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Überlebende der Schießerei von Parkland: Emma Gonzalez (von links), David Hogg, Cameron Kasky and Alex Wind.

© Steven Senne/dpa

USA: Schüler gehen gegen Waffengewalt auf die Straße

An diesem Sonnabend demonstrieren Schüler aus allen Teilen der USA in Washington gegen Gewalt an Schulen. Es ist auch ein Protest gegen die Waffenlobby.

Sie sind noch Teenager und dürfen zum Teil noch nicht einmal wählen. Und doch lehren sechs Schüler aus dem unscheinbaren 24.000-Einwohner-Städtchen Parkland im Südosten Floridas gestandene Politiker allmählich das Fürchten. Sie bringen Hunderttausende auf die Straßen der USA. Ihr Schicksal und das daraus geborene Anliegen bewegen viele Herzen in Amerika. Sie sind Überlebende der Schießerei an der Marjory Stoneman Douglas High School mit 17 Toten am 14. Februar. Sie sagen: Man darf die Schulmassaker nicht hinnehmen. Es muss sich etwas ändern am Waffenrecht. Am heutigen Samstag wollen sie eine Million Amerikaner dazu bringen, gegen Waffengewalt zu protestieren: 500.000 in der Hauptstadt Washington und nochmal 500.000 auf parallelen Demonstrationen quer durch die USA.

Nun wissen sie, wie man mediengerechte Botschaften formuliert

Mit ihren 16, 17, 18 Jahren stehen die Sechs aus Parkland plötzlich im Rampenlicht. Alle paar Tage werden sie von Fernsehsendern interviewt. Am Dienstag waren sie Podiumsgäste bei einer Debatte an der Harvard-Universität. Das große öffentliche Interesse hat sie in wenigen Wochen gelehrt, mediengerechte Botschaften zu formulieren. Ryan Deitsch, ein hochaufgeschossener Schlaks mit wuscheligem leuchtend rotem Haar, appelliert in Harvard an Waffenfreunde: „Ihr könnt anderer Meinung sein, ob man Schnellfeuerwaffen verbieten soll oder welche Maßnahmen eher helfen. Unter dem Strich zählt nur eins: Menschen sterben, und wir wollen das beenden.“

Emma Gonzales, eine klein gewachsene Latina mit Igelfrisur, ruft gleichaltrige Schüler zum Mitmachen auf: „Wir dürfen uns nicht mit der Haltung abfinden, dass wir eh nichts ändern können.“

David Hogg, rote Krawatte, ordentlicher Scheitel, erklärt kühl die Strategie: „Wir haben zu lange geschwiegen. Jetzt müssen die Wähler ihren Abgeordneten sagen, was sie von ihnen erwarten. Und wenn die nicht folgen, dann fordern wir dazu auf, sie abzuwählen. Ruft morgen euren Congressman an!“

Eine Stunde musste er sich mit seinem kleinen Bruder verstecken

Cameron Kasky, silbergraues Hemd mit der orangen Ansteck-Schleife, dem Symbol der Bewegung gegen Waffengewalt, sagt selbstbewusst in die CNN-Kamera: „Wir werden die letzte Gruppe von Schülern sein, die für tote Kinder eintreten müssen, die sinnloser Waffengewalt zum Opfer fallen.“

Kasky hatte damals im Februar gerade das Treffen der Theater AG der High School beendet und holte seinen kleinen Bruder in einem anderen Klassenzimmer ab, als die ersten Schüsse fielen und die Alarmsirene losheulte. Sie wollten raus aus dem Gebäude, wurden aber von Betreuern in ein Klassenzimmer gelotst, wo sie sich verbarrikadierten. Das sei in der unklaren Situation sicherer, als durch die Schulflure zu flüchten. Nach einer Stunde, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, wurden sie befreit.

Kaum zu Hause, rief Kasky mehrere Mitschüler an: Emma Gonzales, David Hogg, Alex Wind, Ryan und Matt Deitsch. Sie organisierten eine Mahnwache mit Kerzen für die 17 Toten. Und sie gründeten „Never Again MSD“.  MSD steht für den Namen der High School: Marjory Stoneman Douglas. Die Namenspatronin ist ein Vorbild für politisches Engagement. Sie kämpfte für das Frauenwahlrecht und drängte darauf, die Everglades unter Naturschutz zu stellen. 1998 ist sie im Alter von 108 Jahren gestorben.

