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Die Geschwister Gregor und Gabriele Gysi leben heute beide wieder in Berlin.

© Joachim Gern

Persönliches Interview mit Gabriele und Gregor Gysi: "Wenn schon untergehen, dann mit gutem Essen"

Sie waren immer füreinander da. Wenn der Vater die Familie verließ, wenn sie einen Ausreiseantrag stellte. Gestritten haben die Gysi-Geschwister trotzdem gern.

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Ein heißer Sommertag im Regierungsviertel. Gabriele, 74, und Gregor Gysi, 72, treffen sich in seinem Bundestagsbüro, um über die Familie zu sprechen. Die frühere Chef-Dramaturgin der Volksbühne besucht den jüngeren Bruder. Die Geschwister stammen aus der ersten Ehe des ehemaligen DDR-Kulturministers Klaus Gysi und der Verlegerin Irene Gysi.

Der Vater Klaus war als hoher Funktionsträger der DDR und Mann Ulbrichts eine schillernde, aber zwiespältige Figur. Ihr Halbbruder Andreas Goldstein hat ihn im vergangenen Jahr im Dokumentarfilm „Der Funktionär“ als Karrieristen dargestellt, der letztlich gescheitert wie sein Land sei. Gabriele und Gregor Gysi erlebten den Vater anders. Im ersten gemeinsamen Projekt haben sie anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Aufbau-Verlags, dessen Verleger Klaus Gysi auch einmal war, ein Buch über ihn gemacht. Es ist auch eine Erinnerung an die DDR geworden, die vor 30 Jahren unterging.

Erst zum zweiten Mal besucht Gabriele Gysi den Bruder im Parlamentsbüro. Sie hat leuchtend rotes Haar, Gregor Gysi ist vom Hiddensee-Urlaub ordentlich gebräunt. Während des Gesprächs sind kleine Familienrituale zu beobachten: Zum Beispiel schiebt die Schwester das Glas ihres Bruders immer wieder vom Tischrand zurück in die Mitte. Auf den Jüngeren aufzupassen, erklärt sie, sei ihr eingeschrieben. Einmal entfährt es Gregor Gysi: „Nicht das Thema wieder!“ Sich der meinungsstarken, älteren Schwester zu widersetzen, scheint wiederum für ihn Routine.

Frau Gysi, Sie sind anderthalb Jahre älter als Ihr Bruder. Haben Sie ihn früher manchmal beschützen müssen?
GABRIELE GYSI: Ja, zum Beispiel in der Pubertät, da muss man sich seiner Eltern erwehren, weil man selbst eine wichtige Persönlichkeit wird. In dieser Zeit haben wir einander immer verteidigt. Ob Gregor betrunken war, oder worum es auch immer ging.

Herr Gysi, Sie waren also oft betrunken.
GABRIELE GYSI: Nein!
GREGOR GYSI: Ich weiß noch, als ich mal mit meinem Freund in der Kneipe war. Die Arbeiter bestellten dort immer einen Braunen, also einen Weinbrand und ein Bier. Das haben wir nachgemacht. Wir waren in der elften Klasse. Da haben wir uns schwer nach Hause geschleppt. Schätzi, unsere Kinderfrau, und meine Mutter waren empört. Meine Schwester stand vor der Tür mit ausgebreiteten Armen und rief: Er muss es doch mal versuchen! Eine, die mich verteidigt, hatte ich fast immer. Das hat mich schon geprägt.

Die Geschwister Gysi Ende der 80er Jahre in Ost-Berlin, noch Hauptstadt der DDR.
Die Geschwister Gysi Ende der 80er Jahre in Ost-Berlin, noch Hauptstadt der DDR.

