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Die Geschichte beginnt in der istrischen Hafenstadt Rovinj.

© Imago

Buch von Nadine Lange: Auszug aus dem Roman „Ein Eis mit Jo“

Queerspiegel-Redakteurin Nadine Lange hat einen Roman geschrieben, der im Sommer an der Adria spielt. Dort lernt die Berliner Tätowiererin Jo die Hamburger Grafikdesignerin und Mutter Anja kennen. Ein Auszug.

Tim und Paulina rannten sofort raus, nachdem sie ihre Eiswaffeln bekommen hatten. Die Treppe des gegenüberliegenden Italienischen Kulturvereins, der in einer schönen alten Villa residierte, wurde zu ihrem Spielplatz, und bald war er mit einem Fleckenmuster aus geschmolzenem Eis überzogen. Derweil hockten sich Anja und Jovana auf die schmale Bank vor dem Laden.

Nur wenige Zentimeter lagen zwischen ihnen, aber auch eine plötzliche Stille. Jovana wollte etwas über die Kinder sagen, hatte jedoch das Gefühl, den Moment mit Anja besser nutzen zu müssen. Sie entschied sich für einen Small-Talk-Einstieg: „Wo wohnt ihr eigentlich?“

„Hamburg. Ich bin da auch aufgewachsen. Und du?“ „Wo ich aufgewachsen bin?“ „Ja.“

War das jetzt nur eine ganz normale Gegenfrage oder schon die unvermeidliche Wo-kommst-du-eigentlich-her-Inquisition? Diese übliche Annahme, dass jemand mit ihrer Haarfarbe und ihrem Namen unmöglich deutsch sein könne. War sie ja zum Glück auch nicht. Aber häufig lagen in solchen Fragen rassistische Untertöne, da war Jovana sehr hellhörig.

„Ich finde Kinder zu kriegen viel mutiger, als nach Berlin zu ziehen.“

Zu oft hatte sie mitbekommen, dass ihre in Deutschland geborenen Freundinnen und Freunde stets als Türken, Griechen oder Jugos  wahrgenommenen wurden. Ihnen wurde ohne Umschweife abgesprochen, dass sie „wirklich“ zu dem Land gehörten, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatten. Es widerte Jovana an. Auf sie selbst hatten zwar anfangs alle herabgeschaut– sowohl die rich kids als auch die Gastarbeiter-Kinder –, doch

Letzteren hatte sie sich trotzdem immer näher gefühlt. Und war irgendwann ja auch von ihnen akzeptiert worden. Jovana rang sich zu der Annahme durch, dass Anja einfach nur gefragt hatte, und sagte: „Ich bin zum Teil in Kroatien und zum Teil in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen. Inzwischen wohne ich in Berlin.“

„Oh, cool, Berlin. Ich wollte da eigentlich studieren, hab mich dann aber doch nicht getraut.“ „Ach komm, Hamburg ist doch auch kein Dorf.“ „Ja, aber irgendwie erschien mir Berlin trotzdem eine Nummer zu groß.“ „Ich finde Kinder zu kriegen viel mutiger, als nach Berlin zu ziehen.“

Anja drehte ihren Kopf zu Jovana und schaute sie direkt an. So hatte sie das noch nie gesehen. „In meiner Familie wäre es wohl eher mutig gewesen, keine Kinder zu bekommen“, sagte sie. „Meine ältere Schwester ist nach mir Mutter geworden und musste sich zuvor immer wieder anhören, dass Nachwuchs ja langsam mal ganz schön wäre. Dabei ist sie Junior-Professorin! Verheiratet mit einem anderen Professor. Doch das galt irgendwie alles nicht so richtig, bis sie endlich auch ein Kind vorweisen konnte.“

„Heftig. Aber ich verstehe, was du meinst. Meine Schwester hat schon früh Zwillinge bekommen, deshalb ist es eigentlich entspannt bei uns.“ „Und du, willst du selber keine?“

Jovana schwieg für eine Weile. Sie wollte Anja nicht mit der Aussage verschrecken, dass sie sich noch nie Kinder gewünscht hatte, es sich einfach nicht vorstellen konnte. Das schien ihr zu hart zu klingen und kaum relativierbar durch ihren fröhlichen Umgang mit Tim und Paulina. „Das ist nicht so einfach“, sagte sie deshalb. „Ich bin queer, eine Lesbe sozusagen.“

