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Ein durch die Explosion in Beirut zerstörtes Haus.

© REUTERS/Aziz Taher

Tag zwei nach der Explosion in Beirut: Sie leben noch, auch wenn vom Leben nicht viel übrig ist

Wie geht es weiter nach der Katastrophe? Viele Libanesen haben das Gefühl, die Ermittlungen selbst in die Hand nehmen zu müssen.

Mit Onkel und Eltern saß er auf dem Balkon, als plötzlich um ihn herum die Fassaden bebten. „So etwas habe ich noch nie erlebt, es war unglaublich“, sagt Chadi Khayata, direkter Augenzeuge dessen, was am Dienstagabend um kurz nach 18 Uhr in seiner Stadt geschah. Nur vier Kilometer vom Hafen entfernt liegt die Wohnung der Familie, die wie durch ein Wunder heil blieb.

Am Tag zwei nach dem Unglück sitzt Chadi vor dem Handy-Bildschirm in einem intakten Schlafzimmer, hat Kopfhörer auf, ringt um Worte. Seine Nachbarn hatten weniger Glück. Seit mehr als 48 Stunden sind sie wie tausende Libanesen damit beschäftigt, die Scherben ihrer Existenz aufzukehren.

Immerhin melden sich Chadis Freunde per Whatsapp. Sie leben noch, auch wenn vom Leben nicht viel übrig ist. Viele andere bleiben vermisst.

Zwei Tage nach der Tragödie besucht Emmanuel Macron das Katastrophengebiet. Chadi hofft auf ein Signal des französischen Präsidenten. Von den eigenen Politikern erwartet der 42-Jährige Ingenieur, der seit anderthalb Jahren arbeitslos ist, nicht mehr viel – das hat er mit dem Großteil seiner Landsleute gemeinsam. „Im Libanon ist immer jeder und niemand verantwortlich.“

Leila dagegen hat die Schuldigen schon ausgemacht. Gerade mit Blick auf 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut. „Sie sagen, dass es der Leiter der Zollbehörde war“, sagt die 32-jährige Deutschlibanesin über eine rauschende Telefonleitung, schickt dann per Whatsapp ein unterschriebenes Papier. Es datiert vom 25. Dezember 2014 und dokumentiert die Abwicklung des Verbleibs der Chemikalien im Hafen.

Die junge Mutter ist sich sicher, dass der Behördenleiter für das Unglück zur Rechenschaft gezogen werden muss. „In Fukushima hatten sie für den Super-Gau wenigstens einen Notfallplan.“

Leila aus Berlin wollte eigentlich einen ruhigen Urlaub

So wie Leila haben viele Libanesen das Gefühl, die Ermittlungen selbst in die Hand nehmen zu müssen. Das Misstrauen gegenüber dem Staat ist groß. Leila und ihre Familie leben eigentlich in Berlin, sie wollten ursprünglich in der Heimat einen ruhigen Sommer verbringen. Jetzt ist ihre Ferienwohnung, nur zwei Kilometer vom Hafen entfernt, ein Trümmerfeld. „Glücklicherweise waren wir zum Zeitpunkt des Unglücks in Sidon.“ 44 Kilometer weiter südlich. Wo man die Detonation noch laut und deutlich hörte.

Zum Besuch von Macron schreibt Leila: „Er ist der Einzige, der direkt mit den Menschen gesprochen hat.“ Wieder ein Seitenhieb. Leila erwartet nun einen zweiten Herbst 2019. Es werde erneut eine „Thawra“ geben – das arabische Wort für Revolution. „Es werden immer mehr Menschen auf die Straße gehen.“ Dorthin, wo jetzt viele leben müssen: Die Explosion hat zehntausende Libanesen auf einen Schlag obdachlos gemacht.

Iman Awadas Familie musste in den Süden flüchten, mit der 85-jährigen Großmutter. „Sie sind durch Blut und Trümmer gelaufen“, sagt die 26-Jährige, die sich ihrer Heimat so nah fühlt, obwohl sie im mehr als 3600 Kilometer entfernten Berlin am Apparat sitzt. Tanten, Onkel, Oma, Freunde – alle sind noch in Beirut. Zunächst konnte sie keinen erreichen.

Awad ist Sprecherin der „Deutsch-Libanesischen Freundschaftsbrücke“. Der Berliner Verein sammelt nun Spenden. „Ich hoffe, dass viele mitmachen. Uns fehlt es an allem.“ Medikamente, Nahrungsmittel, Spielzeug, psychologische Betreuung - die Liste ist so endlos wie das libanesische Leid.

Fatima Abbas

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