© privat

Frau Gysi, wann hörte das Gefühl auf, Ihren Bruder beschützen zu müssen?
GABRIELE GYSI: Einmal große Schwester, immer große Schwester. In der Übergangszeit von der DDR in dieses vereinte Deutschland musste man wirklich Angst um Gregor haben. Dazu brauchte es keinen großen Beschützerinstinkt. Er hat Morddrohungen bekommen. Ich erinnere mich, wie ich damals zu ihm zum Abendbrot ging. Ich hatte im KaDeWe extra für uns eingekauft. Wenn schon untergehen, dann mit gutem Essen. In Lichtenberg, wo er damals wohnte, ist der abschnittsbevollmächtigte Polizist Wache ums Haus herumgefahren. Die Atmosphäre war und wurde sehr aufgepeitscht.
GREGOR GYSI: Einer meiner Söhne hat sich in einer Werkstatt als Kfz-Schlosser im Westen beworben. Der Meister hatte ihn gefragt: Bist du mit dem Gysi verwandt? Und dann konnte er gleich wieder nach Hause gehen.
GABRIELE GYSI: Man darf auch nicht den armen Buchhändler in Marzahn vergessen, der bei Gregor unterm Büro seinen Laden hatte. Dem fehlt heute ein Arm. Er wurde angeschossen von einem Bekloppten, der ihn für Gregor hielt.

Wie ist heute Ihr Verhältnis zueinander?
GREGOR GYSI: Im Kern liebe ich sie. Daran wird sich nie etwas ändern. Wenn wir uns treffen, kocht sie meistens für mich, was ich schon mal sehr begrüße. Aber wir haben natürlich auch Meinungsverschiedenheiten. Das liegt daran, dass sie ein gänzlich anderes Leben geführt hat als ich. Daraus resultieren unterschiedliche Sichtweisen.

Frau Gysi, Sie sind Schauspielerin, Regisseurin und nach der Jahrtausendwende waren Sie Chef-Dramaturgin der Volksbühne. Gregor Gysi ist Anwalt und sitzt seit 30 Jahren im Bundestag. Stimmt es, dass in der Familie der Beruf des jeweils anderen für Sie vorgesehen war: dass Gregor Schauspieler werden sollte und Gabriele Anwältin?
GABRIELE GYSI: Gregor ist vom Typ her darstellerischer als ich. Sie dachten, ich würde eher theoretischer und distanzierter leben. Natürlich macht man es als anständiges Kind dann genau umgekehrt.

Dass Ihre Eltern überhaupt so genaue Berufsvorstellungen für Sie hatten!
GABRIELE GYSI: Nein, hatten sie gar nicht. Sie ließen uns machen. Das Denken meiner Eltern drehte sich um die Frage, wie man eine bessere Welt aufbaut. Wenn man sich überlegt, wie es nach dem Krieg hier ausgesehen hat, ist mir das eine sehr sympathische Haltung.

Ihre Eltern Klaus und Irene Gysi waren 1940 von der kommunistischen Partei zum Widerstand gegen die Nazis von Paris nach Berlin zurückgeschickt worden. Ende der 40er Jahre gingen sie in den Osten, wo Ihr Vater unter anderem als Verleger, Botschafter und Kulturminister arbeitete. Ihre Mutter, Fabrikanten-Tochter aus Schlachtensee, leitete ebenfalls einen Verlag und später eine Abteilung im Ministerium für Kultur. Über ihr Engagement als Eltern gibt es ein Zitat von Gabriele Gysi: „Ihr könnt den ganzen Tag dankbar sein, dass wir nicht kriminell geworden sind – bei der Vernachlässigung, die Ihr an den Tag gelegt habt.“
GABRIELE GYSI: Sie haben die Erziehung verweigert ...

… oder an das Kindermädchen delegiert.
GABRIELE GYSI: Nein, Schätzi war Liebe pur. Meine Mutter ist in adeligen Strukturen aufgewachsen. Die hat sie wiederhergestellt. Das heißt: Schätzi kam nicht, um sauber zu machen oder um auf uns aufzupassen, sondern sie war Teil der Familie. Ich verteidige jetzt mal die aristokratische Struktur ...