Dabei drehte sie ihren linken Unterarm und deutete auf ein kleines Piktogramm inmitten von einem urwaldartigen Pflanzengeranke. Es zeigte zwei lächelnde Figuren mit langen Haaren und Röcken, die sich an den Händen hielten. Als wären zwei Frauen miteinander durchgebrannt, die sonst immer angezeigt hatten, wo sich die Damentoiletten befinden. Anja lachte, als sie das Bildchen sah, und berührte die linke Figur kurz mit dem Zeigefinger. Schnell zog sie ihn zurück und sagte, ohne aufzuschauen: „Aber es gibt doch inzwischen schon viele schwule und lesbische Eltern. Ich kenne sogar welche aus der Kindergartenzeit von Tim. Da lässt sich doch was machen.“

Nadine Lange: Ein Eis mit Jo. Roman. Querverlag, Berlin 2022. 248 S., 16 €.
Nadine Lange: Ein Eis mit Jo. Roman. Querverlag, Berlin 2022. 248 S., 16 €.

© Querverlag

Jovana hatte eindeutig zu kurz gedacht, aber das Bedürfnis, sich Anja gegenüber zu outen, war mit einem Mal übermächtig geworden. Wahrscheinlich lag das an der Kombination von Zucker und Nähe. Sie war froh über Anjas lockere Reaktion, vor allem über die Sekunden, als ihr Finger das Tattoo berührt hatte. Allerdings war sie nun leicht beschämt, weil sie Anja auf den falschen Pfad gelockt hatte. „Ja, schon klar, Queers sind nicht zur Kinderlosigkeit verdammt, aber ich glaube, für mich ist es eher nichts. Zumal ich auch solo bin.“ Puh, gerade noch mal die Kurve bekommen, dachte Jovana.

Auch wenn an dieser Stelle natürlich ein kleiner Vortrag über die Hürden für schwule Paare und die bürokratischen Ungerechtigkeiten in Sachen Stiefkindadoption bei lesbischen Paaren angestanden hätte. Das wollte sie irgendwann nachholen. Jetzt aber hatte sie die Gelegenheit, wie nebenbei Anjas Beziehungsstatus in Erfahrung zu bringen. „Und du?
Auch Single?“, fragte sie und biss in den Rand der Waffel.

„Ja, ich auch. Bald geschieden“, sagte Anja. Sie lachte kurz auf und schob ein „endlich“ hinterher, was Jovana ermutigte. Sie sah, dass Tim und Paulina in ein Hüpfspiel vertieft waren und ihnen noch ein paar Minuten Zweisamkeit schenken würden. Also sagte sie: „Gute Gelegenheit.“ „Wofür?“ „Mal was anderes auszuprobieren.“ „Zum Beispiel?“ „Vielleicht eine Frau.“ Jovana grinste aus dem Augenwinkel herüber, besorgt, dass das jetzt doch etwas zu direkt gewesen sein könnte, aber sie hatte sich wieder verschätzt. „Du glaubst also, dass ich noch nie was mit einer Frau hatte?“, sagte Anja und leckte langsam über den kleinen Vanilleeishügel, der sich über der Waffel wölbte.

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Das Blut schoss in Jovanas Ohren. „Na ja, so eine Partyknutscherei oder vielleicht auch eine Nacht mit einer Frau hattest du bestimmt schon“, sagte sie, fast sicher, dass Anja sie nur aufziehen wollte.

