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Die Demographie eröffnet den Demokraten in Georgia eine Chance: Wahlkundgebung für die Senatskandidaten Jon Ossoff and Raphael Warnock.

© Jim Watson/AFP

Stichwahl um Senatssitze im US-Südstaat: Bidens Schicksal hängt an Georgia

Normalerweise ist eine starke Opposition das Ideal in einer Demokratie. Warum das für die USA und speziell die Wahl heute in Georgia nicht gilt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die Senatswahl im US-Südstaat Georgia heute stellt Anhänger der parlamentarischen Demokratie vor ein Dilemma. Nach der Theorie der „Checks and Balances“ sollten sie sich wünschen, dass die Regierungspartei nicht alle Machtpositionen innehat und von einer starken Opposition kontrolliert wird.

Übersetzt auf die aktuelle Lage hieße das: Ein Sieg der Republikaner Kelly Loeffler und David Perdue in den beiden Stichwahlen in Georgia wäre wünschenswert. Die Demokraten haben bereits das Weiße Haus und die Mehrheit im Repräsentantenhaus in Washington sicher; für die parlamentarische Kontrolle der Regierung ist eine republikanische Mehrheit im Senat sinnvoll.

Aber passt die Systemtheorie auf die parteipolitische Praxis in den USA nach vier Jahren Donald Trump? Ein Gutteil der Republikaner möchte die ihnen in der Theorie zugedachte Rolle einer konstruktiven Opposition schließlich gar nicht ausfüllen. Sie wollen die erhoffte Kontrolle des Senats dazu nutzen, die Regierung Biden von Beginn an systematisch zu blockieren.

Soll man also doch besser den beiden Kandidaten der Demokraten in Georgia die Daumen drücken, Jon Ossoff und Raphael Warnock? Ein Doppelsieg würde Joe Bidens Partei einen hauchdünnen Vorteil in der zweiten Kongresskammer in Washington verschaffen: die gleiche Anzahl von Sitzen, den die Republikaner bereits ohne die beiden Georgia-Mandate sicher haben, 50 zu 50. Bei Stimmengleichheit im Senat gibt das Votum der Vizepräsidentin den Ausschlag. Das ist künftig die Demokratin Kamala Harris.

Wer wird die Mehrheit im Senat haben?

In deutschen Medien ist jetzt häufig zu lesen, Biden brauche den Doppelsieg, damit er „durchregieren“ könne. Aber stimmt das so? Und beschreibt dieses Wort nicht gerade den Zustand, den sich Anhänger der Demokratie gerade nicht wünschen sollten: das Fehlen von „Checks and Balances“?

In der amerikanischen Demokratie wirken einige Rädchen des Parlamentarismus etwas anders als in der deutschen. Alle Volksvertreter sind direkt gewählt; es gibt keine Absicherung über Parteilisten. Deshalb nehmen US-Parlamentarier auch viel weniger Rücksicht auf die Parteien, denen sie angehören. Sie richten sich nach den öffentlichen Meinungen in ihren Wahlkreisen – davon hängen ihre Wiederwahlchancen ab.

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Einen Fraktionszwang kennt der Alltag im US-Kongress nicht. Und ideologisch betrachtet steht ein Demokrat aus einem konservativen Staat oft weiter rechts im politischen Spektrum als ein Republikaner aus einem progressiven Staat. Im Senat ist die Loyalität zur Partei traditionell noch weniger ausgeprägt als im Abgeordnetenhaus.

In der Praxis ist also bei einem Doppelsieg der Demokraten im Georgia gar nicht zu erwarten, was die einen als Vorteil und die anderen als Nachteil vorhersagen: die Möglichkeit zum „Durchregieren“ zu Lasten der parlamentarischen Kontrolle der Regierung durch die Opposition.

Die Absicherung gegen gesetzgeberischen Übermut der Regierung würde sich quasi automatisch aus dem hauchdünnen Vorteil der Demokraten im Senat ergeben. Wenn auch nur eine Senatorin oder in Senator der Demokraten Bedenken gegen ein Regierungsprojekt hat – und die auf Blockade ausgerichteten Republikaner geschlossen dagegen stimmen -, fehlt der Regierung Biden die legislative Mehrheit.

Ehrgeizige Klimaziele und höhere Steuern sind unwahrscheinlich

Selbst bei einem Doppeltriumph der Demokraten in Georgia heute ist das Risiko beträchtlich, dass Biden zentrale Wahlversprechen nicht verwirklichen kann: ein ehrgeiziges Klimapaket oder Steuererhöhungen für Unternehmen und Besserverdienende. Angesichts der Aussichten beim umgekehrten Wahlausgang, der Blockade des Kongresses bei einem Erfolg der Republikaner in einer oder in beiden Stichwahlen, ist den USA ein Doppelsieg der Demokraten in Georgia heute zu wünschen – damit die Regierung Biden wenigstens eingeschränkt handlungsfähig wird und einen Teil der Schäden nach vier Jahren Trump beheben kann.

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Aber wie stehen die Chancen auf diesen Doppelsieg? Bis vor kurzem hätten die meisten Beobachter einen Erfolg der Demokraten in Georgia für ziemlich unwahrscheinlich gehalten. Aber dann kam die Präsidentschaftswahl 2020 und Joe Biden lag nach der Auszählung vor Trump – um 11.779 Stimmen, wie alle Welt durch den Mitschnitt von Trumps Telefonat mit Georgias republikanischem Innenminister Brad Raffensperger erinnert wurde.

Demografische Veränderungen und eine jahrelange Kampagne zur Mobilisierung demokratischer Wähler, angestoßen von der Afroamerikanerin Stacey Abrams haben die Überraschung möglich gemacht. Die Stimmen aus den konservativen Kleinstädten und Landgemeinden haben nicht mehr das Übergewicht über die Großstädte.

Wie dynamisch der soziale Wandel Georgia verändert hat, zeigt sich auch in den Persönlichkeiten der beiden demokratischen Kandidaten, die plötzlich Chancen haben: Jon Ossoff, ein 33 Jahre junger Dokumentarfilmer jüdischer Abstammung aus Atlanta, und der 51-jährige afroamerikanische Pastor Raphael Warnock, der in einem Armenviertel in Savannah aufwuchs und Leiter der legendären Ebenizer Baptist Church in Atlanta wurde, wo einst der Bürgerrechtler Martin Luther King predigte.

Ihr Sieg ist möglich, sicher ist er nicht. Vom Ausgang in Georgia heute hängen die Rahmenbedingungen ab, unter denen Joe Biden als 46. Präsident sein Amt antritt.

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