… wie es sich für eine DDR-Bürgerin gehört.
GABRIELE GYSI: Als nächste Person ist das Kindermädchen jemand, von dem du abhängst, aber nicht abhängig bist. Ein Kindermädchen hat nicht die Allmacht der Eltern über ihre Kinder.

Klaus Gysi mit Gabriele (links) und dem gerade geborenen Gregor Gysi 1948.
Klaus Gysi mit Gabriele (links) und dem gerade geborenen Gregor Gysi 1948.

© privat

Der Autor Christoph Dieckmann bezeichnete Ihre Familie als „roten Adel“, weil sie schillernder sei als andere in der DDR. In Ihrem Buch, das Sie beide zusammen jetzt über Ihren Vater gemacht haben, sagen Sie: „In unserer Familie gab es keine falsche Harmonie.“ Über was wurde denn bei Ihnen früher so gestritten – wer den Müll rausträgt?
GREGOR GYSI: Nein. Es ging um Politik, Kunst und Kultur und menschliche Beziehungen. Meine Mutter war wählerischer mit ihren Freundschaften, mein Vater hatte eine Grundfreundlichkeit gegenüber jedem.
GABRIELE GYSI: Er war verspielter.

Ihre Eltern haben sich 1958 scheiden lassen.
GREGOR GYSI: Meine Mutter hätte ganz gerne die Trennung rückgängig gemacht und hoffte dabei auf uns Kinder. Ich erinnere mich noch, wie wir mit ihr im Kino waren. Das war vielleicht ein Jahr nach der Scheidung. Es war ein italienischer Film: „Ferien auf Ischia“. Da hat ein kleines Mädchen organisiert, dass seine Eltern wieder zusammenkommen. Und da sagte unsere Mutter hinterher zu uns: „So etwas erwarte ich auch von euch.“
GABRIELE GYSI: Das hat sie lustiger gesagt. So klingt es ja nach Schulaufgaben.
GREGOR GYSI: Sie hat gesagt: „Ein bisschen mehr von dem Mädchen könntet ihr schon haben.“

Wie hat es Sie geprägt, Scheidungskinder zu sein?
GABRIELE GYSI: An unserem Leben hat sich gar nichts Wesentliches geändert. Mein Vater hat nur seine Zahnbürste genommen und war weg. Nach der Scheidung war er trotzdem oft da. Er hat seine Geburtstage bei uns in Johannisthal gefeiert. Seine Freunde kamen zu uns zu Besuch. Wir Kinder hatten die Sensation, geschiedene Eltern zu haben, aber nicht den Schrecken.
GREGOR GYSI: Ein bisschen traurig waren wir schon. Das verdrängst du heute. Man darf bei meiner Schwester nichts Negatives über eines meiner Elternteile sagen. Das habe ich auch gar nicht vor. Mein Vater hat einmal zu mir gesagt: „Deine Mutter ist die geeignetste Frau für Krisen, Kriege, Revolutionen und Konterrevolutionen. Alle zugespitzten Situationen meistert sie.“ Das hat ihm natürlich sehr genutzt. Da ist eine Tiefe der Beziehung entstanden, die sie nie aufgegeben haben.

Ihr Vater war noch zwei Mal verheiratet. Sie haben fünf weitere Geschwister. Wie verstehen Sie sich mit denen?
GABRIELE GYSI: Seine dritte Frau Birgid war ja eine Freundin von mir. Die hatte ich ihm vermittelt. Man muss sich eben um alles kümmern.

Ist das nicht komisch, wenn der Vater auf einmal mit der eigenen Freundin liiert ist?
GABRIELE GYSI: Nee, im Gegenteil. Birgid war Dramaturgin an der Volksbühne, an der ich als Schauspielerin engagiert war. Sie konnte Italienisch und hat für Benno Besson …

… den damaligen Intendanten der Volksbühne …
GABRIELE GYSI: … Texte übersetzt. Sie sollte nach Italien fahren, um dort Material zu übergeben. Mein Vater war in den 70er Jahren DDR-Botschafter im Land. Ich sagte zu ihr: „Du, Birgid, wenn du jetzt hinfährst, rufst du meinen Vater an, und der soll dich zum Essen einladen. Komm nicht wieder und hab das nicht gemacht, sondern immer nur eine Pizza gegessen!“ Dann habe ich meinen Vater angerufen, ihm gesagt, er soll sich anständig benehmen und sie in das teuerste Restaurant Roms einladen. Das hat er auch gemacht. Danach waren die fast 30 Jahre verheiratet.