„Aha, so was denkst du also von mir. Eine neugierige Hetera, die betrunken ein bisschen rummacht mit den Lesben.“ Die Schamesröte hatte sich auf Jovanas ganzes Gesicht ausgebreitet, und sie wünschte sich auf den Grund des Limski-Kanals. Stammelnd brachte sie hervor: „Sorry, das sollte nicht abwertend klingen, ich hab einfach nur gedacht, dass du wahrscheinlich heterosexuell bist, aber auch off en für andere Erfahrungen. Tut mir leid, wenn ich deine Gefühle verletzt habe.“

Anja lachte laut auf. Ihre Kinder drehten kurz die Köpfe in ihre Richtung und vertieft en sich dann wieder in ihr Spiel. „Hey, nein, du hast mich nicht verletzt. Ich verstehe schon, dass man mich so einschätzen kann. Es ist naheliegend, aber auch ein bisschen vorschnell.“ Jovana tauchte wieder aus ihrer Versenkung auf; erleichtert schnappte sie nach Luft . „Ja, das stimmt, es ist vorschnell. Entschuldige.“

„Schon gut. Ich kann mir halt kein Zeichen auf meinen Arm malen, aber wenn, wäre es auf keinen Fall eins mit einem Mann und einer Frau.“

Nadine Lange ist Kultur-Redakteurin beim Tagesspiegel und gehört zum Queerspiegel-Team.
Nadine Lange ist Kultur-Redakteurin beim Tagesspiegel und gehört zum Queerspiegel-Team.

© Tine Lippert

„Ah, dann bist du bi oder pansexuell, wie man heute eher sagt.“
„Vielleicht, ich weiß nicht. Jedenfalls hatte ich mal eine kurze Beziehung zu einer Frau, einer Kommilitonin.“ „Oh, okay. Und hat es dir gefallen?“ Oje, es war der Tag der idiotischen Sätze, Jovana war überfordert von dieser tollen Frau, die sie in einem fort überraschte und die jetzt schon wieder laut aufl achte. Das war immerhin besser, als dass sie ihr eine knallte. Trotzdem schoss das Rot wieder auf Jovanas Wangen. „Na, klar hat es mir gefallen“, sagte Anja. „Sonst hätte ich es ja nicht gemacht. Aber leider hat sie mich verlassen – für eine andere.“

„Uh, verstehe. Kenne ich.“ „Das ist ewig her“, sagte Anja und riss Jovana aus ihren Erinnerungen. „Ich habe die Frau einmal zufällig wiedergetroffen in einem Supermarkt, vor ein, zwei Jahren, war seltsam. Aber wir haben uns begrüßt.“ Paulina und Tim kamen von der Treppe herübergerannt.

Ihre Hände klebten, Tim hatte Schokoladeneis im Mundwinkel. „Hey, hey, komm mal her“, sagte Anja, zog ihn zu sich heran, um ihm mit einer Papierserviette über den Mund zu wischen.

[Buchpremiere: 28. April, 19.30 Uhr, Kollo Kreuzberg, Monumentenstraße 20, Eintritt frei]

„Bähhhh!“, rief der Junge. Paulina stand ruhig daneben und sagte dann: „Können wir schwimmen gehen?“ Anja schaute sie verwundert an, es war viel zu spät dafür, und das wusste ihre Tochter auch.

„Nein“, sagte Anja, „das geht jetzt nicht mehr, aber wir können zum Hafen rübergehen und uns noch ein bisschen die Schiffe anschauen.“ „Wollt ihr unseren zweiten Ausflugsdampfer sehen?“, fragte Jovana. Die Galeb 2 war gerade von der Panoramafahrt zurück und, bis sie dort wären, sicher auch schon fertig geputzt. Paulina blickte sie mit einer skeptischen Miene an, sagte dann aber doch „Ja, okay“ und drehte den Kopf zu Anja, die von der Entwicklung der Abendgestaltung freudig überrascht

schien. Lächelnd stimmte sie zu, warf die Serviette in einen Mülleimer und nahm Tim an die Hand.

Paulina sagte: „Also los“, und griff nach Jovanas Hand. Es war das erste Mal, dass sie den Kontakt zu ihr suchte, und Jos Herz stolperte kurz, als sie die warme, immer noch leicht klebige Kinderhand in der ihren spürte. Eigentlich hätte sie jetzt gern eine Zigarette geraucht, aber das war besser, weil nicht so selbstverständlich wie bei ihren beiden Nichten, die ohnehin ständig an ihr hingen, wenn sie sich mal im Schwabenland blicken ließ. Als Jovana unterwegs in die strahlenden Augen von Anja blickte, dachte sie kurz, dass sie jetzt wie eine Regenbogenfamilie aussahen, wobei das in Rovinj natürlich niemand erkannt hätte.
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