zum Hauptinhalt
Ich und mein Rucksack. Der Pilgerweg nach Bad Wilsnack war einst so bekannt wie der Jakobsweg nach Santiago de Compostela (im Bild).

© imago/blickwinkel

Pilgerwanderung: Nimm dir Essen mit

Auf dem Pilgerweg nach Bad Wilsnack besänftigt Reizarmut die Großstadtseele. Nur ein Brandenburger will wissen: „Und warum macht man so wat?“.

Ich weiß nicht mehr, wo es war – kurz hinter Fehrbellin oder auf dem Weg nach Kyritz? Die Tage auf Wanderschaft verschwimmen zu einem einzigen, und ich weiß abends nicht mehr, wo ich morgens losgelaufen bin. Jedenfalls schleppte ich mich und meinen Rucksack gerade über eine der endlosen Brandenburger Alleen, die ich als Kind so oft von der Rückbank des Autos aus an mir vorbeiziehen ließ. Damals sah ich nicht mehr als Tristesse in dieser Landschaft, die schwer ohne Zynismus zu beschreiben ist. Eine Landschaft, die so unspektakulär, einsam und mir doch so vertraut ist, als wäre auch ein Teil von mir aus ihr gemacht.

Dort nun hatte mich ein Radfahrer überholt und war bereits ein verschwindender Punkt am Horizont, als er plötzlich umdrehte, um schließlich neben mir herzufahren. Aus den Augenwinkeln versuchte ich, ihn unauffällig zu beobachten, während er mich unverblümt anstarrte. Ging ich schneller, setzte er nach. Ging ich langsamer, ließ er sich rollen. Als ich mich schon darauf einstellte, vor einem Triebtäter davonzurennen, rief er mir eine Frage zu: „Und warum macht man so wat?“

Der Pilgerweg von Berlin nach Wilsnack ist eine puristischere Reise

Sechs Jahre zuvor war ich zu meiner ersten Pilgerwanderung auf den camino françes aufgebrochen und seither hat jeder Weg zu einem neuen Weg geführt. Von dem Pilgerweg in meiner Heimat hatte ich zufällig erfahren. Das heute unbekannte Bad Wilsnack gehörte neben Jerusalem, Rom, Santiago de Compostela und Aachen zu den am höchsten frequentierten Wallfahrtsorten des Mittelalters. Der Mythos des Wilsnacker Wunderbluts entstand im 14. Jahrhundert durch einen Brand, der die Dorfkirche vollkommen zerstörte. Nur drei Hostien, seltsam mit Blut befleckt, sollen auf unerklärliche Weise die Flammen überstanden haben und wurden aufgrund ihrer offenkundigen Wunderkraft verehrt – bis sie zwei Jahrhunderte später dem Feuer der Säkularisierung und Aufklärung zum Opfer fielen. Seitdem steht die Monstranz leer.

Heute erinnern nur noch die absurd üppigen Feldsteinkirchen der stillen märkischen Dörfer an den Glanz vergessener Pilgerjahre. Die Wanderschaft auf dem seit 2005 neuinstallierten Pilgerweg von Berlin nach Wilsnack ist eine puristischere Reise. Ohne Reliquien, Prunk, Prestige oder Spektakel. Nur ein Pfad zu verlorenen Idealen wie Langsamkeit, Abgeschiedenheit und Verzicht.

Im Grunde ist es mir egal, ob ich über die Pyrenäen oder durchs Havelländische Luch laufe, um mich von Großstadt, Leistungsdruck und Selbstzweifeln zu erholen. Ich suche die Reizarmut, die meine hektische Seele besänftigt und liebe das Wandern durch Gegenden, die sich mir nicht aufgetakelt aufdrängen. Jede Reise fängt in der Fantasie an und endet in einer neu erfundenen Version meiner selbst. Tourismusindustrie und konventionelle Reiseführer beginnen mit Sehenswürdigkeiten und enden in schönen Aussichten statt in Einsichten.

Und warum macht man sowat?

Was also antwortet man auf eine Frage wie: „Und warum macht man sowat?“

„Zum Entspannen!“, war die knappste und ehrlichste Antwort, die mir einfiel.

