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Pfarrer Alexander Höner ist Leiter der Arbeits- und Forschungsstelle Theologie der Stadt im Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg.

© Kitty Kleist-Heinrich

Pfarrer Höner über Osterchristen und mehr: „Gottesdienste müssen langweilig sein“

Uns geht es zu gut für Religion, sagt Alexander Höner. Der evangelische Pfarrer spricht über Hoffnung zu Ostern, die Fehler seiner Kirche und Käse-Lauch-Suppe.

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Herr Höner, die evangelische Kirche hatte dieses Jahr zum Lügenfasten aufgerufen. Haben Sie durchgehalten?

Nee, ich habe fröhlich umhergelogen. Psychologen sagen, dass Lügen überlebenswichtig sind, und ich glaube, dass es auch gesunde Lügen gibt. Kindern beispielsweise kann man nicht immer nur die nackte Wahrheit auftischen.

Heute feiern wir Ostern, das Fest der Hoffnung. Auf was hoffen Sie?

Ich bin diesem Wort sehr kritisch gegenüber geworden. Wir benutzen es zu oft in unserer Kirche. Dahinter kann man sich gut verstecken. Warum tun wir nicht mehr? Dorothee Sölle, eine meiner Lehrerinnen, hat mal gesagt: „Der Teufel hat eine Telefonnummer.“ Das Böse wird von konkreten Menschen bewirkt. Da wünschte ich mir klare Ansagen von meiner Kirche. Nicht nur Sonntagspredigten für mein gutes Gewissen. Greta Thunberg hat so schön gesagt: Ich will nicht eure Hoffnung, ich will, dass ihr panisch werdet. Zu Ostern allerdings ist Hoffnung erlaubt. Da glaube ich, dass Jesus von den Toten auferstanden ist und unsere Seelen daran Anteil haben werden – in welcher Form auch immer.

97 Prozent der Protestanten gehen nicht mehr zum Gottesdienst. Aber jetzt sind die Kirchen voll.

Manche Kollegen nennen diese Leute verächtlich Weihnachts- oder Osterchristen. Seid doch froh, dass die überhaupt noch kommen! Wir haben einen großen Traditionsabbruch. Zwar bieten wir ein Sinnangebot, allerdings ergeben Umfragen, dass sich nur acht Prozent der Deutschen regelmäßig nach dem Sinn des Lebens fragen. Gottesdienst ist ein Format, das nicht gut in unsere Zeit passt, die viel mit Kurzfristigkeit zu tun hat. Ein Gottesdienst muss langweilig sein. Im guten Sinne des Wortes: Es müssen lange Weilen ausgehalten werden. Das können viele nicht mehr. Wir brauchen die Wiederentdeckung, dass lange Weilen auch schön sind.

Gleichzeitig gibt es eine große Sehnsucht nach Spiritualität. Statt in die Messe gehen die Leute in die Messehalle zu Predigern wie Sadhguru, meditieren statt zu beten, machen Yoga statt Gemeindearbeit.
Ich freue mich, wenn sich Leute auf solche Formate einlassen können. Das ist immer eine Einübung in Stille. Da ist mir egal, wer das anbietet.

Das ist Ihre Konkurrenz!

Ich war neulich als Vertretung mitten in einem lebendigen Kiez und habe mit nur neun Leuten Gottesdienst gefeiert. Natürlich tut mir das weh.

Welche Schuld trägt die Kirche selbst daran?

Der größte Fehler ist, dass wir lange in unseren Kirchen gesessen und gewartet haben, dass die Leute kommen. Da lernen wir gerade um, machen Tauffeste am See, feiern Gottesdienste auf Marktplätzen. Wir müssen uns öffnen. Auch in den Gemeinden. Bei mir saßen mal zwei zugezogene Damen nach einem Jahr weinend in der Sprechstunde. Sie sagten: „Die lassen uns nicht rein.“ Die beiden hatten angeboten, Kürbissuppe für das Gemeindefest zu machen. Da wurde ihnen entgegnet: „Bei uns gibt es immer nur Käse-Lauch-Suppe.“ Dann wundern wir uns, wenn die Leute wegbleiben!

Was hat Kirche der Konkurrenz voraus?