Bisher siegte immer die Waffenlobby

In dieser Tradition legen sich die Überlebenden von Parkland mit der mächtigen Waffenlobby an, der National Rifle Association. Kann das gut gehen? Die NRA verbucht einen Milliardenumsatz und hat mit einem ausgeklügelten System der Wahlkampfunterstützung bisher fast immer die nötigen Mehrheiten im Repräsentantenhaus und Senat für ihre Gesetzgebungswünsche mobilisieren können. Generell haben die USA schon manche gesellschaftliche Bewegung, die hoffnungsvoll gestartet war, scheitern sehen. 2011 zum Beispiel das zunächst hoch gejubelte Aktionsbündnis „Occupy Wall Street“. Unter dem Eindruck der Folgen der Finanzkrise wollte es für 99 Prozent sprechen, konnte aber nicht einmal ein Promille der Bürger zu dauerhaftem Protest animieren.

Die National Mall ist bereits vergeben - an Strohmänner?

Auch die neue Protestbewegung der Schüler gegen Waffengewalt muss Enttäuschungen und Rückschläge verdauen. Mit dem ursprünglichen Plan für den „Marsch für unsere Leben“ zur National Mall im Herzen der Hauptstadt Washington hat es nicht geklappt. Die erwarteten 500.000 Teilnehmer dürfen nicht an den symbolischen Ort, der Schauplatz der großen Antikriegsdemonstrationen war. Auch der „One Million Man March“ des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King hatte die langgestreckte Grünfläche zwischen Capitol und Lincoln Memorial zum Ziel.

Doch diesmal war die nicht näher bekannte Kunstgruppe einer Schule schneller und hat die Nutzung der Mall für sich beantragt. Wer die Antragsteller sind und von welcher Schule, sagt Mike Litterst, der Sprecher des National Park Service, der für die Mall zuständig ist, nicht - aus Datenschutzgründen. Beim Park Service gelte das Prinzip „First come, first serve“. Nur so viel gibt er preis: Der Antrag der Kunstgruppe nennt „Filmen einer Talentshow“ als Zweck. Es gehe um Wettspiele mit „Seilhüpfen, zwei Fahrrädern und zwei Tischen“; das Filmprojekt werde den ganzen Tag dauern. Da bleiben Spekulationen nicht aus, ob diese Kunstgruppe womöglich nur Strohmänner von Interessen sind, die den öffentlichkeitswirksamen Protest der Waffengegner auf der Mall verhindern wollen.

Resonanz auf den Marsch gibt es aus allen Teilen des Landes

Nun weichen die Organisatoren des „March for Our Lives“ auf die Pennsylvania Avenue aus, die vom Capitol zum Weißen Haus führt. Sie beschränken sich jedoch auf den Abschnitt zwischen 3rd und 12th Street NW, um sicher zu gehen, dass nicht noch jemand dazwischen funkt. Für das Demonstrationsrecht in diesem Abschnitt ist die Stadtregierung von Washington zuständig, und die wird von den Demokraten kontrolliert. Näher am Weißen Haus könnten der Secret Service oder die Trump-Regierung versuchen, Einfluss zu nehmen.

Auch wenn es mit der National Mall nicht geklappt hat: Die Schüler aus Parkland haben offensichtlich einen Nerv getroffen. In den gut fünf Wochen seit dem Massaker an ihrer Schule haben sie große Resonanz quer durch die USA gefunden. Dem Aufruf zu einem „Walkout“ aus den Klassenräumen am 14. März, exakt einen Monat nach der Schießerei in Florida, folgten Hunderttausende Schüler.  In vielen Bundesstaaten haben sich Ableger der Initiative gebildet.