„Na, ick weeß ja nich. Und wo jeht's hin?“, fragte der Eingeborene skeptisch.

„Nach Bad Wilsnack.“

„Wat jibt’s denn da“

„Eine große Pilgerkirche.“

„Aha, und denn jeht’s wieder nach Hause?“

„Ich gehe noch ein Stück weiter bis Tangermünde.“

„Tangermünde? Sacht mir nüscht? Und da is denn Ende Jelände?“

„Naja, theoretisch führt der Weg von dort weiter bis Santiago de Compostela.“

„Wo iss’n dit?“

„In Spanien.“

„Ach du Scheiße!“

Abrupt und ohne ein Wort des Abschieds trat er ein paar Mal kräftig in die Pedale und war auf und davon.

Rainald Grebe warnte vor Wölfen und Nazis im Havelland

In der Wunderblutkapelle der Nikolaikirche in Bad Wilsnack wurden drei Bluthostien aufgestellt.
In der Wunderblutkapelle der Nikolaikirche in Bad Wilsnack wurden drei Bluthostien aufgestellt.

© imago/Rolf Zöllner

Pilgern durch das reizarme Havelland ist ein weniger einleuchtendes Urlaubskonzept als das Sonnen am Strand von Hawaii oder das Spazieren auf dem Krater eines Vulkans. Schon Fontane empfahl denen, die „gröbere Augen“ haben, „die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein“, nicht ins Havelland zu reisen.

Laut dem Kabarettisten Rainald Grebe sollte man unbedingt was zu essen mitnehmen und sich ansonsten vor Wölfen und Nazis in Acht nehmen. Statt eines Fremdenführers bräuchte man einen Mentor, um das eigene Sehvermögen zu verändern und die vom Aussterben bedrohte Kunst zu erlernen, das Spektakuläre in weniger selbsterklärenden Landschaften zu finden.

Bevor die letzten weißen Flecken der Landkarten ausgemalt waren, bevor jeder Ort der Welt binnen 24 Stunden erreichbar war, bevor jede Fremdheit von den Massenmedien gefiltert wurde, gehörte zum Reisen mehr, als das günstigste Hotel zu finden, den besten Flug zu buchen und sich per Tripadvisor die authentischste Kneipe empfehlen zu lassen. Die Kunst des Unterwegssein ist ein erschließendes Reisen, bei dem man bewusst ein Ritual vollzieht. Man trennt sich von dem Vertrauten und Sicheren, um sich im Neuen, Unbekannten zu verlieren und schließlich sich selbst zu erneuern. Doch um das Unbekannte in einer Welt zu entdecken, in der jeder Zentimeter bereits vermessen ist, reicht es nicht, nur eine Distanz zwischen uns und unsere Heimat zu bringen. Uns bleibt einzig die eigene Unerreichbarkeit und die Unreproduzierbarkeit der Fantasie, die nicht auf Karten zu finden ist.

Heutige Reiseführer lassen keinen Platz für Geheimnisse

Im Vergleich zur vorherigen industriellen Revolution, als Romantiker wie Casper David Friedrich melancholisch auf die Kalkfelsen Rügens blickten, Thoreau sich an den Walden-See zurückzog, und die Lyriker des 19. Jahrhunderts den Mond anheulten, sind die Rückzugsorte im 21. Jahrhundert noch kleiner geworden. Je mehr die geografische Vermessung der Welt voranschreitet, desto mehr sind wir umzingelt von Straßen, Kabeln und Plastik. Immer weitere Wege müssen wir zurücklegen, um an immer ferneren Reisezielen festzustellen, dass schon jemand vor uns hier gewesen ist. Der menschenleere Strand, den wir heute im Katalog sehen, wird morgen ein Trümmerfeld des Tourismus sein.

Heutige Reiseführer beschränken sich jedoch auf Superlative und lassen keinen Platz für Geheimnisse. Landschaften und Ziele werden in einen Schönheitswettbewerb gedrängt, in dem künstliche Idealvorstellungen miteinander konkurrieren und Statussymbole produzieren. Was hält das Reisen noch für uns bereit, was wir nicht bereits auf Google gesehen hätten? Und wer hat je beschlossen, dass die Toskana schöner ist als das Oderbruch, Hawaii sehenswerter als das Havelländische Luch?

