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Das Ergebnis des DNA-Tests wird verkündet: „Wer ist der Vater des 9-monatigen Babys? Ist es Ehemann Ferdi? Oder ist es Nachbar Cengiz?“

© /Güsten

„Und der Vater ist ...!“: Türkische TV-Show deckt Missbrauch und Inzest auf

Schwanger vom Onkel oder vergewaltigt vom Bruder: „Bei Esra Erol“ kommt täglich Brisantes ans Licht. Das gefällt nicht jedem in der Türkei.

Wenn Moderatorin Esra Erol den Vaterschaftstest auspackt, dann greifen die Zuschauer zum Taschentuch. Auf der Bühne halten die Gäste der TV-Show des regierungsnahen Senders ATV den Atem an, während Erol den Umschlag aufreißt, um das Labor-Ergebnis zu verkünden: „Und der Vater ist …!“

Minutenlang hält die Kamera in Nahaufnahme auf den weinenden Menschen, dessen Welt zusammenbricht; anschließend kaut ein Panel von Moralaposteln den Fall noch einmal durch.

Im Nachmittagsprogramm wird so täglich die schmutzige Wäsche anatolischer Familien ausgebreitet: Wer hat wen betrogen, wer hat welches Kind gezeugt? So oft stellt sich dabei ein Blutsverwandter der Mutter als leiblicher Vater heraus, dass der Oppositionsvertreter in der türkischen Rundfunkaufsicht dem Sender vorwarf, Inzest und Kindesmissbrauch legitimieren zu wollen.

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Im Gegenteil, konterte die Moderatorin: Sie lüfte mit ihrer Sendung nur den Teppich, unter den die türkische Gesellschaft ihr massives Missbrauchsproblem gekehrt habe.

Seit Jahren so beliebt wie unbehelligt, bekam „Bei Esra Erol“ jetzt erstmals Ärger mit der Rundfunkaufsicht. Nicht etwa wegen einer der Vergewaltigungen oder Kindesmissbräuche, um die es bei der Show geht, schritt die Behörde ein, sondern wegen des Jubels einer jungen Frau.

Gegen die Sendung hagelt es Beschwerden

„Gott sei Dank!“, jubelte die Frau auf offener Bühne, als die Showmasterin enthüllte, dass ihr Baby nicht von ihrem entfremdeten Ehemann gezeugt wurde, sondern von ihrem neuen Freund.

Der Sender bekam wegen Unsittlichkeit eine Geldstrafe verpasst, der Freund wurde von empörten Zuschauern auf der Straße zusammengeschlagen und die junge Mutter wurde in ein Frauenhaus gesteckt, wo sie an Covid-19 erkrankte; die Staatsanwaltschaft leitete zudem ein Strafverfahren wegen „Verschleierung der Vaterschaft“ ihres Kindes gegen sie ein.

Moderatorin Esra Erol.
Moderatorin Esra Erol.

© /Güsten

Proteste gegen die Sendung hagelte es in den sozialen Medien und bei der Beschwerde-Hotline der Rundfunkaufsicht. Die Moderatorin begegnete den Vorwürfen frontal in ihrer Sendung. „Wo blieben denn die Proteste in den sozialen Medien, als wir letzte Woche den furchtbaren Missbrauch eines 15-jährigen Mädchens aufgedeckt haben?“, fragte sie in die Kamera. „Die Probleme, vor denen wir unsere Augen verschließen, die wir verschweigen, die wir unter den Teppich kehren, die werden uns noch erdrücken. Lasst uns doch den Tatsachen ins Auge sehen und wahre Lösungen suchen.“

Expertin: Inzest kommt vermehrt in konservativen Gesellschaften vor

Was in der Sendung ans Tageslicht kommt, ist tatsächlich oft haarsträubend. So ergab der Vaterschaftstest bei einem jungen Mädchen einmal, dass es sich bei ihrem biologischen Vater um ihren leiblichen Onkel handelte. Die Mutter räumte in der Sendung ein, dass sie als Kind von ihrem Bruder vergewaltigt wurde – und fügte live hinzu, dass auch ihre Schwester ein Kind vom gemeinsamen Bruder bekommen habe. „Wir waren nicht aufgeklärt und wussten nicht, was Vergewaltigung ist“, berichtete die Mutter. „Er hat uns betäubt und sich an uns vergangen.“ Die Schwester sei zur Polizei gegangen, doch die habe den Fall nicht verfolgt.

Der Fall war keine Ausnahme – weder in der Sendung noch in der türkischen Gesellschaft. Ein adoptierter Mann, der 2018 durch „Esra Erol“ seine biologische Mutter fand, musste erfahren, dass sie als Kind von ihrem Bruder vergewaltigt worden war. „Ich war 13 Jahre alt und konnte mich nicht schützen“, sagte die Mutter in einer Live-Schalte ins Studio. Ihre Eltern hätten das Neugeborene weggegeben, um die Vergewaltigung zu vertuschen.

Vertuscht und verdrängt wird nach Ansicht von Experten noch viel mehr, als bei „Esra Erol“ auch nur ansatzweise zum Vorschein kommt. Einen öffentlichen Aufschrei gab es in der Türkei, als eine Frauenvereinigung vor einigen Jahren eine Studie vorstellte, wonach inzestuöser Kindesmissbrauch in der Gesellschaft weitverbreitet sei – von 40 Prozent aller Familien war die Rede. Aber nicht gegen den Missbrauch richtete sich die Empörung, sondern gegen die Veröffentlichung.

Tabuthema in der Türkei

Das Thema sei ein Tabu in der Türkei, sagte die Psychologin Ezgi Soncu Büyükiscan von der Yeditepe-Universität der Internetzeitschrift „Jurnal“. Zwar komme Inzest überall vor, vermehrt aber in konservativen Gesellschaften wie der türkischen, wo Sexualität unterdrückt und tabuisiert werde. „Weil Jugendliche oder junge Männer keine sexuellen Beziehungen unterhalten können, wenden sie sich zur Befriedigung des Geschlechtstriebs an jüngere Angehörige.“

„Natürlich müssen wir die Familie schützen“, entgegnete Esra Erol der öffentlichen Kritik, wonach ihre Show die Moral der türkischen Gesellschaft untergrabe. „Aber das können wir nicht, indem wir die Augen davor verschließen, was in diesen Familien geschieht.“

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