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Die Macht des Stundentakts ist in der Dienstleistungs- und Mediengesellschaft gebrochen.

© dpa

Sommerzeit: Die Welt schläft nicht mehr

Sommerzeit, in der vergangenen Nacht wurden die Uhren umgestellt. Aber gibt es die Zeit überhaupt noch, wenn alle Welt 24 Stunden geöffnet hat?

Wieder einmal ist eine Gewissheit außer Kraft gesetzt. Nämlich die, dass der Tag 24 Stunden hat. Am Sonntag, hat er nur 23. Wie jedes Jahr, wenn es Frühling wird. Seit 1980, als die Sommerzeit in Deutschland eingeführt wurde. Manche sprechen von einer gestohlenen Zeit.

Das ist natürlich Unfug, weil die gestohlene Stunde ja regelmäßig wieder zurückerstattet wird, wenn der Herbst kommt. Die Zeit ist also nicht verloren, sondern nur ausgeliehen, ein gutes halbes Jahr lang. Ausgeliehen für eine Stunde mehr Sonnenlicht am Tag.

Reisend setzen wir uns über Zeitzonen hinweg

Man kann etwas lernen daraus: Wenn sich die Zeit einfach verleihen lässt, dann heißt das auch, dass sie etwas ziemlich Relatives ist, vielleicht sogar etwas Unzuverlässiges und keineswegs die eherne, unverrückbare Gesetzmäßigkeit, die allem Leben den Takt vorgibt. Möglicherweise tickt sie gar nicht unerbittlich, Sekunde um Sekunde, sondern man kann mit ihr anstellen, was man gerade will. Kann Zeit gewinnen, wenn man sich reisend über Zeitzonen hinwegsetzt, und Zeit verlieren, wenn es in die entgegengesetzte Richtung geht. Aus heute kann gestern werden oder morgen, je nachdem. Flugzeuge sind Zeitmaschinen, und Zeit wird so zu etwas ziemlich Beliebigem. Stunden und Sekunden, Wochen und Monate sind bloße Vereinbarungen, von Menschen gemacht und von Menschen veränderbar.

Darum irrte Goethe, als er in seinem Gedicht „Prometheus“ die Zeit „allmächtig“ nannte, zur Beherrscherin der Menschen erhob und sogar der Götter. Unbestechliches, unveränderbares Maß aller Dinge.

In Wirklichkeit ist das anders. Man kann viel anstellen mit der Zeit. Kann sie vertreiben oder verschwenden, stehlen und sich nehmen, sie sparen, verschieben, verlieren oder versetzen. Die Zeit ist aus den Fugen.

Neuerdings kann sie sogar noch mehr. Sie kann verschwinden. Auf Nimmerwiedersehen.

Tag und Nacht, das war die natürliche Abfolge. Seit Erfindung der Glühbirne ist das anders

Begonnen hat dieses Verschwinden im Grunde schon vor geraumer Zeit, genauer gesagt 1879, als Thomas Alva Edison die Glühbirne für die Massenproduktion auf den Markt brachte. Er setzte mit seiner Erfindung den christlichen Kreationsmythos außer Kraft, nach dem der Schöpfergott das Licht von der Finsternis schied und der Lauf der Zeiten fortan aus Tag und Nacht bestand, aus der immergleichen Abfolge, der Mensch und Tier und Pflanze unterworfen waren. Zeit der Geschäftigkeit hier, Zeit der Stille da, das bedeutete eine Regelmäßigkeit im Wechsel, eine Naturordnung, die in ihrer steten Wiederkehr etwas Beruhigendes hatte. Die Nacht als Entlastung des Tages. „O Trost der Welt, du stille Nacht / der Tag hat mich so müd gemacht“, dichtete Joseph von Eichendorff.

Seit Edison ist es damit zu Ende. Er war der Lichtbringer, was auf Lateinisch nicht von ungefähr Lucifer heißt. Er hat die Nacht zum Tag gemacht.