Unter dem märkischen Herbsthimmel, der schwerfällig alle Farben bis auf ein dumpfes Grau-Grün verschlang, wanderte ich, umgeben von leuchtenden Birnen, die schwer von den zahllosen Obstbäumen herunterhingen, die in den Alleen in preußischer Art Spalier stehen. Ich hatte Mitleid mit den knöchernen Ästen, die sich unter der Last ihrer Früchte bogen, und ich wünschte, ich hätte mehr vom alten Ribbeck auf Ribbeck behalten als: „Lütt Dirn, Kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn.“ Die Poesie des Havellandes kommt nie ohne einen melancholischen Unterton aus.

Effizienz steht einem glücklichen Leben entgegen

Gerade weil die vermeintlich unspektakuläre Landschaft nicht den Klischees populärer Sehnsuchtsorte entspricht, ist sie der ideale Lehrmeister, um die Wahrnehmung zu schärfen, die Langsamkeit wieder zu erlernen und ein wenig heile Haut über die „Effizienzwunde“ wachsen zu lassen. Die Effizienzwunde, zugefügt vom industriellen Taktschlag der Moderne, beginnt als ein leichtes Jucken zwischen den Schulterblättern. Anfangs nur lästig, entzündet es sich bald zu einem eitrigen Geschwür. Man versucht sie zu verbergen, zu verarzten und weiter zu funktionieren. In der Schule hieß das noch „strebsam“, im Lebenslauf schreibt man „ambitioniert“, die Verwandten nennen einen lieb gemeint Workaholic. Man frühstückt effizient, arbeitet effizient, gestaltet seine Freizeit effizient. Doch eines Morgens wacht man auf und muss sich eingestehen, dass die Wunde kein lästiger Kratzer, sondern das Symptom einer Krankheit ist.

Um den Ressourceneinsatz zu reduzieren, muss billig, schnell oder standardisiert gearbeitet werden. Doch ein lohnendes Wirtschaftskonzept zu einer logischen Lebensführung zu verklären, ist gefährlich. Sparsamkeit und Schnelligkeit verschaffen uns nicht den erhofften Seelenfrieden. Im Gegenteil, der Anspruch, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu schaffen, zu produzieren, zu konsumieren, steht einem glücklichen Lebens-, Reise- oder Liebesprinzip entgegen.

Vielleicht ist die Pilgerreise deshalb nach 400 Jahren Dornröschenschlaf ausgerechnet von der hyperkapitalistischen Wohlstandsgesellschaft wachgeküsst worden. Hape Kerkeling berichtete von seiner Pilgerschaft im Jahr 2001 noch von Geisterstädten mit wilden Hunden. Seither werden es jedes Jahr mehr Pilger, mehr Herbergen und mehr reinstallierte Routen zwischen Ostsee, Mittelmeer und Atlantik. Laut Pilgerbüro von Santiago de Compostela kommen in der Hochsaison rund 1700 Pilger täglich dort an.

Mich hat das Pilgern gelehrt, wie zerstörerisch es für den Körper ist, einem fremden Tempo ausgesetzt zu sein. Ich kann mich nur noch nicht so ganz daran gewöhnen. Ab und an juckt es doch noch zwischen den Schulterblättern.

Buchtipp und Lesung

Unsere Autorin hat ihre Erfahrungen beim Pilgern durch das Havelland in dem Buch „Kein Hawaii“ (180 Seiten, 30 Euro) gesammelt. Darin beschäftigt sie sich mit Landschaftsästhetik, Ritualforschung, Mythologie, Theologie und nutzt die Mittel der Fotografie, Illustration sowie handgemachter Kartografie. Entstanden ist eine Kombination von Reisebericht, Ratgeber, Herbergsführer und Fiktion. Am 6. April liest Susanne Laser um 20 Uhr im Buchladen Viktoriagarten in Potsdam.

Online erhältlich ist das Buch schon jetzt hier.

Susanne Laser

Zur Startseite