Die anderen Meditationsformen machen das Selbst sehr stark. Wir Christen sagen auch: Du bist wichtig, jeder ist von Gott geschaffen. Aber gleichzeitig geh’ ich nicht nur hin, um persönliche Erleuchtung zu bekommen, sondern weil es ein Gemeinschaftsangebot ist.

Fehlt jemandem, der nicht glaubt, etwas?

Es gibt Umfragen dazu, gerade auch im Osten von Berlin unter Konfessionslosen. Wir hatten als Glaubende immer die stille Hoffnung, denen fehlt was, wir müssen nur die richtige Seite ansprechen. Aber die Leute sind zufrieden, so wie sie leben. Und das ist ja auch okay so. Wir müssen nicht alle religiös werden, um glücklich zu sein.

John Lennon stellte sich in „Imagine“ eine Welt ohne Religion sogar als sehr viel friedlicheren Ort vor.

Wir reden heute vor allem über Glauben, wenn Fundamentalisten sich in die Luft sprengen. Aber wenn man an der Basis guckt, dann sorgen Religionen dafür, dass es Werte gibt, dass Mitmenschlichkeit herrscht. Eine Reling, an der sich die Gemeinschaft orientieren kann. Wenn das alles wegfallen würde, wäre das Leben noch stärker eine Kampfarena.

Sie sprechen von Diensten wie Sterbebegleitung.

Gestern war ich mit meinen Töchtern bei einem Eisladen, da trafen wir einen Mann, dessen Sohn ich vor Jahren beerdigt habe. Er bedankte sich für den Trost, den ich ihm damals gegeben hätte. Ich habe eine Zeit lang vier Beerdigungen in der Woche gemacht, bin oft tief in die Trauer der Familie eingetaucht. Es hat gutgetan, eine Botschaft zu vermitteln, die größer ist als ich. Wenn wir gemeinsam die Choräle singen, ist das eine Form von Trost, der seit Jahrhunderten Menschen getragen hat.

„Ich beneide Muslime um die Sinnlichkeit“

Am Ostersonntag feiern Christen in aller Welt (hier bei einer Messe im Berliner Dom) die Auferstehung von Jesus.
Am Ostersonntag feiern Christen in aller Welt (hier bei einer Messe im Berliner Dom) die Auferstehung von Jesus.

© Christophe Gateau/dpa

Anthropologen sagen, der Ursprung des Glaubens sei Angst. Brauchen nur die Schwachen Religion?

Den Eindruck hat man manchmal, wenn Leute fragen: Glaubst du wirklich an den lieben Gott? Also: Glaubst du an den Osterhasen? Natürlich ist unsere Religion auch an die Schwachen gerichtet. Jesus hat gesagt: Kommt alle her, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. In Guatemala, wo ich aufgewachsen bin, sind die Menschen morgens in die Kathedralen, die vor Weihrauch qualmen, um sich die Kraft für den Tag zu holen. Je bedürftiger du bist, desto mehr spürst du, dass nicht nur du dein Leben steuerst. Das vergessen wir immer grandios. Uns geht es zu gut für Religion.

Ist Glauben einfacher als Zweifeln?

Religion gibt doch auch nicht alle Antworten. Man muss sich einlassen können auf diese Gedanken des Jenseits, des Transzendenten. Das macht mir das Leben eher komplizierter. Manchmal wünschte ich mir, nicht so religiös zu sein. Dann gehe ich zu meiner Gemeindesekretärin und frage, ob ich die Post stempeln darf. Wenn ich das eine halbe Stunde gemacht habe, geht es mir besser.

Die Zahl der Kirchenaustritte hierzulande steigt, die der Muslime auch. Beneiden Sie sie um etwas?

Um die Sinnlichkeit. Wenn in der Moschee die Füße gewaschen werden, dieses Reinigungsritual, total stark. Auch das Meditative in Bewegung umzusetzen. Der Körper ist der Tempel Gottes, steht in der Bibel. Wir Protestanten sitzen meist nüchtern in der Kirchbank, strengen das Gehirn an – nicht unbedingt das Organ, was stets das Göttliche erspürt.

Dann beneiden Sie die Katholiken auch?

