie“, dass der Körper eine Vulva hat. Natürlich sind diese binären, biologischen, "einfachen Vermutungen" keineswegs einfach, und sie sind auch nicht mehr die Realität, wenn sie es jemals waren.

Dank der Arbeit von feministischen und queeren Theoretiker*innen wie Butler und Generationen von LGBTIQ+-Aktivistinnen hat sich die Identität eines Körpers erfolgreich von seinem zugewiesenen oder veränderten Geschlecht gelöst. Das Pronomen wurde vom Geschlecht befreit. Sobald man dies akzeptiert hat, kann man einen anderen Körper nicht mehr mit der Vermutung anschauen, dass ein bevorzugtes Pronomen etwas über die Körperlichkeit einer Person aussagt.

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de]

In bestimmten Kontexten - vor allem künstlerischen und queeren Gemeinschaften - ist es deshalb seit etwa 15 bis 20 Jahren üblich geworden, sich gegenseitig nach dem bevorzugten Pronomen zu fragen.

Langsam bedienen sich immer mehr Menschen dieser Praxis, doch es gibt weiterhin eine Mehrheit, die das Pronomen verwendet, als ob es das zugeordnete Geschlecht angibt (mit einer gewissen Flexibilität, wenn jemand eine anerkannte und sichtbare Angleichung an das andere Geschlecht durchlaufen hat). Das hat zur Folge, dass unsere kollektive Vorstellung über das Pronomen zerfällt. Es gibt kein von allen geteiltes Wissen zu diesem Thema mehr.

Trotz allem stecken wir in den alten Formen fest

Einige gesellschaftliche Kreise haben sich sogar schon so weit in Richtung Pronomenfreiheit bewegt, dass der Akt des Fragens ihnen jetzt schon ein wenig altmodisch erscheint. Als ob die Praxis nicht radikal genug wäre. Diese gewaltigen Unterschiede verweisen auf den Schwellenzustand, in dem sich das Pronomen jetzt befindet.

Das Pronomen ist so frei, dass es vielleicht genauso irrelevant ist wie unsere zweiten Vornamen. Und doch stecken wir fest und waten weiter durch die müden alten Formen. Denn trotz allem bezieht sich das Pronomen noch immer direkt oder indirekt auf das Geschlecht, das, ob man es mag oder nicht, den geisterhaften Abdruck, das Phantasma, des biologischen Geschlechts beibehält. Und diese Tatsache bleibt ein Gefängnis.

Beim Pronomen „es/sie“ (Plural) schwingt Neutralität und Geschlechtslosigkeit mit. Das Pronomen „sie“ (Plural) - mein persönlicher Favorit - können die Anwesenheit mehrerer Körper in einem implizieren. Das funktioniert für mich persönlich, weil ich meine geschlechtliche Identität genau so verstehe: vielfältig und dynamisch, von Tag zu Tag wechselnd.

Ob fluid oder non-binär: Genderidentiät bleibt der Bezugsrahmen

Aber das führt bei vielen Menschen zu Verwirrung. Andere Pronomen wie „zie“ sind eine Art neutrale Kopie von sie und er, deren Form dennoch stets einen Hinweis auf das Geschlecht impliziert. Selbst wenn zum Ausdruck kommen soll das eine Person genderfluid oder non-binär oder trans oder etwas anderes ist - der Bezugsrahmen bleibt stets die Genderidentiät.

Es scheint, dass es ein Stück Allgemeinwissen über das Pronomen gibt. Das heißt, dass es bei dem Pronomen um die geschlechtliche Identität geht. Deshalb haben gerade wir Queers, und vielleicht auch viele, die sich nicht als queer bezeichnen, immer noch so viel Ärger mit ihnen.

Wenn wir einen Schritt zurücktreten, gibt es überhaupt keine ersichtlichen Grund dafür, dass ein Pronomen die geschlechtliche Identität einer Person jenseits jeglicher anderer Attribute bezeichnen sollte. Wir würden ein Pronomen nicht akzeptieren, wenn es dabei um Ethnizität, Klasse oder Nationalstaat geht.

Was wäre, wenn sich unsere Pronomen auf unsere Hautfarbe oder auf unser Verhältnis zu Weiß oder Schwarz beziehen würden? Was wäre, wenn sich unsere Pronomen auf unsere Staatsbürgerschaft und unser Verhältnis zum Nationalstaat beziehen würden?

