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Überlebende des Bebens von 1999 sitzen vor zerstörten Gebäuden in Gölcük.

© Kai Pfaffenbach/Reuters

Zwanzig Jahre nach Gölcük: Wenn die Erde zittert

Im Jahr 1999 tötete ein Beben in der Türkei 17.000 Menschen – jetzt droht erneut eine Katastrophe.

Palmen säumen die Uferpromenade von Gölcük, auf dem Wasser schaukeln bunte Ruderboote in der Brise. Auf dem Spielplatz toben Kinder am Ufer, die wegen ihres Meerblicks auf den Golf von Izmit begehrt sind. In einem solchen Haus starb vor 20 Jahren sein Bruder mit Frau und Kindern, erzählt der Tabakhändler Osman Özkan: Der Wohnblock stürzte beim Erdbeben ein und wurde vom Meer verschluckt. Neun Tage dauerte es, bis Hilfstrupps mit Baggern die Trümmer so weit abgeräumt hatten, dass Özkan die Leichen seiner Angehörigen aus dem Wasser ziehen und bestatten konnte.

In den frühen Morgenstunden des 17. August 1999 schwankte im ganzen Nordwesten der Türkei die Erde. Das Epizentrum des Bebens der Stärke 7,4 lag etwas außerhalb von Gölcük. Innerhalb weniger Minuten starben mehr als 17.000 Menschen. Fast 300.000 Häuser wurden beschädigt oder zerstört, eine halbe Million Menschen obdachlos. Zwanzig Jahre später warnen Experten vor der Gefahr eines neuen Bebens – diesmal könnte es auch die 15-Millionen-Stadt Istanbul treffen.

Fahis Duran erlebte die Katastrophe von Gölcük auf dem Balkon seines Hauses in der Oberstadt mit. Wegen der August-Hitze saß der Rentner in der Unglücksnacht um drei Uhr morgens noch draußen. An den gewaltigen Krach erinnert er sich, mit dem die Dachziegel auf den Dächern tanzten und klapperten. An die Staubwolken, die ringsum aufstiegen und die Stadt einhüllten – stundenlang konnte man nichts sehen. Und an die Hilflosigkeit angesichts der Katastrophe – ohne Strom, ohne Telefonverbindung, ohne Verbindung zur Außenwelt.Nach dem Unglück packte Duran seine Sachen, verließ Gölcük und kam jahrelang nicht wieder.

Der erste Rettungstrupp kam aus Israel

Mit 72 Jahren sitzt er heute auf einem Platz in der Stadtmitte und zeigt, welche Gebäude das Beben überlebten und welche seither neu gebaut wurden. „Da hinten stand damals ein nagelneues Gebäude“, sagt er und zeigt auf eine Stelle am Rand des Platzes. „Es sackte in sich zusammen - platt wie eine Flunder.“ Den ersten Rettungstrupp sah Duran erst Tage später; er kam aus Israel.

Private Rettungsteams aus der Türkei und der ganzen Welt rückten damals in Gölcük an, während die Hilfe des türkischen Staates zunächst völlig versagte. Die Rettungsmannschaften zogen Verletzte und Tote aus den Haustrümmern und arbeiteten unter Lebensgefahr, denn die Gegend wurde noch lange von teils schweren Nachbeben erschüttert.

Gölcük liegt an der sogenannten Nordanatolischen Verwerfungslinie, an der sich die nach Westen strebende Anatolische Platte an der Eurasischen Platte reibt. Immer wenn sich an dieser Trennlinie genügend Druck aufbaut, bebt die Erde – doch trotz moderner Messmethoden kann die Wissenschaft nicht voraussagen, wo und wann es so weit sein wird. Dass es an der Linie weiter krachen wird, ist dagegen sicher.

Tabakhändler Özkan in Gölcük fürchtet sich nicht vor einem neuen Beben. Er habe 1999 schon alles verloren, sagt er: 29 seiner Verwandten starben in jener Nacht. Anderen stehe das noch bevor, meint der 52-Jährige mit Blick auf die dichte Uferbebauung: Eine schöne Aussicht sei vielen Menschen offenbar wichtiger als Sicherheit.

Viele Bewohner von Gölcük verdrängen die Gefahr – so wie der 80-jährige Yunus Usta, der in der Spätsommersonne an seinem Boot herumpusselt. Der Rentner wohnte schon 1999 am Ufer und hatte Glück: Sein Haus hielt dem Erdstoß stand, während links und rechts von ihm Bauten einstürzten und ins Meer rutschten. Nur sein Sohn wurde am Rücken verletzt, als er sich über sein 15 Tage altes Baby warf, um es zu schützen.

