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Familie ist vielfältig.

© trios/Panthermedia/Imago

Gastbeitrag zur Verantwortungsgemeinschaft: Familienformen müssen in aller Vielfalt abgesichert werden

Familie ist, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen: Es ist höchste Zeit, dass sich das auch rechtlich widerspiegelt. Ein Gastbeitrag.

Andy Tarrant und Silvia Feindt sind Mitglieder der SPDqueer Berlin.

Familie ist überall zu finden, man muss nur richtig hinschauen. Wäre da nur nicht die juristische Definition von „Familie“ in den Gesetzesbüchern und den Amtsstuben der Republik, die nicht nur an den gelebten gesellschaftlichen Realitäten vorbeigeht, sondern viele gar nicht erst als Familie wahrnimmt. Ausgrenzung pur.

Nicht ohne Grund hat der Begriff der „chosen family“, der gewählten Familie, in queeren Kreisen eine lange Geschichte. Sexualität, Elternschaft, Liebe, Fürsorge, Zuneigung und Verantwortung finden sich nicht allein in einer Ehe zwischen zwei Menschen wieder, sondern werden ganz unterschiedlich gelebt.

Gemeint sind damit nicht allein queere Menschen. Gemeint sind vor allem diejenigen, die Sorgearbeit übernehmen und oft kaum gesehen werden. Vor allem kaum gesehen vom deutschen Familien-, Steuer-, Erb- und Aufenthaltsrecht. Da ist zum Beispiel die alleinerziehende Mutter, die in einem generationenübergreifenden Freund*innennetzwerk für ihre Kinder und sich selbst sorgt. Warum ist das keine Familie?

Es ist an der Zeit, Regeln der Kaiserzeit zu überarbeiten

Artikel 6 des Grundgesetzes stellt Ehe und Familie unter besonderen Schutz. Deshalb ist es endlich an der Zeit, das Bürgerliche Gesetzbuch der Kaiserzeit zu überarbeiten und vielfältige Familienformen als eigenständige Rechtsform anzuerkennen.

Als Co-Initiator*innen eines Antrags der Jusos Berlin-Pankow und der SPDqueer Berlin-Pankow haben wir diese rechtliche Gleichstellung in Form einer „Verantwortungsgemeinschaft“ gefordert. Eine Forderung, die nicht nur im Bundestagswahlprogramm der SPD stand, sondern jetzt auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung zu finden ist.

Politische Mehrheiten für eine progressive Familienpolitik sind da

Die politischen Mehrheiten für eine progressive Familienpolitik sind endlich da. Umso enttäuschender ist es für uns, dass sozialdemokratische und emanzipatorische Ideen wie unsere Vision der „Verantwortungsgemeinschaft“ in der medialen Berichterstattung immer wieder fehlen. Als Beispiel: in einer Folge ihres queeren WDR-Podcasts „Böttinger. Wohnung 17“, in der Bettina Böttinger mit drei lesbischen Frauen über ihr Familien- und Partner*innenleben zu dritt sprach, wurden auch politische Fragen diskutiert.

Als Frau Böttinger die Vorhaben der Parteien zur Mehrelternschaft erläuterte, behauptete sie dann, dass die SPD nur leicht am Abstammungsrecht etwas ändern wolle. Mehrelternschaft oder gar eine rechtliche Familienform mit mehr als zwei Partner*innen seien im SPD-Programm nicht zu finden. Das stimmt so nicht – auch wenn dieser großartige Podcast sonst absolut für sich spricht!

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Wie sieht also unsere Idee einer „Verantwortungsgemeinschaft“ aus? Uns war von Anfang an klar, dass eine Rechtsform, die alle Familien unter den Schutz des Staates stellt, ohne sie in ihren vielfältigen Lebensformen einzuschränken, offen, solidarisch, emanzipatorisch und mindestens gleichberechtigt zur Ehe sein müsste.