In Florida wurde das Alter für den Waffenkauf heraufgesetzt

In ihrem Heimatstaat Florida, der wegen seines laxen Waffenrechts als „Gunshine State“ verspottet wurde, haben sie einen Gesetzgebungssieg über die NRA erzielt, obwohl die Republikaner den Gouverneur stellen und die Mehrheit im Parlament haben. Unter dem Eindruck der Protestbewegung nach dem Massaker setzen die Abgeordneten das Alter für den Waffenkauf von 18 auf 21 Jahre heraus. Wer legal eine Waffe kauft, muss drei Tage warten, bis er sie erhält. Und so genannte „Bump Stocks“, die aus halbautomatischen Waffen schnell feuernde Waffen machen, werden verboten. Alles Maßnahmen, die die NRA bisher verhindert hatte. Es war die erste Einschränkung des Waffenrechts in Florida seit 20 Jahren.

Cameron Kasky stellte zudem Senator Marco Rubio öffentlich zur Rede: Warum akzeptiere er Wahlkampfspenden von der NRA, fragte der 17-jährige Überlebende des Parkland-Massakers den republikanischen Präsidentschaftskandidaten von 2016. Das Beispiel macht Schule. Vielerorts fordern Schüler nun von Volksvertretern, sie sollen kein Geld mehr von der Waffenlobby nehmen.

Eine Initiative sucht Übernachtungsmöglichkeiten

Die Energie der Schüler aus Parkland und ihre ersten Erfolge wirken ansteckend. Manche helfen mit Geld, ganz viele mit der Organisationskraft der für Amerika so typischen Graswurzelbewegungen.  Stars wie George Clooney, Oprah Winfrey, Steven Spielberg und Ellen DeGeneres haben zusammen mehrere Hunderttausend Dollar für die Bewegung gespendet. In Washington war Elizabeth Andrews, Mutter eines Grundschülers, so gerührt von der Initiative der Parkland-Schüler, dass sie über Twitter freie Betten für Teilnehmer des „March for Our Lives“ anbot. „Wo sollen die sonst übernachten? Wer unter 18 ist, kann kein Hotelzimmer buchen.“ Andrews hatte bis dahin nur 30 Follower. Ihr Angebot wurde in den ersten Tagen 1400 Mal geteilt. Nun hat sie sich mit anderen Müttern zusammen getan, die über Kirchen, Synagogen und Schulen minderjährige Demonstrationsteilnehmer in Familien vermitteln.

Familien, die vor Jahren betroffen waren, schöpfen neuen Mut

An vielen Orten der USA organisieren Schüler mit Hilfe ihrer Eltern Busse für eine Sternfahrt zum „March for Our Lives“ in Washington, zum Beispiel die 16-jährige Arielle Geismar von der Beacon School in Manhattan. „Wir haben uns daran gewöhnt, dass man unsere Generation als Social-Media-Kids abtut, die immer nur an ihren Smartphones hängen. In diesem Fall haben die Netzwerke geholfen und aus einem lokalen Ereignis eine nationale Bewegung gemacht.“

Familien, die Opfer früherer Schulschießereien wurden und die Hoffnung schon fast aufgegeben haben, dass man Amerikas Waffenrecht ändern kann, schöpfen wieder Mut.  Mehr als fünf Jahre ist es her, dass ein psychisch kranker 20-Jähriger 20 Erstklässler an der Sandy-Hook-Grundschule in Newtown, Connecticut, erschoss. „Wir werden am Wochenende für unsere toten Kinder marschieren“, sagen Mark Barden und Nicole Hockley, Eltern der damals erschossenen Erstklässler Daniel und Dylan. „Wir haben uns geschworen, dass wir alles tun werden, damit sich das nie wiederholt. Wir haben Erfolge erzielt, aber es hat sich nicht genug verändert. Am Tag des Massakers in Florida sind wir verzweifelt auf die Knie gesunken, weil wir wieder die alten Ausreden hörten. Jetzt sei nicht der Zeitpunkt, über das Waffenrecht zu reden. Jetzt solle man erstmal für die Opfer beten.“ Barden und Hockley setzen darauf, dass es diesmal anders endet, „weil die Schüler den Kampf in die eigenen Hände nehmen“.

Die nächste Aktion ist am 20. April geplant

Schon planen Schulen für das nächste Großereignis, damit der öffentliche Druck nicht nachlässt. Am 20. April ist der 19. Jahrestag des ersten großen Schulmassakers, das die USA national erschütterte. An der High School von Columbine, Colorado, erschossen ein 17- und ein 18-jährigen Schüler 1999 zwölf Mitschüler im Alter zwischen 14 und 18 Jahren und einen Lehrer, verwundeten 24 weitere Menschen und töteten sich am Ende selbst.