Gabriele Gysi mit ihrem Vater vor dem verhüllten Reichstag 1995.
Gabriele Gysi mit ihrem Vater vor dem verhüllten Reichstag 1995.

© privat

In den 70ern sind Sie nach Senftenberg und Anklam gegangen, um mit Frank Castorf Theater zu machen. Da hat sich der familiäre Kontakt sicher gelockert.
GABRIELE GYSI: Als ich junge Schauspielerin an der Volksbühne war, hat sich Frank dort ein bisschen in mich verliebt. Damals hat er sich was ausgedacht: Ob ich nicht die Minna von Barnhelm spielen wolle. Die Rolle gefiel mir, er war Dramaturg, und ich spielte als Gast. Als wir mit der Inszenierung fertig waren, waren wir ein Paar. Vatichen und Gregor haben sich oft Inszenierungen angeschaut, bei denen ich mitgemacht hatte. Für sie war das Theaterleben ja auch interessant.
GREGOR GYSI: Unser Vater hat großen Anteil an dem genommen, was wir machten. Als Anwalt habe ich ihm manchmal meine Rechtsfälle geschildert. Da ging sein Herz richtig mit.

Zum Beispiel?
GREGOR GYSI: Als Pflichtverteidiger vertrat ich in den 70ern mal eine junge Frau, die sich in Westdeutschland auf einen Mann eingelassen hatte, der behauptet hatte, dass er sie liebte, sie nach West-Berlin lockte und sich dann als Zuhälter entpuppte. Eines Tages schickte er sie rüber in den Osten. Dort müsse sie jemandem ihren Pass geben, bekomme aber kurz darauf einen neuen, mit dem sie zurückkomme. Das hat sie artig gemacht, aber es kam natürlich keiner mit dem neuen Pass für sie. Mit ihrem Pass war in der Zwischenzeit eine DDR-Bürgerin ausgereist. Dafür wurde die Frau zu sechs Jahren Freiheitsstrafe wegen Menschenhandels et cetera verurteilt. Das habe ich meinem Vater erzählt, und dem schlug das Herz genauso wie mir: „Das kann man nicht machen mit diesem armen Mädchen! Die haftet hier für Weltpolitik!“ Ich habe den Staatsanwalt immer wieder bearbeitet, bis sie schließlich auf Bewährung entlassen wurde. Dann sagte der zu mir: „Ich weiß gar nicht, warum du dich so sehr um die Nutte kümmerst.“ Das habe ich meinem Vater erzählt, der so entsetzt war wie ich.

Herr Gysi, haben Sie als Anwalt mal Ihre Schwester verteidigt?
GREGOR GYSI: Beraten habe ich sie permanent, vertreten nie. Wenn einer ihrer Bekannten von der Staatssicherheit verhaftet wurde, rief sie mich an, dass ich was unternehmen müsse. Was ich auch getan habe. Da hat sie richtig Druck gemacht.

Frau Gysi, haben Sie den Bruder konsultiert, als Sie in den 80er Jahren Ihren Ausreiseantrag stellten?
GABRIELE GYSI: Na, selbstverständlich!