Vorbild PACS aus Frankreich

In Frankreich gibt es bereits seit 1999 den „pacte civil de solidarité” (PACS), der eine zivilrechtliche Partner*innenschaft mit Gütergemeinschaft und steuerlichen Vorteilen ermöglicht. Auch ein Antrag der FDP-Bundestagsfraktion aus dem Januar 2020 ging in diese Richtung. Trotz eines progressiven Ansatzes war die neoliberale Handschrift des Antrags unverkennbar – leicht einzugehen, leicht wieder aufzulösen, und ohne sozialen Schutz und vor allem ohne Gleichberechtigung zur Ehe.

Unsere Vision ist entschieden eine andere. Verantwortungsgemeinschaft bedeutet Verantwortung füreinander zu übernehmen, inklusive aller Rechten und Pflichten. Individuelle Selbstbestimmung darf nicht Verantwortungslosigkeit bedeuten. Solidarität, Bindung und Schutz der Schwächeren müssen in dem Modell eingebaut sein. Wir wollen, dass Personen, die gemeinsam eine Verantwortungsgemeinschaft eingehen, auch gemeinsam Verantwortung übernehmen, zum Beispiel bei Unterhaltsverpflichtungen, die etwa wie bei der Ehescheidung zum Teil auch nach Auflösung der rechtlichen Beziehung fortbestehen.

Wenn Kinder im Rahmen einer Verantwortungsgemeinschaft aufwachsen, steht das Wohl des Kindes für uns an erster Stelle, schreiben unsere Autor*innen.
Wenn Kinder im Rahmen einer Verantwortungsgemeinschaft aufwachsen, steht das Wohl des Kindes für uns an erster Stelle, schreiben unsere Autor*innen.

© Imago/Frank Sorge

Wenn Kinder im Rahmen einer Verantwortungsgemeinschaft aufwachsen, steht das Wohl des Kindes für uns an erster Stelle. Alle Regelungen, die Kinder betreffen, sind bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres von allen Beteiligten rechtsbindend einzuhalten. So soll die rechtliche Mehrelternschaft eingeführt werden, innerhalb und außerhalb der Verantwortungsgemeinschaft.

Gleichzeitig gilt es auch mit ihr patriarchale Verantwortungs- und Rollenzuschreibungen aufzubrechen. Dabei sind Kinder keine Voraussetzung für die Verantwortungsgemeinschaft, denn Familie kann es auch ohne Kinder geben. Unser Modell trägt dazu bei, Fürsorgebeziehungen in ihrer tatsächlichen Vielfalt und Komplexität wahrzunehmen und nicht nur Frauen in die Verantwortung für Sorgearbeit zu nehmen.

Ehe und Verantwortungsgemeinschaft - unterschiedliche Kategorien

Deshalb wollen wir, dass die Verantwortungsgemeinschaft als Rechtsform nicht auf eine Maximalzahl von zwei Personen beschränkt wird. Es soll möglich sein, an einer Ehe und einer Verantwortungsgemeinschaft gleichzeitig beteiligt zu sein: Letztendlich sind beides ganz unterschiedliche Kategorien.

Es muss die Aufgabe des Staates sein, alle Familien gleichberechtigt anzuerkennen und ihnen besonderen Schutz zu bieten, ihnen aber nicht vorzuschreiben, wie oder in welcher Konstellation sie zusammenzuleben haben. Mit der Verantwortungsgemeinschaft kann es gelingen, die bürgerliche Kleinfamilie als alleinig anerkannte Familienform im Bürgerlichen Gesetzbuch durch neue und alte Familienformen wie die „chosen familiy“ zu ergänzen, vielleicht sogar zu revolutionieren.

Das wäre ein großes Stück Befreiung für alle, sowohl für die Queeren und Ausgegrenzten, die ihre vielfältigen Familien endlich absichern könnten, als auch für die Dominanzgesellschaft, deren familiäre Horizonte durch neue gesetzliche Möglichkeiten erweitert werden könnten.

Andy Tarrant, Silvia Feindt

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