Aber das war nur der Anfang einer viel tiefer greifenden Veränderung. Die Globalisierung und die digitale Revolution haben der hergebrachten Ordnung der Zeit endgültig den Garaus gemacht. Wenn es in Europa dunkel wird, geht weit im Osten schon wieder die Sonne auf. Und weil die Märkte, die der Waren und der Finanzen, zusammengewachsen sind, kann der eine Teil der Welt inzwischen nicht einfach schlafen, während der andere Teil schon am Handeln ist.

Rund um die Uhr: Selbst Kitas haben 24 Stunden geöffnet

Eine Botschaft, ein Vertrag, ein Brief, von A nach B geschickt, bedurften einst der Zeit, brauchten Tage, manchmal Wochen. Die Datenströme, die die Welt umkreisen, benötigen keine Zeit mehr, sie sind, kaum abgeschickt, schon angekommen, sind aus der Zeit gefallen, Zeit ist keine naturgesetzliche Kategorie mehr. Eine Tag-und-Nachtgleiche ist entstanden. Die Zeit hat keinen Anfang mehr und kein Ende. Zeit ist immer. Und damit ist sie im Grunde aufgehoben.

Die Welt schläft nicht mehr. Was man auch vor der eigenen Haustür beobachten kann. Dass die Geschäfte um 18.30 Uhr schließen, ist bloß noch eine Reminiszenz aus grauer, konsumfeindlicher Vergangenheit – obwohl, so lange sind diese Zeiten noch gar nicht her. Die Tankstelle hat 24 Stunden geöffnet, der Fitness-Club und die Mietwagen-Station auch, manche Supermärkte sind bis Mitternacht auf, andere ebenfalls rund um die Uhr so dienstbereit wie Bäckereien, Cafés, Restaurants; Uni-Bibliotheken in Karlsruhe, Leipzig, Freiburg oder Konstanz öffnen Tag und Nacht, sogar schon einige Schwimmbäder. Selbst 24-Stunden-Kitas sind in einigen deutschen Städten schon gesichtet worden, auch in Berlin. Der Callcenter-Mitarbeiter auf den Philippinen steht mitten in der Nacht für unsere täglichen Anfragen zur Verfügung. Konsum und Dienstleistungen machen keine Pause. Geld schläft nicht.

Am heftigsten hat das Allzeit-Bereit-Credo die Kommunikationsbranche getroffen. Nur dunkel ist heute in Erinnerung, dass das Fernsehen einmal einen Sendeschluss kannte, zu dem die Nationalhymne gespielt wurde, und für den Rest der Nacht ein Testbild erschien. Und dass es für die Verbreitung von Nachrichten einen Redaktionsschluss gab. Zeitung, was das Urwort für Nachricht ist, hat etwas mit Zeit zu tun. Mit einer Zeit, die vergehen kann. Die neuen Nachrichten-Technologien hingegen verlachen die Zeit, sind ihr weit voraus. Twitter und Facebook und E-Mail und Online-Dienste stehen außerhalb von ihr. Damit diese Zeitlosigkeit auch immer und überall funktioniert, haben europäische Online-Redaktionen Büros in Australien aufgebaut. Auf dass der Strom der Informationen nicht versiege, wenn der Redaktions-Europäer sich doch einmal schlafen legt. Denn der antiquierte Mensch hält nicht Schritt mit den technischen Möglichkeiten, die er geschaffen hat. Er ist kein 24-Stunden-Mensch, er hat nicht immer geöffnet.

Und sie beherrscht den Menschen doch: wenn seine Zeit abgelaufen ist

So sehr die Zeit aus dem Leben und dem Alltag verschwunden ist – den Menschen selbst hat sie nicht ganz verlassen, nicht verlassen können. Am Ende aller Tage – und hierin irrte Goethe eben doch nicht – ist sie seine Beherrscherin. Nämlich dann, wenn die Zeit des Menschen abgelaufen ist.

Dieser Artikel erschien in einer etwas längeren Version erstmals am 29. März 2015.

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