Herr Gysi, haben Sie versucht, Ihrer Schwester die Ausreise auszureden?
GREGOR GYSI: Vielleicht mal kurz. Ich habe schnell gemerkt, dass es keinen Sinn hatte.
GABRIELE GYSI: So ein Entschluss reift doch langsam.
GREGOR GYSI: Meine Schwester war zum Beispiel auch aus der SED ausgeschlossen worden. Einer der Vorwürfe war, dass sie das Jüdische Theater Warschau besucht und die Theaterleitung an der Volksbühne nicht darüber informiert hat. Mir war völlig schleierhaft, wo stand, dass sie das hätte tun müssen. Ich habe ihr die Beschwerde gegen den Parteiausschluss diktiert. Keine Chance. Da war eine, die auf Parteiversammlungen ihre Meinung äußerte, das ertrugen sie einfach nicht. So entstand eine Situation, in der man sagt: Okay, jetzt geht es nicht mehr. Aber es gab nie einen persönlichen Bruch zwischen uns. Wir haben uns weiterhin gut verstanden und gesehen.

Wie ging das denn?
GABRIELE GYSI: Ich bin mit einem DDR-Pass ausgereist. Deshalb konnte ich immer wieder zurück. Bei vielen Künstlern wurde das so arrangiert.
GREGOR GYSI: Das haben sie bei den wenigen gemacht, auf die sie ein bisschen mehr Wert legten.
GABRIELE GYSI: Der DDR-Pass hatte eine erzieherische Funktion. Sie hätten ihn mir entziehen können. Sie haben mir nicht geglaubt, dass ich sowieso nichts gegen die DDR sagen würde in der Bundesrepublik. Ich fand, in der DDR setze ich mich mit der DDR auseinander und in der Bundesrepublik mit der Bundesrepublik.

Die Schriftstellerin Anna Seghers im Gespräch mit Klaus Gysi, dem Minister für Kultur der DDR, während des VI. Schriftstellertreffens 1969 in Ost-Berlin.
Die Schriftstellerin Anna Seghers im Gespräch mit Klaus Gysi, dem Minister für Kultur der DDR, während des VI. Schriftstellertreffens 1969 in Ost-Berlin.

© picture-alliance / dpa

War der Westen für Sie eine große Umstellung?
GABRIELE GYSI: Nein. Ich war 14, als die Mauer gebaut wurde. Da hatte ich schon ein Bild, wie es dahinter aussah. Außerdem habe ich in den 70er Jahren, als ich Schauspielerin an der Volksbühne war, mit der türkischen Schauspielerin Emine Özdamar zusammengewohnt, die eine Assistenz an der Volksbühne machte und zwischen Ost und West pendelte …

… Özdamar schrieb über die Zeit den Roman „Seltsame Sterne starren vom Himmel“ …
GABRIELE GYSI: … damals kamen viele aus Emines West-Berliner Bekanntenkreis zu uns ins Theater, und ich habe sie mit Karten versorgt. Die Volksbühne war ein sehr offenes Haus. Mich ärgert, dass immer so getan wird, als sei die DDR ein in sich geschlossener Raum gewesen.

Herr Gysi, waren Sie manchmal neidisch, dass Ihre Schwester im Westen war, überallhin reisen konnten und Sie nicht?
GREGOR GYSI: Nein, nicht neidisch. Wissen Sie: Es ging mir im Leben immer besser als meiner Schwester.
GABRIELE GYSI: Stimmt schon. Er war ein bisschen verwöhnt von uns drei Damen, die ihn alle süß fanden.
GREGOR GYSI: Neidisch war ich natürlich auf das Reisen. In der DDR war das ja für Männer erst ab 65 erlaubt, was ich immer falsch fand.
GABRIELE GYSI: Ich weiß noch, wie Gregor einmal gesagt hat: „Wir feiern heute Bergfest.“ Ich sagte: „Was ist denn das für ein Bergfest?“ - „Naja, in 32,5 Jahren kann ich verreisen.“
GREGOR GYSI: Dass ich doch früher ins Ausland fahren konnte, verdanke ich meiner Mutter. Die hat arrangiert, dass mich das Kulturzentrum der DDR in Paris einlud, um über den „Grad der Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR“ zu sprechen. Ein Traumthema! 1987 wurde die Reise abgelehnt, 1988 dann genehmigt. Meine Mutter hatte sich ebenfalls eine Dienstreise nach Paris organisiert. Natürlich kam auch meine Schwester. So saßen wir alle zusammen. Ich weiß noch, wie der stellvertretende Leiter des Kulturzentrums auf meinen Zettel guckte, auf dem nur ein einziges Wort handschriftlich stand: „Geschichte“. Er fragte: „Was soll das Wort Geschichte?“ – „Naja“, sagte ich, „ich wollte erst über die Geschichte der Menschenrechte reden, damit ich nicht so schnell zur DDR komme.“