Für Weihrauch und Gold? Ach, das ist schön, aber bewundernswert finde ich den Mariaglauben. Jesus Mutter ist zwar kein Teil der Trinität, doch sie bringt den weiblichen Aspekt Gottes mit ein. Das fehlt mir im Protestantismus. Neulich habe ich einen Salbungsgottesdienst gemacht, da könnte man auch sagen: total katholisch. Aber – totaler Quatsch. In diesem Streit der Richtungen ist so viel die Klippe runtergestürzt, dass wir Protestanten gerade anfangen, sinnliche Traditionen wiederzuentdecken. Es hat mich bewegt, Menschen an Hand und Stirn mit Rosenöl zu salben, zu sagen: „Gehe zuversichtlich in dein Leben, Gott ist bei dir“.

Ist Protestantismus Christentum light?

Christentum intellektuell würde ich sagen. Nur was du verstanden hast, kannst du glauben. Das ist schön, weil es der Beliebigkeit entflieht, aber anstrengend. Mir ist wichtig, dass ich den Kopf beim Glauben nicht abschalte. Darum bin ich Protestant. Es macht uns frei davon, Sklaven einer übergeordneten Form oder eines Gefühls zu sein. Wir fragen: Kann man das denken, was ich da behaupte, und wie? Wie bringt man Gott ins Spiel und in Sprache?

Hätten Sie auch gern mal einen Papst?

Klar, bei zu langen Debatten. Prozesse in parlamentarischer Form – und die evangelische Kirche ist basisdemokratisch strukturiert – kosten immer mehr Kraft. Da wünsche ich mir manchmal jemanden, der zum Beispiel sagt: Die Ächtung der Atomwaffen gehört in unsere Friedenserklärung – keine Diskussion. Die politische Realität ist komplexer, und dann muss ich mich halt damit auseinandersetzen, dass Atomwaffen ein Machtgleichgewicht und so eine Zeit des Friedens herstellen können. Ich bin nicht gern realpolitisch, ich bin lieber visionär.

Gehört das Zölibat abgeschafft?

Ja. Ich finde keine Begründung plausibel genug.

Lieben Sie Ihre Frau mehr als Gott?

Für mich zeigt sich die Liebe zu Gott auch in der Liebe zu meiner Frau. Ich misstraue Fragen, die Eindeutigkeit fordern. Meine fünfjährige Tochter fragt mich immer: Wen findest du schöner, Mama oder mich? Ich sage: euch beide. Das lässt sie nicht gelten. Es gibt Fragen, die ein falsches Entweder-Oder erzwingen wollen. Das soll sie jetzt schon lernen.

„Der Schmerz hindert mich nicht an einem fröhlichen Leben“

Weihrauch und Gold. Papst Franziskus hält die traditionelle Ostermesse auf dem Petersplatz in Rom.
Weihrauch und Gold. Papst Franziskus hält die traditionelle Ostermesse auf dem Petersplatz in Rom.

© imago/Ulmer/Lingria

Wie stellen Sie sich Gott vor?

Es gibt bei einem Lied, das ursprünglich aus Südamerika kommt, eine Zeile: „Du Freundin des Lebens, dir singe ich mein Lied.“ Das trifft es. Neulich nach einem Radiogottesdienst habe ich deswegen einen bösen Brief bekommen: „Wie beten Sie eigentlich, Herr Pfarrer?“ Für mich ist Gott eine Kraft, die alles Leben ermöglicht. Dass es uns gibt, ist das Bedürfnis Gottes, miteinander in den Dialog zu kommen. Gott hat in jeden von uns ein Stück von sich reingepackt – auch seine dunklen Seiten.

Und daran haben Sie nie gezweifelt?

Eine Situation der absoluten Gottesferne war, als mein Vater starb, da war ich 27. Das hat für mich gar keinen Sinn ergeben. „Warum hast du unsere Gebete nicht erhört?“, dachte ich.

Der Tod kam plötzlich?

Nein, er hatte Lungenkrebs und ist innerhalb von fünf Monaten gestorben. Wenn er einen Unfall gehabt hätte, damit wäre ich besser klargekommen, aber so zu verrecken, wie man verreckt, wenn man Lungenkrebs hat – langsam zu ersticken – das hat kein Mensch verdient. Wenn du der Herr des Lebens bist, Kranke gesund machen kannst, warum machst du nicht meinen Papa gesund? Die berühmte Theodizee-Frage: Warum lässt ein liebender, allmächtiger Gott so was Schreckliches zu.