Mehr als hundert Schulen werden sich dem Walkout am 20. April anschließen. Und auch hier sind es meist Teenager, die die Initiative ergreifen. Die 17-jährigen Kari Gottfried aus Corvallis, Oregon, klagt: „Ich war da noch nicht mal geboren und kenne nur eine Welt, in der man Angst um sein Leben hat, wenn man in die Schule geht.“ Eine Schiesserei ist wahrscheinlicher als ein Feuer in der Schule. Das sei doch unerträglich.

Erstmals ist eine Protestbewegung auf Dauer angelegt

„Wir sind mit Waffengewalt in den Schulen aufgewachsen“, meint die 18-jährige Fiorina Talaba aus Carson, Kalifornien. „Aber gerade deshalb verlangen wir, dass sich etwas ändert.“ Das ist auch die Motivation von Lane Murdock, einer 17-Jährigen in Connecticut, sich dem Walkout am 20. April anzuschließen. „Das Massaker in Florida, ausgerechnet am Valentine’s Day, hat einen Ruck in mir ausgelöst.“

Zum ersten Mal seit Jahren scheint sich eine landesweite Protestbewegung zu bilden, die nicht nur von der ersten Gefühlswelle lebt, sondern strategisch und auf Dauer angelegt ist. Alle zwei Monate gab es im Schnitt der letzten Jahre eine Massenschießerei in den USA. Fast scheint es, als habe sich eine Routine der Trauer und Empörung entwickelt, die einige Wochen anhält und dann wieder abebbt. Ist das diesmal anders?

Neue Schießereien könnten paradoxerweise helfen

Auch die NRA ist strategisch aufgestellt und auf einen mehrjährigen Kampf vorbereitet. Präsident Donald Trump kündigte kurz nach dem Massaker in Florida ein Umdenken an und brüstete sich damit, er habe keine Angst vor der NRA. Er trete dafür ein, das Alter für Waffenkäufer USA-weit auf 21 Jahre zu erhöhen, die Backgroundchecks zu verschärfen und den Zugriff auf schnellfeuernde Waffen zu erschweren. Wenige Tage später traf er Vertreter der NRA - und ruderte zurück.

Sogar neue Schulschießereien können paradoxerweise der Waffenlobby helfen. Am Dienstag hatte ein 17-Jähriger im ländlichen Südosten Marylands eine Waffe mit in die Schule gebracht und – vermutlich aus Liebeskummer – auf ein 16-jähriges Mädchen geschossen. Ein für solche Situationen ausgebildeter Polizist war in der Nähe und stellte den Schützen im Foyer der Schule. Er forderte ihn auf die Waffe fallen zu lassen. Schließlich feuerten beide gleichzeitig; der Schüler wurde getroffen und starb später im Krankenhaus. Der 34-jährige Polizist Blaine Gaskill blieb unverletzt. Das schwer verletzte Mädchen wurde am Donnerstag für hirntot erklärt.

Die Waffenlobby bleibt bei ihren immergleichen Parolen

Nun preisen viele den Polizisten als Helden. Er habe Schlimmeres verhindert. Der republikanische Gouverneur Larry Hogan verspricht, mehr Geld für den aktiven Schutz von Schulen zu bewilligen. Sheriff Timothy Cameron lobt, Gaskill habe durch sein beherztes Eingreifen vermutlich viele Menschenleben gerettet. Die NRA erinnert daran, dass sie schon immer gesagt habe, jede Schule solle einen gut ausgebildeten Bewacher haben. Waffenfreunde posten den Wahlspruch, mit dem die NRA auf jede Schießerei reagiert, in den sozialen Netzwerken: Die einzig sinnvolle Antwort auf einen „Bad Guy with a Gun“ sei ein „Good Guy with a Gun“ – mit anderen Worten: mehr Waffen.

Das Neue: Der Protest wird erstmals von den Schülern betragen. Doch selbst wenn an diesem Samstag die erwarteten eine Million Amerikaner gegen Waffengewalt protestieren, müssen die Schüler von Parkland und ihre Verbündeten wohl noch mit manchem Rückschlag rechnen.

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