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Waren Sie angemessen beeindruckt von Paris?
GREGOR GYSI: Die Architektur hat mir natürlich gefallen. Ich saß im Kulturzentrum der DDR, ganz erfüllt von der Schönheit der Stadt, als plötzlich durch den Lautsprecher so eine sächselnde Stimme rief: „Genosse Gysi in Saal zwei zur Austeilung des Taschengeldes!“ Da dachte ich: Das kann nicht wahr sein! Entsetzt hat mich aber in Paris, wie teuer die Metro-Fahrt und der Eintritt in den Louvre waren. Straßenbahnfahren hat in der DDR 20 Pfennig gekostet. Wissen Sie, was mir heute fehlt: dass Dinge billig sind. In der Kaffeestube im Justizgebäude der DDR fragte ich früher in die Runde: Wer will einen Kaffee? Es meldeten sich fünf. Da habe ich mir doch das Geld nicht ernsthaft wiedergeben lassen! Heute kostet ein Kaffee drei Euro. Da musst du schon ein bisschen befreundet sein. So verschwinden kleine Gesten, die am Ende ein Beziehungsgefüge ausmachen.
GABRIELE GYSI: Das hätte man vorher auch schon mal wissen können, was so eine Metrofahrt kostet.
GREGOR GYSI: Klar, aber wenn man es selbst erlebt, ist es etwas anderes. Ich stehe logischerweise auch kritisch zur DDR. Aber meine Schwester und ich stehen auch nicht unkritisch zur Bundesrepublik.

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Frau Gysi, Sie haben mal gesagt, dass Sie den Westen provinzieller finden als die DDR.
GABRIELE GYSI: Das war bei „Beckmann“. Was ich damit meinte: Jeder DDR-Bürger war sich dank der Mauer bewusst, dass seine Lebenserfahrung nicht die Welt ist. Jeder bundesdeutsche Bürger meint, nur weil er schon mal sonstwohin gefahren ist, ist seine Erfahrung der Welthorizont. Und das genau macht Provinzialität aus: Wenn du meinst, die Welt in deinem Erfahrungshorizont aufheben zu können. Für das Leben im Osten gab es nach der Wende nur drei Kategorien: Opfer, Mitläufer, Täter. Damals fühlte ich mich zur DDR-Bürgerin zurückmutiert, weil ich angefangen habe, das Leben in der DDR als differenzierten Prozess zu schildern.

