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Der 68-jährige frühere Rockstar Gary Glitter kehrt am Sonntagabend in London nach zehnstündigem Verhör durch die Polizei nach Hause zurück. Er war in der Vergangenheit wegen einschlägiger Delikte verurteilt worden.

© AFP

Sex-Skandal bei der BBC: Popkultur unter Verdacht

Ist die Kultur des Tabubruchs mitverantwortlich für den Missbrauch? Nach der Festnahme Gary Glitters werden weitere Enthüllungen über Prominente erwartet. Und es stellt sich die unangenehme Frage, ob Popkultur und der massenhafte Missbrauch Minderjähriger zusammenhängen.

Als der alternde Rockstar Gary Glitter am Sonntag festgenommen und zehn Stunden lang von Polizisten der Sondereinheit „Yewtree“ verhört wurde, twitterte der TV-Produzent Mark Williams-Thomas: „Er ist nur der Erste. Viele werden folgen. Unbekannte und Personen von hoher Bekanntheit.“ Williams-Thomas muss es wissen. Er deckte im Fernsehsender ITV den Skandal um den pädophilen BBC-Star Jimmy Savile auf, der die Briten seit Wochen in Atem hält.

Kaum ein Tag, an dem nicht neue Geschichten um Savile zutage kommen. Zeitungsleser und Fernsehzuschauer könnten glauben, das halbe Land sei ein Ring von Kinderschändern und lüsternen Popstars, die sich über unschuldige minderjährige Mädchen hermachen. Mit der Bloßstellung Saviles wurde ein Damm gebrochen. Über 300 Menschen meldeten sich inzwischen bei der Polizei als Missbrauchsopfer. Sogar bei einem Besuch von Prinz Charles im St. James Palast soll Savile sein Unwesen getrieben haben. „Er küsste junge weibliche Angestellte mit den Lippen die ganzen Oberarme hoch“, heißt es in einem Bericht der „Daily Mail“.

Manche dieser Vorfälle liegen 50 Jahre zurück. Nun gilt der vor genau einem Jahr mit 84 Jahren gestorbene Savile als „schlimmster Pädophiler der Nachkriegsgeschichte“. „Er war 50 Jahre lang aktiv. Das ist eine lange Zeit“, sagte der Londoner Polizeichef Bernard Hogan-Howe. Menschen hätten wegen der Reputation Saviles und der BBC, bei der er arbeitete, nicht gewagt, Anzeige zu erstatten, glaubt der Polizist, aber er gibt auch zu: In sieben Fällen, in denen gegen Savile Anzeige erstattet wurde, waren die Ermittlungen nicht rigoros genug. „Wir zogen nicht die richtige Verknüpfung zwischen den bei vier verschiedenen regionalen Polizeiorganisationen erstatteten Anzeigen.“

Nun soll dies anders werden. Drei Stoßrichtungen hat die „Operation Eibenbaum“: Die Beschwerden gegen Savile werden postum untersucht, es wird gegen Missbrauchsfälle von Savile und in einem weiteren Strang von Missbrauchsvorwürfen gegen „andere“ ermittelt. Die meisten dieser „anderen“, deutete Hogan-Howe an, „arbeiten in der Entertainmentindustrie“. Hat die britische Popindustrie, mit ihrem Kult ewiger Jugend, der Verherrlichung von Tabubrüchen, dem Promikult, der sie trägt, jahrelang dem sexuellen Missbrauch Vorschub geleistet? Das ist die äußerst unangenehme Frage, die derzeit im Raum steht. Und ist die Dimension ähnlich wie bei der katholischen Kirche? Nach der Katholischen Kirche und der Reformpädagogik könnte jetzt die Popkultur am Pranger stehen.

Dass Gary Glitter im Verdacht steht, mit dabei gewesen zu sein, überrascht niemanden. Die Polizei machte zu seiner Verhaftung am Sonntag keine näheren Angaben. Glitter war vor langer Zeit mit Jimmy Saville in der BBC-Sendung „Top of the Pops“ aufgetreten und wurde vor Jahren schon wegen Besitzes von Kinderpornografie verurteilt. Dann wurde er wegen Unzucht mit Minderjährigen zuerst aus Kambodscha ausgewiesen und dann in Vietnam zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und anschließend nach Großbritannien abgeschoben, wo er im Sexualstraftäterregister steht und strenge polizeiliche Auflagen erfüllen muss.

Wie viel über Savile dennoch bekannt war, kam nun über die britische Kinderhilfsorganisation „Children in Need“ heraus. Bei ihr hatte Savile sogar Hausverbot, wie der frühere Vorsitzende Sir Roger Jones nun einer verblüfften Öffentlichkeit mitteilte. Nachdem Jimmy Savile, der unermüdlich die Trommel für Wohltätigkeitsverbände aller Art rührte und im Laufe seines Lebens Millionen Pfund für gute Zwecke zusammentragen half, in den achtziger Jahren mehrmals bei den alljährlichen Spendenaktionen der hoch angesehenen Organisation auftrat, verschwand er dort sang- und klanglos von der Bildfläche. „Schon wenn der Name Savile erwähnt wurde, stand jähes Entsetzen auf den Gesichtern unserer Mitarbeiter“, sagte Jones. Mitarbeiter der Organisation, immer auf der Hut vor potenziellen Pädophilen, hätten Savile „gruselig“ gefunden. „Ein Typ, der ständig eine riesige Zigarre in der Hand hatte, behängt mit Goldketten und Klunkern – ist das ein Typ, den man als Vorbild für Kinder präsentieren will?“

Das Pikante an der Sache: Jones war damals auch im Aufsichtsrat der BBC und bekam über BBC-Kontakte Wind von Saviles Reputation. Mehrere der sexuellen Übergriffe Saviles sollen in seiner BBC-Garderobe stattgefunden haben.

Parallel zu den Polizeiermittlungen begann diese Woche auch eine unabhängige Untersuchung, ob „Kultur und Praxis der BBC“ den Delikten Saviles und anderer Vorschub leistete. Am Pranger steht auch der erst vor kurzem ausgeschiedene BBCGeneraldirektor Mark Thompson. Sein Büro wurde im vergangenen Jahr zweimal darüber informiert, dass BBC-Star Jimmy Savile Kinder missbrauchte.

Die BBC steht mit dem Rücken zur Wand.

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