zum Hauptinhalt
Holocaust-Gedenken am Denkmal für die in der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen in Berlin-Tiergarten.

© Kai-Uwe Heinrich

Fehlendes Gedenken an queere NS-Opfer: Es ist an der Zeit, historische Forschung zu demaskieren

NS-Kriterien der Verfolgung gelten beim Gedenken bis heute - was etwa das Erinnern an queere Opfer behindert. Es ist Zeit zum Umdenken. Ein Plädoyer.

Lutz van Dijk ist deutsch-niederländischer Historiker und Autor und gehört zu den Initiator*innen einer Petition an Wolfgang Schäuble, das Gedenken an queere NS-Opfer im Bundestag zu ermöglichen.

Als die 21jährige Norwegerin Gunvor Hofmo (1921-1995) sich im Hafen von Oslo von ihrer gerade verhafteten, jüdischen Geliebten Ruth Maier (1920-1942) verabschieden wollte, versuchte ein deutscher Soldat sie fortzujagen.

Gunvor blieb standhaft und schrie ihn verzweifelt an: „Ist das deine oder meine Freundin?“ Fünf Tage später war Ruth Maier tot. Am 1. Dezember 1942 wurde sie, unmittelbar nach Ankunft in Auschwitz, gemeinsam mit 355 anderen Menschen vergast.

Mehr Belege zu dieser Geschichte verdanken wir Raimund Wolfert, der sie für unser Buch „Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten“ (Berlin 2020, hrsg. von Joanna Ostrowska, Joanna Talewicz-Kwiatkowska und Lutz van Dijk) schildert.

Das Leid lesbischer Liebe interessierte kaum

Die Geschichte steht wie ein Symbol für einen nötigen Paradigmenwechsel in der historischen Forschung: Bislang hatte niemanden das Leid dieser lesbischen Liebe interessiert. Ruth war eines der Millionen jüdischer Opfer. Gunvor tauchte gar nicht auf. Die Nazi-Definition, wer verfolgt wurde und warum, bestimmte zu lange auch die weitgehend hetero-normative Forschung.

Nicht die Achtung der persönlichen Identität war bedeutsam, sondern es galten NS-Kriterien der Verfolgung und Verurteilung bis hin zur „Vernichtung“. Demnach war es konsequent, eine Verfolgungsgeschichte lesbischer Frauen, von trans Menschen und anderen sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten nicht nur als „irrelevant“ anzusehen, sondern auch eine entsprechende Erinnerungskultur als „inkorrekt“ zu brandmarken.

[Mehr über queere Themen im Tagesspiegel-Newsletter Queerspiegel, der monatlich, immer am dritten Donnerstag erscheint. Hier kostenlos anmelden]

Als Fürsprecher einer solchen Haltung, die dafür steht, dass eine „Überidentifikation mit Opfern“, ja selbst ihre „Stilisierung zu Held*innen und Märtyrer*innen“ mehr dem Bedürfnis der Forschenden entspräche als der Realität, trat wiederholt Alexander Zinn auf. Fraglos hat er als Soziologe und Historiker wichtige Studien zum Rosa-Winkel-Häftling Rudolf Braszda (1913-2011) und zum Alltag Homosexueller im NS-„Mustergau“ Thüringen vorgelegt.

Dokumentarisch auf dünnem Eis

Wenn er jedoch behauptet, dass die Mehrzahl der Rosa-Winkel-Häftlinge damals nicht wegen einvernehmlicher Sexualität unter Erwachsenen, sondern wegen „Kindesmissbrauch“, „Jugendverführung“ und “Prostitution“ verurteilt wurden, was er anhand einiger Regionalstudien zu belegen meint, dann bewegt er sich dokumentarisch selbst auf dünnem Eis und liefert Vorgaben für jene, die von queerem Gedenken prinzipiell nichts wissen wollen.

Alexander Zinn schrieb kürzlich in einem Beitrag für die Berliner Zeitung (vom 27.1.2021), dass hier – „teils gegen die Faktenlage“ – zuerst ein Bedürfnis nach Identitätsstiftung verfolgt werde und fährt fort: „Die unglückselige Neigung lesbisch-schwuler Forschung und Erinnerungskultur zur selektiven Wahrnehmung ist... als Reaktion auf die lange währende Stigmatisierung und Ausgrenzung Homosexueller auch verständlich. Inzwischen aber ist es an der Zeit diese ‚Kinderkrankheiten‘ hinter sich zu lassen.“

In Bezug auf die Kontroverse um ein Gedenken im Frauenlager des ehemaligen KZ Ravensbrück führt er aus: „Besonders irrlichternd erscheint auch die Initiative für ein Lesben-Denkmal in der KZ Gedenkstätte Ravensbrück, das an eine Verfolgung erinnern soll, die sich historisch nicht belegen lässt...“

Um eine Gedenkkugel für lesbische NS-Opfer in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück wird seit langem diskutiert.
Um eine Gedenkkugel für lesbische NS-Opfer in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück wird seit langem diskutiert.

© Initiative

Mit „Belegen“ kann er nur meinen, dass lesbische Frauen zuerst wegen einer strafrechtlichen Verurteilung aufgrund lesbischen Verhaltens in Ravensbrück hätten sein müssen. Damit aber bestätigt er, dass nur, was Nazis definierten, auch für das  heutige Verstehen des KZ-Alltags gültig ist.

Fragen, warum bestimmte Geschichten verborgen blieben

Nicht umsonst gab Claudia Schoppmann ihrer bahnbrechenden Arbeit über lesbische Liebe im „Dritten Reich“ bereits 1993 den Titel „Zeit der Maskierung“. Dieses Verstecken und schließlich Verstummen beschrieb vor kurzem auch Anna Hájková bei der lesbischen Jüdin Margot Heumann (*1928), die mehrere KZ’s, auch Auschwitz, überlebte und heute in den USA, mit 92 Jahren ihr gegenüber erstmals über ihre damaligen lesbischen Gefühle sprach.

Es ist an der Zeit, die historische Forschung selbst zu „demaskieren“: 

Der polnische, heterosexuelle, jüdische Auschwitz-Überlebende Marian Turski (*1926) schreibt im Geleitwort zu unserem Buch „Erinnern in Auschwitz...“:

„Ich selbst habe die Gefangenen mit dem rosa Winkel von meiner... Gefangenschaft in Auschwitz-Birkenau nur in bruchstückhafter Erinnerung. Mit Scham muss ich zugeben, dass es eine ... widerwillige, sogar verhöhnende Erinnerung ist.... Das waren wir, vorgeblich Freidenkende, Vernünftige, Aufgeklärte, die unsere Denksysteme gedankenlos von den... Stereotypen deformieren ließen, die von den Nationalsozialisten verstärkt wurden.“

Alexander Zinn hat mit vielen anderen unsere Petition von 2018 an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble unterschrieben, um am 27. Januar in der Gedenkstunde im Bundestag zur Befreiung von Auschwitz endlich auch einmal an die Opfergruppe der sexuellen Minderheiten zu erinnern. Es möge einmal ein wahrhaftiges, vielfältiges und nicht ausgrenzendes Gedenken werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false