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Es soll rund 80 000 Intersexuelle in Deutschland geben.

© dpa

Bundesverfassungsgericht: Das Urteil zum "Dritten Geschlecht" ist eine Revolution

Von wegen männlich oder weiblich: Das Verfassungsgericht erkennt endlich einen weiteren Personenstand. Jetzt muss auch die Politik Mut zeigen. Ein Kommentar.

Männlich oder weiblich – für die Mehrheitsgesellschaft ist das meistens nicht mal eine Frage wert. Ständig ordnen sich Männer und Frauen wie selbstverständlich in ihr Geschlecht ein, etwa, wenn sie die Anreden „Herr“ oder „Frau“ in Formularen ankreuzen. Diejenigen, die sich weder als Mann oder als Frau identifizieren können oder wollen, werden dagegen noch immer allzuoft wie Freaks behandelt.

Es ist daher ein historischer Beschluss, den die Verfassungsrichter in Karlsruhe jetzt veröffentlicht haben. Der Gesetzgeber muss neben männlich und weiblich einen weiteren Personenstand zulassen, etwa „inter“ oder „divers“. Das Grundgesetz erzwinge eben nicht das binäre Geschlechterbild, erklären die Richter fast wörtlich. Mann, Frau und etwas Drittes: Diese Entscheidung ist nicht nur eine juristische, sondern auch eine gesellschaftspolitische Revolution. Umso mehr in Zeiten, in denen Geschlechterfragen immer erbitterter umkämpft sind, Stichwort Genderwahn, und Minderheitenrechte mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus weltweit unter Druck stehen.

Man denke an die Läuferin Caster Semenya

Geklagt hatte eine intersexuelle Person. Das sind Menschen, bei denen sich Merkmale wie Hormone, Keimdrüsen oder Chromosomen nicht eindeutig der Kategorie „männlich“ oder „weiblich“ zuordnen lassen. Für Intersexuelle ist es bittere Lebenswirklichkeit, dass die Gesellschaft diese Uneindeutigkeit oft eben nicht aushält. Man denke an die Läuferin Caster Semenya, die in beispielloser Art und Weise gedemütigt wurde, als Sportverbände und die Öffentlichkeit ihr vermeintlich „richtiges“ Geschlecht herausfinden wollten.

Bis heute ist es leider auch in Deutschland gängige Praxis, intersexuelle Kinder kosmetisch an den Genitalien zu operieren, um ihr Geschlecht quasi passend zu machen – selbst dann, wenn es medizinisch nicht notwendig ist. Das hat gravierende psychische und körperliche Folgen für die Betroffenen. Sie empfinden die Eingriffe oft noch Jahrzehnte später als Verstümmelung und verlieren das Vertrauen in eine Gesellschaft, die das erzwingt.

Zwar handeln Ärzte und Eltern oft in bester Absicht, weil sie Kindern Diskriminierungen ersparen wollen. Besser wäre es aber (auch wenn das kurzfristig kaum möglich zu sein scheint), Intersexualität gar nicht erst zu pathologisieren. Der Staat hat bisher nicht viel unternommen, um das zu unterstützen. Allerdings ist es seit 2013 für Intersexuelle möglich, das Geschlecht im Geburtsregister gar nicht anzugeben. Mit dem Urteil wird nun eine weitere Option verlangt, die es Intersexuellen auch erlauben würde, das eigene Geschlecht sag- und sichtbar zu machen.

Es geht auch um subjektiv empfundene Geschlechtsidentität

Nun lassen die Verfassungsrichter offen, ob sie sich nur auf anatomische Uneindeutigkeiten beziehen. Es finden sich Hinweise, dass es ihnen um mehr geht, nämlich auch um die subjektiv empfundene Geschlechtsidentität. Das gibt Hoffnung für alle, die zwar ein eindeutiges biologisches Geschlecht haben mögen, sich diesem aber nicht zugehörig fühlen. Dass für die Karlsruher Richter im Zweifelsfall die gefühlte Identität eine entscheidende Rolle spielt, haben sie bereits vor Jahren klargemacht, als sie eine Reform des Transsexuellengesetzes anmahnten. Eine rechtliche Angleichung des Geschlechtes – von Mann zu Frau oder andersherum – setze eben nicht zwangsläufig eine Operation voraus, hieß es 2011.

Eine adäquate Reform des Transsexuellengesetzes ist die Politik dennoch bis heute schuldig geblieben. Höchste Zeit, dass sich auch dort etwas ändert. Der Gesetzgeber sollte das neue Urteil als Chance begreifen, in Sachen Geschlecht und Personenstand einen großen Wurf zu wagen. Auch hier geben die Verfassungsrichter einen Wink: Man könnte ebensogut komplett auf den Geschlechtseintrag im Personenstand verzichten, sagen sie. Eine demokratische und offene Gesellschaft sollte das endlich annehmen. Es würde das Leben für viele erleichtern – und für niemanden verschlechtern.

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