Ich müsste dann ständig erklären, dass mein Pronomen auf "ex-amerikanisch" oder "nicht in Amerika amerikanisch lebend" oder "nationalstaatlich neutral" geändert wurde. Das Beispiel zeigt wie unpraktikabel, unlogisch und auch abwertend eine solche Aufladung des Pronomens wäre. Und doch lassen wir es zu, dass die Geschlechtsidentität in einer sprachlichen Praxis, die grundsätzlich nichts mit dem Geschlecht zu tun hat, ständig derart benutzt wird.

[Für alle, die Berlin schöner und solidarischer machen, gibt es den Tagesspiegel-Newsletter „Ehrensache“. Er erscheint immer am zweiten Mittwoch im Monat. Hier kostenlos anmelden: ehrensache.tagesspiegel.de.]

Ich frage mich: Wenn ich andere Menschen zum ersten Mal sehe, beurteile ich sie in Bezug auf männlich, weiblich, queer, trans? Ist es das, worüber ich zuerst nachdenke? Abgesehen von der offensichtlichen Schwierigkeit, zu erkennen, was genau zuerst kommt, könnte ich das Argument anführen, dass natürlich etwas oder einiges davon in meinen Augen und in meinem Geist ankommt.

Wie ich jemanden „lese“ kann geschlechtsspezifisch sein, aber nicht unbedingt. Ich mache eine Bewertung. Aber mir fallen noch viele andere Dinge auf, wenn ich eine Person zum ersten Mal sehe, viele andere Dinge, die genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger sind. Ich sehe Klasse durch die Kleidung und die Accessoires, die jemand trägt.

Ich sehe ein Gefühl der Selbstachtung, zum Teil durch die Art und Weise, wie sich ein Körper durch den Raum bewegt. Ich sehe Hautfarbe. Ich sehe, was ich als "Stil" bezeichnen könnte. Ich sehe Affekt. Ich sehe (und höre) Sprache. Ich spüre Energie. Ich könnte sagen: "die Person, die viel lacht". Ich könnte sagen, "die Person, die sehr ruhig war". " Die Person, die verärgert aussah.

Über "er" und "sie" hinausdenken

Ich wäre lieber „die Person dort drüben, die mir als …" erscheint, als er oder sie, sie oder zie. Mir wäre es lieber, wenn mein Pronomen etwas über Raum, Hörbarkeit, Sichtbarkeit, Energie aussagen würde. Die Person dort drüben, die sanft zu sein scheint.

Die Person dort drüben, die hart zu sein scheint. Die schüchtern zu sein scheint. Die nervös zu sein scheint. Die selbstbewusst zu sein scheint. Übermäßig zuversichtlich. Die scheinbar im Begriff ist zu sprechen und sprechen will, aber nicht spricht.

Aber ist es überhaupt das, was ich will? Wäre es mir nicht lieber, dass mein Pronomen nichts damit zu tun hat, wie ich gelesen werde, nichts damit, wie ich mich selbst verstehe? Wäre es nicht schön, wenn sich das Pronomen einfach von der Identität befreien könnte?

Die Frage ist, kann das Pronomen das tun? Haben wir die Möglichkeit, es selbst von diesen Bedingungen zu befreien?

Ist es möglich, neue Formen zu finden?

Meine Partnerin, die Englischlehrerin ist, erinnerte mich daran, dass Pronomen einfach deshalb erfunden worden sind, um die Kommunikation zu erleichtern, damit man eine Person oder ein Substantiv nicht immer benennen muss. Sie sind als eine Reduzierung der Gehirnbandbreite gedacht. Die offensichtliche Problematisierung von Pronomen habe diese grundlegende Rolle verdunkelt, sagt sie.

Sie ist der Meinung, dass wir ein Pronomen brauchen, das die Funktion hat, "das zu sagen, worauf ich mich vorher bezogen habe", ohne dieses Ding zu kategorisieren, und schlägt vor, dass wir ein Pronomen für (1) Subjekt-Singular, (2) Objekt-Singular und (3) Plural wählen. Für alle Situationen, die dies nicht abdeckt, sollte das Substantiv einfach umbenannt werden. Sie schlägt es vor, sie und zie für seine primären Funktionen. Da diese Pronomen als "geschlechtsneutral" bezeichnet wurden, fürchte ich, dass sie bereits durch ihr Verhältnis zum Geschlecht beeinträchtigt wurden.

Die Frage ist, ob wir noch weitere Kandidaten haben, die uns nicht ständig an das Verhältnis des Pronomens zum Geschlecht erinnern. Oder stecken wir einfach immer schon fest?
Aus dem Englischen von Jasko Fide.
Kathryn Fischer ist Klang- und Performancekünstler*in. Zusammen mit Adrienne Teicher bildet Fischer das Avantgarde-Electronik-Duo Hyenaz.

Kathryn Fischer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false