Welche Antwort haben Sie darauf gefunden?

Vielleicht ist das ein Sakrileg, wenn ich das so formuliere, aber wir sollten uns von dem Gedanken verabschieden, dass Gott allmächtig ist. Würde ich das glauben, würde ich an der Situation zerbrechen. Unser Gott kann verlieren, ist selbst gestorben, am Leben gescheitert. Eine der schönsten Passagen in der Bibel ist, wo Jesus eine Notsituation sieht und es heißt: Ihm gingen die Augen über. Jesus weint, das tröstet mich beim Zweifeln. Gott hat, als mein Vater gestorben ist ...

... jetzt weinen Sie auch ...

Gott hat damals mit uns geweint und war genauso verzweifelt, dass das Leben nicht stärker war als die Krankheit. Anders kann ich mir das einfach nicht vorstellen. Ich misstraue den Leuten, die sagen, das wirst du irgendwann verstehen, Wunden schließen sich. Die Kunst ist, den Schmerz zu integrieren. Der Schmerz hindert mich nicht an einem fröhlichen Leben. Aber Gott wird sich viel Zeit nehmen müssen, wenn wir uns einst im Himmel begegnen. Ich habe Fragen.

Wie sollten sich Atheisten bei der Messe verhalten?

Rettungsweste anziehen! War Spaß, aber bei Beerdigungen und Hochzeiten sage ich es so: Ich lade alle ein, die Brille des Glaubens für eine Stunde aufzusetzen. Zu beten, auch wenn sie sonst nicht beten, die unbekannten Lieder mitzusingen. In dem Moment passiert mehr, als sie selbst verantworten können. Wenn es mir mal schwerfällt zu glauben, bin ich froh, dass es die anderen stellvertretend für mich tun. Sich den Glauben der anderen ausleihen zu dürfen, finde ich großartig.

Warum muss Glaube in Deutschland eigentlich immer so was Ernstes sein?

Ich finde es schwierig, wenn Deutsche so tun, als wären sie ausgelassen. Auch Ekstase ist Übungssache. In einer Gospelkirche ruft man bei der Predigt Lob und Widerspruch dazwischen. Schreckliche Vorstellung, dass das hier notorische Aufmerksamkeitsvampire tun. Lockerheit fällt nicht vom Himmel. In Predigtwerkstätten rennen wir durch die Kirche, um dieses Salbungsvolle loszuwerden: schief gelegter Kopf, sanfte Stimme, da könnte ich ausrasten. Manche sagen, sobald ihr Talar tragt, bekommt ihr so eine komische Aura.

Predigen Sie doch im Jackett!

Ich trage meistens eine Albe. Da empfinden mich die Leute als weniger abgehoben. Vor allem mit Kindern erlebe ich das. Wenn ich mich im weißen Tuch auf die Stufen setze, setzen die sich gleich dazu, lehnen sich an.

Trauen Sie sich nach den Missbrauchsskandalen überhaupt noch, solche Nähe zuzulassen?

Es ist schwieriger geworden. Als Kinder haben wir mit unserm Jugenddiakon eine Wasserschlacht gemacht. Alle nackt. Heute nicht denkbar. Es gibt Kollegen, die sagen, sie sind nie allein mit einem Kind im Raum. Aber dann geht auch eine Vertrauensbasis verloren. Ich lasse immer die Tür halb offen, dass die Sekretärin alles mitbekommen kann.

Herr Höner, welches Kirchenlied können Sie absolut nicht mehr hören?

Ich kann nichts singen, wo es nur schuldbeladen zugeht. Die christliche Theorie ist lange sehr kreuzeszentriert gewesen. Die Lust am Sündersein, die martialischen Formulierungen, das will mir schwer über die Lippen. Es gibt eine Verausgabung darin, sich schlecht zu fühlen. Mea culpa, mea maxima culpa. Nicht mein Ding. Du bist ein guter Christ, wenn du besonders leidend aussiehst. Ne, andersrum! Wenn du froh, gelassen, heiter bist.

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