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Menschen warten in einer langen Schlange vor einem Waffenladen.

© Ringo H.W. Chiu / AP /dpa

Schusswaffen-Epidemie in den USA: Die Angst vor einem blutigen Sommer

2020 wurden in den USA mehr Pistolen und Gewehre erworben als je zuvor. Das Klischee vom alten, weißen Waffennarr stimmt dabei nicht mehr.

„Enough“, es reicht. So stand es in einer Mitteilung des Weißen Hauses aus der vergangenen Woche. Da hatte gerade ein Angreifer in einem Straßenbahn-Depot der kalifornischen Großstadt San Jose das Feuer auf mehrere Menschen eröffnet, neun von ihnen starben. Einmal mehr werde er den Kongress dazu drängen, endlich zu handeln und dabei zu helfen, diese „Epidemie der Schusswaffengewalt in Amerika“ zu beenden, erklärte US-Präsident Joe Biden.

Eindringliche Worte, wie so oft nach Massenschießereien, die das Land erschüttern – aber auch Worte, aus denen der Frust herausklingt. Weil selbst solche Taten, die es in die überregionalen Schlagzeilen schaffen und derentwegen Flaggen an Regierungsgebäuden auf halbmast gesenkt werden, so wenig Konsequenzen haben.

Dabei sind die Statistiken dramatisch: Jeden Tag werden in den USA im Schnitt mehr als 300 Menschen angeschossen, im Jahr 2019 starben dabei der Gesundheitsbehörde CDC zufolge 110 von ihnen. Im vergangenen Jahr kamen bisher die meisten Amerikaner durch Schusswaffen zu Tode. Und derzeit sieht alles danach aus, als ob sich die Situation weiter verschlimmert.

Die USA sind das Land mit den meisten Schusswaffenbesitzern

Denn im Corona-Jahr 2020 stieg der Verkauf von Schusswaffen landesweit auf ein Rekordhoch. Ursächlich dafür sind Experten zufolge Ängste im Zusammenhang mit der Pandemie und den Protesten gegen Polizeigewalt in amerikanischen Großstädten.

Fünf Millionen mehr Schusswaffen wurden verkauft, als es ohne diese Krisen der Fall gewesen wäre. Das haben die Professoren Phillip Levine und Robin McKnight vom Wellesley College in Massachusetts berechnet. Dabei galten die USA auch bisher schon als Land mit den meisten Schusswaffenbesitzern.

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Das vergangene Jahr, im Übrigen ein Wahljahr, hat aber noch etwas verändert: Nicht nur Menschen, die bereits Waffen besitzen, kaufen sich weitere. Auch viele, die bisher niemals eine besaßen, legen sich nun welche zu.

Mehr als ein Fünftel der Käufer erwarb zum allerersten Mal in ihrem Leben eine Schusswaffe, wie die „New York Times“ unter Berufung auf eine vorläufige Studie der Northeastern University und des Harvard Injury Control Research Center berichtete.

Mehr Frauen, mehr Schwarze, mehr Latinos

Aus diesen Daten geht auch hervor, dass sich das Klischee vom männlichen weißen Käufer abschwächt: Die Hälfte dieser neuen Käufer waren Frauen, ein Fünftel war schwarz, ein weiteres Fünftel waren Latinos.

Amerika rüstet auf – trotz aller mahnenden Worte, trotz aller Erschütterung nach Massenschießereien. Einer Studie der University of Chicago zufolge besitzen inzwischen 39 Prozent der amerikanischen Haushalte Schusswaffen. 2016 waren es noch 32 Prozent gewesen.

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Mehr Waffen führen zu mehr Gewalt – und auch zu mehr Morden. Das zeigt sich an Städten wie Baltimore. In der 600.000-Einwohner-Stadt an der Chesapeake Bay wurden im vergangenen Jahr 335 Menschen ermordet: fast jeden Tag ein Mensch. In der eine Autostunde entfernten amerikanischen Hauptstadt mit ihren 500.000 Einwohnern waren es 198.

Große Auswahl: Ein Waffengeschäft in Illinois.
Große Auswahl: Ein Waffengeschäft in Illinois.

© imago images/ZUMA Wire

In beiden Städten waren auch die ersten fünf Monaten dieses Jahres extrem gewalttätig: So starben in Washington zwischen dem 27. März und dem 3. April –also in nur acht Tagen – neun Menschen durch Schusswaffengewalt, verletzt wurden 17.

In Baltimore sind bereits mehr als 80 Menschen ermordet worden. Innerhalb einer Woche im April wurden zehn Menschen getötet, die Hälfte von ihnen in nur 24 Stunden. Ähnlich sieht es in Städten wie New York, Chicago oder Detroit aus.

US-Demokraten sprechen von einem öffentlichen Gesundheitsnotstand

Vor allem Politiker der Demokratischen Partei sprechen inzwischen von einem öffentlichen Gesundheitsnotstand. Amerika leidet unter dieser Epidemie, aber obwohl Heilmittel bekannt sind und verfügbar wären, passiert wenig.

Zwar hat das demokratisch geführte Repräsentantenhaus in Washington schärfere Waffengesetze auf den Weg gebracht, mit denen etwa Sturmgewehre verboten und bessere Kontrollen der Waffenkäufer ermöglicht werden sollen. Aber im Senat fehlt dafür bislang die nötige Mehrheit.

Das Recht, eine Waffe zu tragen, festgeschrieben im zweiten Verfassungszusatz, ist für viele Amerikaner so elementar, dass sie jegliche Einschränkung als Freiheitsberaubung empfinden. Die Republikaner wissen das – und sie machen damit Politik.

In rechten Sendern wie Fox News wurden angesichts der „Black Lives Matter“-Proteste zudem Ängste vor gewalttätigen Anarchisten geschürt, die brandschatzten und plünderten und gegen die man sich besser verteidigen könne.

Dass es bewaffnete Anhänger des abgewählten Präsidenten Donald Trump waren, die am 6. Januar das Kapitol stürmten, fällt da gerne unter den Tisch. Die tiefe Spaltung der Gesellschaft, das große Misstrauen zwischen unterschiedlichen Gruppen, Trumps Gerede von der „gestohlenen Präsidentschaftswahl“ – das alles verringert die Chancen, wirksam gegen die Schusswaffen-Epidemie vorzugehen.

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