Gerade die Bewertung Ihrer Familie änderte sich nach der Wende: Ihr Vater galt zu DDR-Zeiten als der Weltgewandteste an der SED-Spitze. Im wiedervereinten Deutschland wurde er scharf angegangen, weil er Repräsentant des Staates war.
GABRIELE GYSI: Man kann die Lebensleistung meiner Eltern nicht aus dem Karrierebewusstsein eines heutigen Mittdreißigers beurteilen. Es gab eine Kriminalisierung rund um meinen Vater und Gregor, die auf uns alle abgefärbt hat. Der „Spiegel“ machte damals einen Titel über Gregor: „Der Drahtzieher“, geschrieben in gelber Schrift. Die Assoziation an den gelben Stern für Juden in der Nazi-Zeit war deutlich. Ich war als Schauspielerin und Regisseurin gerade auf dem aufsteigenden Ast. „Theater heute“ hatte an eine Schauspielerin aus meiner Inszenierung den Darstellerpreis vergeben. Ich war eingeladen zu den Nordrhein-Westfälischen Theatertagen. Mit Gregors Erscheinen auf der Bildfläche war Schluss. Ich habe drei Jahre gar keine Arbeit bekommen. Dann kam ein Angebot aus Bielefeld für eine Oper, die „Die Marx Sisters“ hieß. Es ging um drei Schwestern von Marx, der als ewig Pubertierender dargestellt wurde. Was für ein Schwachsinn. Erst drei Jahre später ging es langsam wieder los, erstmal semiprofessionell in Münster in einem alternativen Theater.
GREGOR GYSI: Nach dem „Spiegel“-Titel haben vier Bundestagsabgeordnete der Grünen protestiert: So etwas antisemitisches hätten sie selten gelesen. Damals habe ich zum ersten Mal meine preußische Sturheit kennen gelernt. Ich habe später einem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU gesagt: Wenn Sie von Anfang an netter zu mir gewesen wären, wäre ich schon lange weg. Aber so konnte ich nicht. In der „Tagesschau“ kam ich nur im Zusammenhang von negativer Berichterstattung vor. Keine Sau interessierte sich damals für meine steuerpolitischen Vorstellungen. Deshalb bin ich in Talkshows gegangen, um eine Akzeptanz zu erreichen. Dadurch hatte ich die Chance, das Bild nach und nach zu korrigieren.
GABRIELE GYSI: Ich finde, jetzt lieben die dich fast zu sehr.

Herr Gysi, Sie haben vor ein paar Jahren in einem Interview offenbart, dass Sie sich einsam fühlen. Konnte Ihnen Ihre Schwester nicht Gesellschaft leisten?
GREGOR GYSI: Damals stimmte das, dass ich einsam war. Jetzt ist es nicht mehr der Fall. Ich hatte ja keine Zeit, mich mit meiner Schwester zu treffen. Auch meine Söhne sah ich zu selten. Aber ich wusste, dass sie da sind. Das hat schon geholfen. Das Problem ist, dass man sich in der Politik zu wichtig nimmt. Eins habe ich aber gelernt: Ich bin ja ein Linker und denke immer, Prozesse sind wichtiger als einzelne Personen. Aber das stimmt nicht immer.

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Frau Gysi, Ihr Bruder hat sich nach seinem Rücktritt als Fraktionsvorsitzender der Linkspartei öffentlich dafür entschuldigt, seine privaten Kontakte vernachlässigt zu haben. Hat er sich auch bei Ihnen entschuldigt?
GABRIELE GYSI: Nee, das hatte er ja schon der Welt mitgeteilt.

Fühlten Sie sich von ihm vernachlässigt?
GABRIELE GYSI: Nein, warum und mit welchem Recht? Ich kann dazu nichts sagen. Ich mag das nicht, wenn Schily beispielsweise in die Kamera weint. Ich finde, dass es Politikern nicht zusteht, ihre persönlichen Gefühle darzustellen. Es ist eine Berufskrankheit von mir, dass ich dann denke: Was wird hier gespielt? Wer inszeniert? Die Politiker werden immer mehr Darsteller, und die Medien als Gruppe schieben sie dahin, wo sie sie haben wollen. Ich möchte von Politikern nicht wissen, was sie fühlen, sondern was sie wissen und nicht wissen – worauf sie ihre Entscheidungen gründen. Es gibt heute eine zu große Diskrepanz zwischen dem, was gesagt und vorgefühlt wird, und dem, was tatsächlich passiert.

Frau Gysi, Sie sind in Ihr Elternhaus nach Johannisthal zurückgezogen. Kommen da viele Erinnerung an die Kindheit wieder hoch?
GABRIELE GYSI: Nein. Wir haben es renovieren müssen. Das wäre nicht gegangen: Ich ziehe zurück in meine Biografie, und Harald, mein Mann, ist zu Gast. Das ist mittlerweile ein ganz anderes Haus geworden.
GREGOR GYSI: So, jetzt muss ich aber weg zu meinem Abendessen.
GABRIELE GYSI: Pass auf dich auf!

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