„Jetzt ist Istanbul an der Reihe“

Anderen erging es schlechter, erinnert sich Usta: den Angestellten eines Nachtclubs am Ufer, den Gästen eines nahen Hotels und vielen Nachbarn – sie starben in den Trümmern. Dennoch fürchtet Usta kein neues Erdbeben. „Bei dem 99er Beben hat sich die Spannung in der Erde hier gelöst, deswegen passiert hier die nächsten hundert Jahre nichts mehr“, sagt der Rentner – eine Theorie, die in Gölcük öfter zu hören ist. „Jetzt ist Istanbul an der Reihe“, sagt er und weist in die Ferne.

Dass Gölcük jetzt sicher ist, kann Haluk Özener nicht bestätigen – dass Istanbul in Gefahr ist, dagegen schon. Der Leiter des Erdbeben-Forschungszentrums Kandilli der Istanbuler Bosporus-Universität überwacht mit seinem Team die Nordatlantische Verwerfungslinie, eine ihrer Verästelungen streckt sich unter dem Marmarameer in Richtung Istanbul. Die Daten sprechen eine eindeutige Sprache, wie Özener der Zeitung „Hürriyet“ sagte. „Es gibt Bewegung, es gibt die Erdbeben der Vergangenheit, es gibt Energie, die sich aufbaut – und die irgendwann rauskommt.“

Österreichische Hilfskräfte suchen nach Überlebenden nach dem Erdbeben in Gölcuk.
Österreichische Hilfskräfte suchen nach Überlebenden nach dem Erdbeben in Gölcuk.

© Kai Pfaffenbach/REUTERS

Vielleicht in Gölcük. Vielleicht in Istanbul. „Ich hoffe, das Beben wartet, bis wir bereit sind“, sagte Özener. Bisher ist das nicht der Fall. Das türkische Katastrophenamt AFAD schätzt, dass ein schweres Beben südlich von Istanbul rund 30.000 Menschen in der Stadt töten und 150.000 weitere obdachlos machen würde. Je nach Stärke und Ort des Bebens könnte zudem ein Tsunami die Uferbereiche von Istanbul am Marmarameer und am Bosporus überfluten. Dennoch tut die Stadt so, als gäbe es keine Gefahr. Straßen, die als Rettungswege für Feuerwehr und Krankenwagen gekennzeichnet sind und in denen deshalb ein Parkverbot gilt, sind häufig wegen der vielen abgestellten Autos kaum passierbar.

Der wichtigste Grund für das Katastrophenszenario ist jedoch der weit verbreitete Pfusch am Bau in der Metropole. Die Istanbuler Bauingenieurskammer hat errechnet, dass zwei von drei Bewohnern Istanbuls in einem Gebäude wohnen, das nicht den Vorschriften entspricht. Nach Angaben des ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yildirim müssten bis zu 50.000 Gebäude dringend erdbebenfest gemacht werden. Manche Wohnblöcke sind so gefährlich, dass sie auch ohne Erdbeben zu Todesfallen werden. Im Februar stürzte im Stadtteil Kartal im asiatischen Teil der Riesenstadt ohne Vorwarnung ein achtstöckiges Apartmenthaus in sich zusammen – 21 Menschen starben.

„Dann werden sich die Toten glücklich schätzen“

Wie hinterher herauskam, hatten die Eigentümer illegal drei zusätzliche Stockwerke auf das Haus gesetzt. Der Staat segnete die fatale Erweiterungen dieser Art im Rahmen einer Amnestie ab, bei der sich Bausünder bis Juni von Strafen freikaufen können. Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte nach dem Hauseinsturz von Kartal, der Gedanke an ein schweres Erdbeben in Istanbul mache ihm Angst. Geändert hat sich seitdem aber nichts.

Schwierig dürften in Istanbul nicht nur die Rettungsarbeiten nach einem Erdbeben werden. Auch auf die Frage, wie eine Stadt von 15 Millionen Menschen in den Tagen und Wochen nach einem Unglück versorgt werden soll, gibt es keine überzeugenden Antworten. Das Katastrophenschutzamt AFAD rät den Istanbulern, stets Nahrungsmittelvorräte für 72 Stunden im Haus zu haben. Außerdem sollte jeder Haushalt einen sogenannten Erdbebenkoffer mit Wasser, Konserven, Decken und einem Erste-Hilfe-Kasten bereit stehen haben.

Viele bezweifeln, dass dies viel helfen wird. Ein Erdbeben könne jederzeit über Istanbul hereinbrechen, schrieb der Kolumnist Candas Tolga Isik von der Zeitung „Posta“ kürzlich. „Und was dann?“ fragte er. „Dann werden sich die Toten glücklich schätzen.“

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